Der Bundesrat hat in seiner 824. Sitzung am 7. Juli 2006 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission mit der Mitteilung "Eine bürgernahe Agenda: Konkrete Ergebnisse für Europa" (KOM (2006) 211 endg.) einen Beitrag zur Tagung des Europäischen Rates am 15./16. Juni 2006 vorgelegt hat, in dessen Mittelpunkt die Debatte über die Zukunft der EU stand. Der Bundesrat bewertet jedoch einige Inhalte dieser Mitteilung differenziert.
- 2. Der Bundesrat hat in seiner 811. Sitzung vom 27. Mai 2005 dem Gesetz zu dem Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa zugestimmt und den Verfassungsvertrag als "wichtigen Schritt hin zu mehr Bürgernähe, Demokratie, Transparenz, Effizienz und Subsidiarität in der EU" gewürdigt (BR-Drucksache 339/05(B) ). Der Bundesrat bestätigt und bekräftigt diesen Beschluss.
Der Bundesrat gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass es in der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im 1. Halbjahr 2007 gelingt, einen positiven und erfolgreichen Impuls zur Wiederbelebung des Verfassungsvertragsprozesses zu setzen und eine Perspektive für den weiteren Reformprozess der Union aufzuzeigen.
- 3. Der Bundesrat begrüßt daher die Absicht der Bundesregierung, im Zuge der deutschen Ratspräsidentschaft alle Anstrengungen zu unternehmen, um ein In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrags zu ermöglichen.
- 4. Der Bundesrat hält es für richtig, den Bürgern durch konkrete Leistungen zu beweisen, dass die EU deren Bedenken und Erwartungen Rechnung tragen kann, und auf diese Weise erneut Vertrauen aufzubauen. Neben der Frage der institutionellen Reformen müssen auch konkrete Ergebnisse europäischen Handelns erarbeitet und kommuniziert werden, um die Bürgerinnen und Bürger in Europa von der Notwendigkeit und Zukunft der EU zu überzeugen.
Der Bundesrat begrüßt deshalb, dass der Europäische Rat am 15./16. Juni 2006 einen "zweigleisigen Ansatz" vereinbart hat, der zum einen die Ausschöpfung der Möglichkeiten der geltenden Verträge und zum anderen einen "Fahrplan" zum weiteren Umgang mit dem Verfassungsvertrag bzw. zur Fortsetzung des Reformprozesses umfasst.
- 5. Der Bundesrat begrüßt die in der Mitteilung enthaltenen Ankündigungen zur Wahrung des Subsidiaritätsprinzips, zum Abbau von Bürokratie und zu mehr Transparenz. Der Bundesrat hält insbesondere die Absicht der Kommission, alle neuen Vorschläge und Konsultationspapiere direkt den nationalen Parlamenten zu übermitteln und sie zu einer Reaktion aufzufordern, um so den politischen Entscheidungsprozess zu verbessern, für einen wesentlichen Beitrag zur Verwirklichung von mehr Demokratie, Subsidiarität, Bürgernähe und einer besseren Rechtsetzung in der EU und damit auch zur Stärkung der Akzeptanz der europäischen Einigung bei den Bürgern. Der Bundesrat begrüßt es deshalb sehr, dass der Europäische Rat am 15./16. Juni 2006 diese Zusage der Kommission positiv aufgenommen und die Kommission ersucht hat, die Stellungnahmen der nationalen Parlamente - insbesondere in Bezug auf die Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit - gebührend zu berücksichtigen. Es wird nun darauf ankommen, dass die Kommission dieses auch effektiv anwendet.
Der Bundesrat wird das Angebot der Kommission zur direkten Einbindung der nationalen Parlamente in die europäische Politikgestaltung aufgreifen und ihr seine Stellungnahmen zu EU-Vorhaben in Bezug auf die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zukommen lassen.
Der Bundesrat geht davon aus, dass im Zuge dieses Bekenntnisses der Kommission zu einem partnerschaftlichen Europa das Subsidiaritätsprinzip besseren Eingang in die Initiativen der Kommission finden wird.
- 6. Der Bundesrat weist darauf hin, dass es nicht Inhalt des Subsidiaritätsprinzips ist, dass auf europäischer Ebene nur gehandelt werden soll, wenn dies "sinnvoll erscheint". Gemäß Artikel 5 Abs. 2 EGV bedeutet das Subsidiaritätsprinzip vielmehr, dass die EU in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig werden darf, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können.
- 7. Aus Sicht des Bundesrates sollte der Verfassungsvertrag als Gesamtpaket vor einer abschließenden Entscheidung über dessen Schicksal nicht in Frage gestellt werden. Vielmehr sollten die Mitgliedstaaten weiterhin alle Anstrengungen unternehmen, um ein In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrags zu ermöglichen. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich jede geeignete Initiative, die das Ziel verfolgt, auf Ebene der EU die Innen- und Sicherheitspolitik und die Zusammenarbeit im Bereich der Strafverfolgung fortzuentwickeln und insbesondere die Verfahren der grenzüberschreitenden Polizei- und Justizzusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten möglichst pragmatisch auszugestalten.
Allerdings hält der Bundesrat die Vorschläge im Kapitel "Freiheit, Sicherheit und Recht" der Vorlage für nicht geboten.
