Der Bundesrat hat in seiner 878. Sitzung am 17. Dezember 2010 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt und unterstützt das Vorhaben der Kommission, durch Maßnahmen im Bereich des Vertragsrechts die Qualität der europäischen Rechtsvorschriften im Allgemeinen und deren Kohärenz im Besonderen zu verbessern sowie die Entwicklung des europäischen Binnenmarkts weiter zu fördern.
- 2. Der Bundesrat begrüßt daher das von der Kommission vorgelegte Grünbuch. Er befürwortet die Schaffung einer "Toolbox" für die Europäischen Rechtsetzungsorgane. Unabhängig hiervon hält der Bundesrat die Schaffung eines fakultativen Europäischen Vertragsrechts ("28. Rechtsordnung") für einen gangbaren Weg, den grenzüberschreitenden Geschäftsverkehr im Binnenmarkt zu fördern. In diesem Zusammenhang spricht sich der Bundesrat für die Schaffung einer "Toolbox" für alle Arten von Verträgen aus, für die der europäische Gesetzgeber Regelungen schaffen kann, und zwar unabhängig davon, ob andere mit dem Grünbuch vorgeschlagene Optionen weiterverfolgt werden.
Der Bundesrat ist der Auffassung, dass sich die Schaffung einer "Toolbox" für die europäischen Rechtsetzungsorgane und die Einführung eines fakultativen
Europäischen Vertragsrechts nicht gegenseitig ausschließen. Die "Toolbox" kann als erster und notwendiger Schritt auf dem Weg zur Kodifizierung eines europäischen Vertragsrechts verstanden werden, der einen sinnvollen Diskurs über ein solches Recht zwischen den Mitgliedstaaten erst ermöglicht.
Sie sollte Grundprinzipien, Definitionen von abstrakten Rechtsbegriffen und einen Katalog von Mustervorschriften enthalten. Auf diese sollte der europäische Gesetzgeber dann bei der Schaffung neuer Richtlinien und Verordnungen sowie bei der Überarbeitung vorhandener Rechtsakte zurückgreifen müssen. Nur so kann eine kohärentere europäische Rechtsetzung erreicht werden. Um dieser "Toolbox" das nötige Maß an institutioneller Verbindlichkeit zuzubilligen, hält der Bundesrat eine entsprechende Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission für sinnvoll.
- 3. Die Anstrengungen für ein gemeinsames Europäisches Vertragsrecht sollten dabei aber nicht stehenbleiben, denn eine "Toolbox" allein löst nicht die Probleme der Rechtszersplitterung, die innerhalb Europas ein Hemmnis für den grenzüberschreitenden Handelsverkehr darstellen. Der Bundesrat steht der Einführung eines fakultativen Europäischen Vertragsrechts dementsprechend aufgeschlossen gegenüber. Auch nach Ansicht des Bundesrates sollte dieses fakultative Europäische Vertragsrecht alle Arten von Parteien einschließen. Er teilt die Auffassung der Kommission, dass ein fakultatives Europäisches Vertragsrecht den grenzüberschreitenden Handel erleichtern kann.
Der Bundesrat ist allerdings der Auffassung, dass der sachliche Anwendungsbereich dieses fakultativen Europäischen Vertragsrechts in einem ersten Schritt zunächst auf Kaufverträge über bewegliche Sachen als den im Hinblick auf den Binnenmarkt bedeutendsten Vertragstyp beschränkt werden sollte. Auf diese Weise können in einem überschaubaren Regelungsbereich praktische Erfahrungen mit dem neuen Rechtsinstrument gesammelt und ausgewertet werden. Bewährt es sich in der Praxis, sollte es sukzessive auf weitere Vertragsarten - z.B. Dienstverträge - ausgedehnt werden.
Der Bundesrat hält es für sinnvoll, zunächst nur grenzüberschreitende Verträge in ein Europäisches Vertragsrecht einzubeziehen. Bei grenzüberschreitenden Vertragsbeziehungen bildet die Vielzahl der verschiedenen Vertragsrechtsordnungen insbesondere deswegen ein Binnenmarkthemmnis, weil sie die Vertragsparteien der Gefahr aussetzt, von außergewöhnlichen vertragsrechtlichen Regelungen überrascht zu werden. Dem kann durch die Schaffung einer "28. Rechtsordnung" begegnet werden.
Der Bundesrat ist der Auffassung, dass ein fakultatives Europäisches Vertragsrecht zunächst nur bei ausdrücklicher Wahl der Vertragsparteien gelten sollte (Optin-Lösung). Dem fakultativen Europäischen Vertragsrecht ist damit die Möglichkeit eröffnet, sich der Konkurrenz zu anderen Rechtsordnungen stellen zu können und sich in diesem Wettstreit zu bewähren.
