3. Der Bundesrat nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission mit ihrer Mitteilung insbesondere spezifische Leitlinien für diejenigen strafrechtspolitischen Entscheidungen der EU aufstellen will, die sich auf Artikel 83 Absatz 2 AEUV stützen. Er teilt die Ansicht der Kommission, dass strafrechtliche Maßnahmen mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besonders strengen Anforderungen unterliegen und nur als ultima ratio staatlichen Handelns einsetzbar sind. Er begrüßt, dass die Kommission die Entscheidung über strafrechtliche Maßnahmen der EU daher stets auf Basis umfassender Bewertung der Sanktionsregelungen der Mitgliedstaaten und unter Abschätzung der mit einer Regelung durch die EU verbundenen Folgen vornehmen wird. Der Bundesrat weist zudem auf folgende weitere Gesichtspunkte hin:
- Das in der Mitteilung enthaltene Stufenkonzept für Rechtsvorschriften im Bereich des Strafrechts bedarf der Ergänzung, soweit es die Bedingungen eines auf Artikel 83 Absatz 2 AEUV gestützten Vorgehens der EU zum Gegenstand hat. Als Ausnahmetatbestand ist die Norm bewusst sehr eng gefasst. Im Vertrag von Lissabon wurde damit dem Umstand Rechnung getragen, dass der Erlass von Strafnormen die demokratische Selbstbestimmung der Mitgliedstaaten besonders empfindlich berührt. Artikel 83 Absatz 2 AEUV setzt daher für Maßnahmen der EU voraus, dass eine Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten "unerlässlich" ist. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 zum Vertrag von Lissabon muss hierzu nachweisbar feststehen, dass "ein gravierendes Vollzugsdefizit tatsächlich besteht und nur durch Strafandrohung beseitigt werden kann". Es muss nachgewiesen werden, dass die Wirksamkeit des EU-Rechts nur dadurch erreicht werden kann, dass die strafrechtlichen Regelungen der Mitgliedstaaten insgesamt in einem Mindestmaß angeglichen und hierzu die konkret vorgeschlagenen Strafvorschriften in allen Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Vollzugsdefizite müssen folglich gerade in den Mitgliedstaaten feststellbar sein, die insoweit über keine bzw. keine hinreichenden strafrechtlichen Schutzvorschriften verfügen.
Für ein Vorgehen nach Artikel 83 Absatz 2 AEUV genügt also nicht bereits die Feststellung, dass verwaltungs- oder zivilrechtliche Sanktionsregelungen zur wirksamen Durchführung der Politik der Union nicht ausreichen und keine alternativen Sanktionsmittel der EU zur Verfügung stehen. Vielmehr muss zusätzlich feststehen, dass die vorhandenen strafrechtlichen Regelungen der Mitgliedstaaten hierzu aufgrund ihrer Diversität ebenfalls nicht genügen, solange sie nicht in einem Mindestmaß angeglichen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 30. Juni 2009 die Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland zum Vertrag von Lissabon mit Blick auf Artikel 83 Absatz 2 AEUV nur deshalb als mit dem Grundgesetz vereinbar angesehen, weil diese Norm bereits vom Wortlaut eng gefasst ist, und weil die vertraglichen Kompetenzgrundlagen der EU für strafrechtliche Maßnahmen strikt - keinesfalls extensiv - auszulegen sind. Allein der Umstand, dass ein strafrechtliches Vorgehen der EU in einem Bereich einen positiven Beitrag leisten, sich als nützlich erweisen oder mit einem Mehrwert verbunden sein könnte, ermächtigt die EU nicht zu Maßnahmen nach Artikel 83 Absatz 2 AEUV.
Soweit die Kommission in der Mitteilung die Auffassung vertritt, dass die EU im Rahmen einer Maßnahme nach Artikel 83 Absatz 2 AEUV als Teil der Definition einer Straftat auch Regeln zur gerichtlichen Zuständigkeit treffen kann, vermag der Bundesrat ihr hierin nicht zu folgen: Diese Norm ermöglicht Mindestvorschriften für die Festlegung von Straftaten und Strafen, also für Tatbestandsvoraussetzungen eines Delikts und für die gegen den Täter zu verhängende Sanktion. Demgegenüber gehört die Regelung gerichtlicher Zuständigkeiten zu den Gegenständen des Strafverfahrens- bzw. Gerichtsverfassungsrechts, auf welche sich Artikel 83 Absatz 2 AEUV nicht bezieht.
- Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission eine einvernehmliche Klärung der Leitlinien anstrebt, an denen sich die künftige strafgesetzgeberische Tätigkeit der EU orientieren soll. Er nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission in diesem Zusammenhang auch eine Diskussion um die Auslegung grundlegender Rechtsbegriffe anstrebt, und dass die Kommission in diese Diskussion u.a. die Begriffe der "Anstiftung" und der "Beihilfe" einbeziehen will. Für diesen Prozess der begrifflichen Klärung weist der Bundesrat darauf hin, dass allgemeine strafrechtliche Rechtsinstitute einer auf Artikel 83 AEUV gestützten Gesetzgebung durch die EU nur insoweit zugänglich sind, als dies mit der Schaffung von Mindestvorschriften für die Festlegung von Straftaten und Strafen verbunden ist.