Der Deutsche Bundestag hat in seiner 136. Sitzung am 27. Oktober 2011 zu dem von ihm verabschiedeten Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz - BKiSchG) - Drucksachen 17/6256, 17/7522 - die beigefügte Entschließung unter Buchstabe a der Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7522 angenommen.
Wirksamer Kinderschutz durch bessere Prävention:
Netzwerke Früher Hilfen ausbauen - Familienhebammen nachhaltig stärken
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Prävention ist das beste Mittel, um Kinder effektiv vor Gefährdungen zu schützen. Ein aktiver und wirksamer Kinderschutz setzt daher früh an und bedeutet insbesondere, Elternkompetenzen von Anfang an zu stärken, um Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern bestmöglich zu fördern, Risiken für ihr Wohl möglichst früh wahrzunehmen und Gefährdungen systematisch abzuwenden. Ein zentraler Bestandteil eines solch" weiten und umfassenden Verständnisses von Kinderschutz sind Frühe Hilfen. Frühe Hilfen sind frühzeitige, koordinierte und multiprofessionelle Angebote im Hinblick auf die Entwicklung von Kindern vor allem in den ersten Lebensjahren, für Mütter und Väter sowie werdende Eltern. Sie wenden sich insbesondere an Familien in belastenden Lebenslagen (zum Beispiel aufgrund persönlicher Gewalterfahrung der Eltern, Verschuldung, psychischer Erkrankung eines Elternteils oder chronischer Erkrankung des Kindes) und mit geschwächten familiären Bewältigungsressourcen. In der Arbeit mit diesen Familien tragen Frühe Hilfen dazu bei, dass Risiken für das Wohl und die Entwicklung des Kindes frühzeitig erkannt und reduziert werden. Wenn die Hilfen nicht ausreichen, um eine Gefährdung des Kindeswohls abzuwenden, wird im Rahmen Früher Hilfen dafür Sorge getragen, dass weitere Maßnahmen zum Schutz des Kindes ergriffen werden.
Eine wesentliche Voraussetzung für den frühzeitigen Zugang zu Familien in Problemlagen und die Wirksamkeit Früher Hilfen ist die Vernetzung verschiedener Institutionen, die (Mit-) Verantwortung für den Kinderschutz tragen, vor allem eine koordinierte und verlässliche Verschränkung der Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe und des Gesundheitswesens. Vor diesem Hintergrund kommt Familienhebammen im Bereich Früher Hilfen und damit im präventiven Kinderschutz eine Schlüsselrolle zu, weil sie in sich Hilfeanteile der im präventiven Kinderschutz zentralen Systeme "Gesundheitswesen" und "Kinder- und Jugendhilfe" vereinen.
Als staatlich examinierte Hebammen haben Familienhebammen - wie alle Hebammen - bereits während der Schwangerschaft und direkt nach der Geburt einen unmittelbaren, selbstverständlichen und vertrauensvollen Zugang zu jungen Familien und erbringen medizinische Leistungen der Hebammenhilfe. Ausgehend von ihrem gesundheitsorientierten Grundberuf sind sie mit ihrer Zusatzqualifikation aber darüber hinaus im Hinblick auf einen psychosozialen Unterstützungsbedarf von Familien, der kindlichen Entwicklung und der Eltern-Kind-Interaktion fortgebildet und können daher gerade Familien in belastenden Lebenslagen in den ersten Lebensmonaten des Kindes auch psychosozial im Interesse des Kindeswohls begleiten. Familienhebammen unterstützen also Mütter und Väter mit Säuglingen nicht nur medizinisch (zum Beispiel zu Pflege und Ernährung des Kindes), sondern können auch auf besondere Bedürfnisse von Familien in belastenden Lebenslagen eingehen (zum Beispiel psychische Erkrankungen, Paarkonflikte, Störungen in der Eltern-Kind-Beziehung) bzw. diese erkennen und angemessene Hilfe vermitteln.
Familienhebammen haben aber nicht nur aufgrund der Verbindung medizinischer und psychosozialer Kompetenzen ein spezifisches Profil für die Frühen Hilfen. Auch in zeitlicher Hinsicht können sie dem besonderen Unterstützungsbedarf von Familien in belastenden Lebenslagen angemessen Rechnung tragen. Denn sie begleiten Familien bis zum ersten Lebensjahr des Kindes und können ihnen damit für einen bis zu fünf Mal so langen Zeitraum zur Seite stehen wie es der achtwöchige Behandlungszeitraum für die Hebammenhilfe als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) vorsieht.
Vor diesem Hintergrund sind Familienhebammen im Rahmen von regionalen Netzwerken Früher Hilfen eine zentrale Unterstützung und haben eine wichtige Lotsenfunktion. Es gilt daher, bestehende Aktivitäten zu Familienhebammen von Ländern und Kommunen zu unterstützen und dort solche anzuregen, wo es noch keine gibt, um dadurch auch den Aufbau bzw. die Weiterentwicklung multiprofessioneller Netzwerke Früher Hilfen bundesweit zu stärken.
II. Der Deutsche Bundestag begrüßt den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen - Bundeskinderschutzgesetz (Bundestagsdrucksache 17/6256).
Der Gesetzentwurf steht für einen umfassenden, aktiven Kinderschutz, vor allem auch durch deutliche Verbesserungen bei der Prävention mit
- 1. der gesetzlichen Verankerung Früher Hilfen und verlässlicher Netzwerke im Kinderschutz;
- 2. der Stärkung aller Akteure im Kinderschutz, insbesondere auch des Gesundheitswesens, durch Einbindung von Gesundheitsämtern, Krankenhäusern, Sozialpädiatrischen Zentren, Frühförderstellen und Angehörigen der Heilberufe in die Netzwerke im Kinderschutz;
- 3. der Regelung verbindlicher Rahmenbedingungen für die Verknüpfung von Kinderschutz und Gesundheitswesen und 4. der Bundesinitiative "Familienhebammen", für die das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für die Jahre 2012 bis 2015 jährlich 30 Millionen Euro zur Verfügung stellen und damit den Aus- und Aufbau der Arbeit von Familienhebammen auch im Hinblick auf ihre Funktion in Netzwerken Früher Hilfen so stärken wird, dass der Kinderschutz langfristig davon profitiert.
III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel auf:
- 1. mit der Bundesinitiative "Familienhebammen" verschiedene Modelle der Einbindung von Familienhebammen in die Netzwerkstrukturen Früher Hilfen zu erproben und hierbei auch vergleichbar qualifizierte Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen sowie Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger ("Kinderschwestern/-pfleger") einzubeziehen;
- 2. das Modellprojekt mit der Zielsetzung zu konzipieren, Erkenntnisse hinsichtlich der Funktion von Familienhebammen in Netzwerken Früher Hilfen vor allem mit Blick auf die Notwendigkeit und Ausgestaltung gesetzgeberischer Regelungen oder die Überprüfung von bestehenden Gesetzen unter besonderer Berücksichtigung der Verschränkung von Kinder- und Jugendhilfe und Gesundheitswesen zu gewinnen;
- 3. eine Kooperationsvereinbarung mit den Ländern für die Laufzeit der Bundesinitiative abzuschließen, die einen Zwischenbericht über die erreichten Wirkungen der Bundesinitiative "Familienhebammen" nach zwei Jahren mit konkreten Empfehlungen zur Umsetzung der Erfahrungen aus dem Programm und im dritten Jahr Gespräche zwischen Bund, Ländern und Kommunen über die Nachhaltigkeit und notwendige Änderungen der Bundesinitiative vorsieht.