- 4. Der Bundesrat ist in Übereinstimmung mit der Kommission der Auffassung, dass ein fakultatives Europäisches Vertragsrecht ausreichend klare Rechtsvorschriften enthalten und Rechtssicherheit bieten muss. Zudem teilt er die Auffassung der Kommission, dass ein solches Recht ein hohes Verbraucherschutzniveau gewährleisten muss.
Der Bundesrat ist der Ansicht, dass unabhängig von der Einführung eines fakultativen Europäischen Vertragsrechts die Arbeiten an dem 2008 vorgestellten Vorschlag einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Rechte der Verbraucher - BR-Drucksache 765/08 (PDF) , KOM (2008) 614 endg.; Ratsdok. 14183/08 - zügig abgeschlossen werden sollten. Ein fakultatives Europäisches Vertragsrecht darf hinsichtlich des Verbraucherschutzniveaus nicht hinter einer Verbraucherrechte-Richtlinie zurückbleiben.
- 5. Der Bundesrat teilt die Einschätzung der Kommission, dass bei einer Einbeziehung von Verträgen zwischen Unternehmen und Verbrauchern für Unternehmen Anreize geschaffen werden, das grenzüberschreitende Angebot von Waren an Verbraucher auszubauen.
- 6. Der Bundesrat macht allerdings darauf aufmerksam, dass sich daraus für den Verbraucher weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht wesentliche Nachteile ergeben dürfen. In diesem Zusammenhang sind folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen:
- - Der Bundesrat ist der Auffassung, dass ein fakultatives Europäisches Vertragsrecht trotz seiner Beschränkung auf grenzüberschreitende Verträge nicht dazu führen darf, dass durch diese Rechtswahl der Schutzstandard des Verbrauchers, der ihm durch seine Heimatrechtsordnung zuerkannt wird, wesentlich reduziert wird. - Die derzeitige Situation zeichnet sich für den Verbraucher zum einen durch ein Verbraucherschutzniveau aus, das über den Mindeststandards liegt, die durch die einzelnen verbraucherschützenden Richtlinien gesetzt werden. Dies gilt nicht nur für das deutsche Verbraucherschutzrecht, sondern für den durchschnittlichen Standard in der EU insgesamt: Die Mitgliedstaaten haben durchgängig von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, über die Mindeststandards der einzelnen Richtlinien hinauszugehen. Zum anderen ist der Verbraucher bei grenzüberschreitenden Verträgen durch das so genannte Günstigkeitsprinzip nach Artikel 6 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom-I-Verordnung) privilegiert: Danach gilt grundsätzlich das Heimatrecht des Verbrauchers als Mindestschutzniveau.
- - Ein europäisches Vertragsrechtsregime, das nur auf den Mindeststandards der verbraucherrechtlichen Richtlinien aufbaute und damit hinter das derzeitige Schutzniveau zurückfiele, würde sich in Widerspruch zu den primärrechtlichen Zielen im Verbraucherschutz setzen: Artikel 114 Absatz 3 AEUV legt die europäischen Gesetzgebungsorgane auf ein hohes Verbraucherschutzniveau fest, ebenso Artikel 169 Absatz 1 AEUV die EU als Ganzes. Mit diesen Vorgaben wäre eine merkliche Absenkung der Schutzstandards nach Auffassung des Bundesrates nicht vereinbar.
- - Ein Vertragsrechtsregime mit wesentlich reduzierten Schutzstandards wäre darüber hinaus für Verbraucher wenig attraktiv, eine breite Akzeptanz nach Einschätzung des Bundesrates nicht erreichbar.
Der Bundesrat hält es für geboten, dass das fakultative europäische Vertragsrechtsinstrument hinreichend klar und transparent ist, damit insbesondere Verbraucher Vertrauen in das alternative Rechtssystem fassen. Ohne eine hinreichende Transparenz und ein hohes Verbraucherschutzniveau würde ein alternatives Europäisches Vertragsrecht keine Akzeptanz bei den Verbrauchern in Europa finden.
Denn die Harmonisierung als solche bringt dem Verbraucher keine derart großen Vorteile, die eine wesentliche Absenkung bestehender Schutzstandards hinreichend kompensieren könnten. Insbesondere ist nicht zwangsläufig davon auszugehen, dass Verbraucher nach Schaffung eines zusätzlichen europäischen Vertragsrechtsregimes in großem Umfang auch das Angebot aus anderen Mitgliedstaaten nutzen und so von einer größeren Angebotsvielfalt maßgeblich profitieren würden. Denn einer stärkeren Nutzung von grenzüberschreitenden Angeboten durch die Verbraucher stehen insbesondere auch Sprachbarrieren und sonstige praktische Schwierigkeiten entgegen, die bei rein innerstaatlichen Geschäften nicht auftreten.
