Der Präsident des Senats Hamburg, den 24. Januar 2006
der Freien und Hansestadt Hamburg
An den
Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Peter Harry Carstensen
Sehr geehrter Herr Präsident,
der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg hat beschlossen, dem Bundesrat die anliegende
- Entschließung des Bundesrates für eine höhere Verbindlichkeit der Früherkennungsuntersuchungen im Sinne des Kindeswohls
zuzuleiten.
Ich bitte Sie, die Vorlage auf die Tagesordnung der 819. Sitzung des Bundesrates am 10. Februar 2006 zu setzen. Es ist vorgesehen, dass die Entschließung vorgestellt und der Bundesrat gebeten wird, die Vorlage den Ausschüssen zur Beratung zuzuleiten.
Mit freundlichen Grüßen
In Vertretung Birgit Schnieber-Jastram
Anlage
Entschließung des Bundesrates für eine höhere Verbindlichkeit der Früherkennungsuntersuchungen im Sinne des Kindeswohls
Der Bundesrat möge beschließen:
Vorbemerkung:
Kinder benötigen eine positive und ihnen zugewandte Lebenswelt, in der sie gesund aufwachsen können und vor Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellen Missbrauch geschützt sind. Ein gesundes und geschütztes Aufwachsen von Kindern liegt primär in der Erziehungsverantwortung der Eltern. In Einzelfällen können allerdings in Familien Lebenssituationen auftreten die ein gesundes Aufwachsen von Kindern gefährden und gröbste Vernachlässigung zur Folge haben. Die in den letzten Monaten öffentlich gewordenen Fälle von vernachlässigten Kindern haben deutlich gemacht, dass alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten genutzt werden müssen mit dem Ziel, derartige Fälle für die Zukunft zu vermeiden und das Kindeswohl zu stärken und zu schützen.
Eine Möglichkeit, sowohl ein gesundes Aufwachsen von Kindern zu erreichen als auch gröbste Vernachlässigungen zu vermeiden, besteht darin, die Teilnahmequote an Früherkennungsuntersuchungen im Bereich des Gesundheitswesens zu steigern und die Nichtteilnahme auch für Kontrollzwecke zu nutzen. Früherkennungsuntersuchungen sind ein Angebot an Familien mit Kindern, um eine Gefährdung der körperlichen, psychischen oder geistigen Entwicklung von Kindern frühzeitig zu erkennen und durch präventive Maßnahmen zu begegnen. Aufgrund der Häufigkeit und Regelmäßigkeit von Früherkennungsuntersuchungen könnten damit aber unter Umständen auch Anzeichen für Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellen Missbrauch erkannt werden. Um diese Chance für alle Kinder zu gewährleisten, ist anzustreben, dass für jedes Kind diese Möglichkeit uneingeschränkt wahrgenommen wird. Dieses Angebot der Gesundheitsvorsorge wird von sehr vielen Eltern und Sorgeberechtigten bereits freiwillig wahrgenommen. Leider muss man davon ausgehen, dass gerade von Familien, in denen ein erhöhtes Risiko von Kindesvernachlässigung oder Kindesmisshandlung besteht diese Termine nicht wahrgenommen werden. Der Verzicht auf die kostenlos angebotene Gesundheitsvorsorge führt dazu, dass im Einzelfall möglicherweise dringend gebotene Behandlungen oder Präventionsmaßnahmen unterbleiben. Daher kann die Nichtteilnahme ein Indiz dafür sein, dass die Eltern der ihnen zuvörderst obliegenden Pflicht zur Pflege ihrer Kinder nicht ausreichend nachkommen. Deshalb sind die Früherkennungsuntersuchungen des Gesundheitswesens so verbindlich zu gestalten, wie dies unter voller Ausschöpfung des verfassungsrechtlichen Rahmens möglich ist. Durch ein Einladungswesen soll eine Steigerung der Inanspruchnahme der Früherkennungsuntersuchungen erreicht und damit ein gesundes und vor Vernachlässigung geschütztes Aufwachsen im Sinne des Kindeswohls sichergestellt werden. Soweit dies nicht erreicht wird, soll durch eine Meldung an die mit der Wahrnehmung des staatlichen Wächteramtes betrauten Behörden die Möglichkeit zur Kontrolle und helfenden Intervention verbessert werden. Sowohl für das Einladungswesen als auch für die Meldungen sind die notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen einschließlich der zur Nutzung von personenbezogenen Sozialdaten erforderlichen datenschutzrechtlichen Regelungen zu schaffen.
I. Der Bundesrat stellt fest:
Die Früherkennungsuntersuchungen für Kinder sind unbestritten erfolgreiche Leistungsangebote der gesetzlichen Krankenversicherung (U1- bis U9-Untersuchungen nach § 26 SGB V), um einer körperlichen, psychischen oder geistigen Fehlentwicklung von Kindern durch präventives Handeln vorzubeugen und gegebenenfalls zu therapieren. Insbesondere für die Untersuchungen im ersten Lebensjahr liegt eine hohe Akzeptanz vor. Allerdings ist zu beobachten, dass seit einigen Jahren die Inanspruchnahme insgesamt zurückgeht und zur U8 bzw. der Untersuchung am Ende des vierten Lebensjahres eine deutliche Abnahme der Teilnahmerate erfolgt.