- - Für den Verbraucher ergeben sich durch ein zusätzliches Vertragsrechtsregime auch Nachteile. Mit der Schaffung eines fakultativen Instruments wird die Rechtslage für den Verbraucher komplizierter. Er ist nun neben seiner eigenen mit einer weiteren, ihm unbekannten Rechtsordnung konfrontiert. Daher wird er unter Umständen eine Entscheidungshilfe benötigen, ob er sich auf einen Vertrag unter Geltung des europäischen Vertragsrechts einlassen soll. Das kann vor allem einen höheren Bedarf an - gegebenenfalls anwaltlicher - Beratung und nicht unerhebliche Kosten beim Verbraucher nach sich ziehen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass zusätzliche Kosten auch in anderen Bereichen anfallen können, etwa in Bezug auf erforderlich werdende Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zum europäischen Vertragsrecht. Dies führt unter anderem zu Belastungen der öffentlichen Haushalte, aus denen die Mittel für die Hochschulen, die Fortbildung der Justiz und die Arbeit der Verbraucherverbände bereitgestellt werden. Bei der notwendigen Nutzwertanalyse werden darüber hinaus die zumindest in der Einführungsphase eines neuen Vertragsregimes erhöhten Transaktionskosten für die Unternehmen zu berücksichtigen sein. - Daneben weist der Bundesrat darauf hin, dass im Bereich der Verbraucherverträge die Gefahr besteht, dass selbst bei der Ausgestaltung eines europäischen Vertragsrechtsregimes als Optin-Modell die Wahlfreiheit der Verbraucher faktisch eingeschränkt ist. Wahlfreiheit droht dann zu scheitern, wenn Verhandlungsmacht ungleich verteilt ist. Dies ist bei Verbraucherverträgen in aller Regel der Fall: Zwischen dem anbietenden Unternehmen und dem nachfragenden Verbraucher herrscht ein strukturelles Ungleichgewicht zu Lasten des Verbrauchers, weil Unternehmer zumeist die Waren nur unter den von ihnen selbst bestimmten Vertragsbedingungen anbieten. Häufig wird es daher der Unternehmer sein, der die Rechtswahl in seinen Allgemeinen Geschäftsbedingungen trifft. Während im Rahmen der Diskussion um die Richtlinie über Rechte der Verbraucher (KOM (2008) 614 endg.) gewichtige Bedenken gegen eine Vollharmonisierung vorgetragen wurden, würde hier eine faktische Rechtsvereinheitlichung herbeigeführt, die der Vollharmonisierung in ihrer Wirkung zumindest nahe käme. Der Bundesrat spricht sich deshalb dafür aus, dass im Fall einer Einbeziehung von Verbraucherverträgen in den Anwendungsbereich des fakultativen Instruments der Verbraucher frei zwischen dem europäischen Vertragsrecht und dem nationalen Recht wählen kann.
- - In Zusammenhang mit der Rechtswahl weist der Bundesrat ergänzend darauf hin, dass die Wahlmöglichkeiten auf das Vertragsrechtsregime als Ganzes beschränkt sein müssten. Da jedes Regime ein in sich abgestimmtes System darstellt, sollte es nicht möglich sein, Regelungskomplexe des einen Regimes mit solchen eines anderen Regimes beliebig zu kombinieren (etwa die materiellen Mängelrechte eines europäischen Instruments mit den Gewährleistungsfristen eines nationalen Vertragsrechts). Dies schließt natürlich nicht eine Abbedingung dispositiver Vorschriften innerhalb des gewählten Vertragsrechtsregimes aus.
- - Bei der Einführung eines europäischen Vertragsrechtsregimes, das auf grenzüberschreitende Verträge zwischen Unternehmen sowie Verbraucherinnen und Verbrauchern Anwendung fände, müsste nach Ansicht des Bundesrates nicht nur auf die Beibehaltung der originär verbraucherrechtlichen Schutzstandards geachtet werden. Es wäre auch besonderes Augenmerk darauf zu richten, dass andere rechtliche Schutzmechanismen in ihrer Wirksamkeit nicht beeinträchtigt werden, etwa der Bereich des Minderjährigenschutzes oder die Vorschriften zu Willensmängeln.
- 7. Abschließend gibt der Bundesrat zu bedenken, dass die Einführung eines fakultativen Vertragsrechtsinstruments in seinen Wirkungen kaum hinter einer Harmonisierung zurückbliebe, die auf zwingend umzusetzenden europäischen Vorgaben beruht. Denn die Anwendung einheitlicher Vertragsregeln liegt primär im Interesse der Unternehmen, die sich auf Grund stärkerer Marktmacht gegenüber den Verbrauchern in aller Regel durchsetzen, was zumindest im Bereich der Verbraucherverträge zu einer faktischen Harmonisierung führen kann. Daher erfordert nach Ansicht des Bundesrates die Schaffung eines fakultativen Instruments ein sorgfältig vorbereitetes Vorgehen, das vor allem auch eingehende Folgeabwägungen sowie die frühzeitige Vorbereitung geeigneter Evaluierungsmaßnahmen einschließen muss.