Die Ursachen für die Nicht-Inanspruchnahme der Früherkennungsuntersuchungen bzw. den Rückgang der Inanspruchnahme bei der U8 und U9 sind vielfältig. Sie reichen vom schlichten Versäumen der Untersuchungstermine über mangelnde Informationen über die Untersuchungsangebote, unzureichendes Wissen über den Nutzen insbesondere bei nichtdeutschen Eltern, Unsicherheiten im Umgang mit Personen und Institutionen bis zur fehlenden Fähigkeit oder Bereitschaft, die Sorge für das Wohl der Kinder angemessen wahrzunehmen. Auswertungen von Sozialmedizinern belegen, dass Kinder aus ressourcenschwächeren Familien sowie nichtdeutsche Kinder die Früherkennungsuntersuchungen seltener und auch unregelmäßiger wahrnehmen.
Erstes Ziel muss es daher sein, über Früherkennungsuntersuchungen besser zu informieren und durch Anreize die Teilnahmebereitschaft zu steigern. Die gesetzlichen Krankenkassen und Krankenkassenverbände führen insoweit bereits motivationssteigernde Maßnahmen durch. Dazu gehören Hinweise auf die Früherkennungsuntersuchungen im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit, internetbasierte Früherkennungskalender, E-Mail-Aktionen und mehrsprachige Info-Materialien. Vereinzelt werden auch Erinnerungsschreiben eingesetzt.
Um eine höhere Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen zu erreichen, ist die Effektivität und Akzeptanz dieser Ansätze nicht nur zu erhöhen, sondern auch durch ein verbindliches Einladungswesen zu ergänzen. Soweit zur Zielerreichung erforderlich, sind die datenschutzrechtlichen Rahmenbedingungen für ein Einladungswesen zu erlassen.
Des Weiteren sind die rechtlichen Voraussetzungen für einen Datenaustausch zwischen zuständigen Stellen, z.B. Krankenkassen und Jugendämtern, zu schaffen, um bei Nichtwahrnehmung der Termine im Sinne des Kindeswohls helfend intervenieren zu können.
Art und Inhalt der Früherkennungsuntersuchungen für Kinder (U1- bis U9-Untersuchungen) werden vom Gemeinsamen Bundesausschuss in Richtlinien beschlossen (§§ 91 und 92 SGB V). Seit einigen Jahren wird in der Fachöffentlichkeit die Notwendigkeit einer grundlegenden Überarbeitung der Kinderrichtlinien diskutiert. Änderungsbedarfe bestehen aus fachlicher Sicht insbesondere bezüglich der Angemessenheit der Diagnostik im Rahmen der Untersuchungen, der Standardisierung der Untersuchungsverfahren, der Dokumentation und Evaluation der Früherkennungsuntersuchungen und hinsichtlich des sozialen Gradienten bei der Inanspruchnahme. Vor diesem Hintergrund hat der Gemeinsame Bundesausschuss im Februar 2005 das Verfahren für eine Überarbeitung der Kinderrichtlinien eingeleitet.
Die Früherkennungsuntersuchungen für Kinder stellen somit auf der einen Seite die Möglichkeit dar dass vor dem Hintergrund ihrer Häufigkeit und ihrer Regelmäßigkeit in dieser Lebensphase feststellbare Verdachtsfälle auf Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellen Missbrauch durch die Ärztin/den Arzt erkannt werden und eine frühzeitige Intervention eingeleitet wird. Auf der anderen Seite muss festgestellt werden, dass im aktuellen Untersuchungskanon keine spezifischen Untersuchungsschritte dazu vorgesehen sind. Jetzt ist in das Verfahren für die Überarbeitung der Kinderrichtlinien auch die Aufnahme diesbezüglicher Untersuchungsinhalte eingebracht worden. Es ist derzeit allerdings noch offen, ob der Gemeinsame Bundesausschuss eine Aufnahme von Kindesvernachlässigung und -misshandlung in den Untersuchungskanon der Kinderrichtlinien beschließen wird.
II. Der Bundesrat fordert:
Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, die zur umfassenden Nutzung der Früherkennungsuntersuchungen der gesetzlichen Krankenversicherung erforderlichen Regelungen zu schaffen, insbesondere das Angebot für Eltern und Kinder so verbindlich auszugestalten, wie dies unter voller Ausschöpfung des verfassungsrechtlichen Rahmens möglich ist, durch ein verbindliches Einladungswesen zu ergänzen und den Datenaustausch zwischen den verantwortlichen Stellen, z.B. zwischen Krankenkassen und Jugendämtern für den Fall des Fernbleibens zu ermöglichen.
Weiterhin wird die Bundesregierung aufgefordert, sich gegenüber dem Gemeinsamen Bundesausschuss dafür einzusetzen, dass bei einer Überarbeitung der Kinderrichtlinien spezifische Untersuchungsschritte bezüglich Kindesvernachlässigung und -missbrauch vorgesehen werden.