- 8. Die Inhalte von Teil III Titel III Kapitel IV des Verfassungsvertrags für die Polizeiliche Zusammenarbeit in Abschnitt 5 stellen ein fein abgestimmtes und ausgewogenes System dar, das einerseits mit dem Ziel der Verbesserung der grenzüberschreitenden polizeilichen Zusammenarbeit eine moderate Verlagerung mitgliedstaatlicher Kompetenzen auf die EU vorsieht und andererseits effektive und effiziente Initiativ- und Entscheidungsfindungsverfahren enthält.
Die Umsetzung der jetzt vorliegenden Kommissionsvorschläge könnte hingegen gerade zu derjenigen einseitigen und weit reichenden Kompetenzverschiebung zu Lasten der Mitgliedstaaten führen, die die Länder aus Gründen der Gewährleistung einer bürgernahen wirksamen mitgliedstaatlichen Polizeiarbeit und Strafverfolgung und wegen der erforderlichen Wahrung der Souveränität der Mitgliedstaaten für die Kernbereiche des Strafrechts stets abgelehnt haben. Im Falle einer umfassenden Vergemeinschaftung, die über den Verfassungsvertrag hinausginge, verlören die Mitgliedstaaten auf dem Feld "Justiz und Inneres" insbesondere jegliches eigene Recht zur Gesetzesinitiative, wie es der Verfassungsvertrag in Artikel III-264 vorsieht. Auch die in Teil III Kapitel IV des Verfassungsvertrags nicht zuletzt auf gemeinsames Betreiben der Länder und des Bundes verankerten Einstimmigkeitsvorbehalte würden gegebenenfalls ersatzlos entfallen. So sehen insbesondere Artikel III-270 Abs. 2 für das Strafverfahrensrecht und Artikel III-271 Abs. 1 für das Strafrecht Einstimmigkeitsvorbehalte für die Einbeziehung von Rechtsbereichen außerhalb der dort jeweils aufgeführten Kataloge in die Gesetzgebung der EU vor, die konterkariert würden, wenn man bereits jetzt pauschal die - zumindest nach Auffassung der Kommission - sehr weit gefasste Kompetenz der EU für das Straf- und Strafverfahrensrecht nach Artikel 31 EUV in die erste Säule übernehmen würde. Dies würde zudem zu dem nicht tragbaren Ergebnis führen, dass das In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrags zu einer teilweisen Rückführung von Kompetenzen aus dem dann bereits vorab vergemeinschafteten Bereich auf die Mitgliedstaaten führen würde.
- 9. Der Bundesrat stellt fest, dass sich die Arbeit in den derzeitigen Gremienstrukturen zwar zeitintensiv gestaltet und mit einem erhöhten Koordinationsaufwand verbunden ist. Mit dem Entwurf des Europäischen Verfassungsvertrags wurde diesem Umstand jedoch insbesondere durch die in Teil III Titel III Kapitel IV vorgesehenen Regelungen zur Initiativkompetenz, zur Mehrheitsentscheidung und zur Einführung des so genannten Notbremsemechanismus bereits ausreichend Rechnung getragen. Die Gremienarbeit wird sich hierdurch erheblich effizienter gestalten lassen.
- 10. Initiativen der Kommission für eine weitere Vergemeinschaftung werden ebenso für den Bereich der Ausländer- und Asylpolitik abgelehnt; dem Verfassungsvertrag sollte auch hinsichtlich der legalen Migration nicht vorgegriffen werden. Es ist festzuhalten, dass bereits von Artikel 67 Abs. 2 EGV Gebrauch gemacht und insoweit bewusst lediglich die legale Migration von einer Verlagerung der Kompetenzen von den Mitgliedstaaten auf die EU ausgenommen worden ist. Es muss auch vermieden werden, dass über den Umweg einer Kommissionsinitiative noch über Artikel III-267 Abs. 5 des Entwurfs des Verfassungsvertrags hinausgegangen wird, wonach das Recht der Mitgliedstaaten unberührt bleibt, festzulegen, wie viele Drittstaatsangehörige aus Drittländern in ihr Hoheitsgebiet einreisen dürfen, um dort als Arbeitnehmer oder Selbständige Arbeit zu suchen.
Gerade auch im Hinblick auf den Strategischen Plan der Kommission zur legalen Zuwanderung (KOM (2005) 669 endg.), den der Bundesrat mit seiner Stellungnahme vom 10. März 2006 (BR-Drucksache 005/06(B) ) bereits einer kritischen Würdigung unterzogen hat, ist derzeit eine Überführung der legalen Einwanderung in die Mehrheitsentscheidung nicht akzeptabel.
- 11. Vor diesem Hintergrund bittet der Bundesrat die Bundesregierung, diese Position des Bundesrates bei den Beratungen auf europäischer Ebene nachdrücklich zu vertreten.
- 12. Er begrüßt, dass der Europäische Rat am 15./16. Juni 2006 sich diese Vorschläge der Kommission nicht zu eigen gemacht hat, sondern lediglich geprüft werden soll, wie die Beschlussfassung und Durchführung von Maßnahmen in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts auf der Grundlage der bestehenden Verträge verbessert werden könnten.
- 13. Der Bundesrat stimmt mit der Kommission überein, dass Gegenstand der politischen Agenda auch die Sicherung von Solidarität sein muss. Mit Blick auf die Verteidigung des europäischen Gesellschaftsmodells im globalen Wettbewerb müssen die Mitgliedstaaten insbesondere die Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer und Unternehmen verbessern und tragfähige Konzepte einer Flexicurity verwirklichen. Die Antwort der Mitgliedstaaten bzw. der EU kann daher nur in konkreten Maßnahmen bestehen, nicht aber in weiteren Berichtsprozessen. Die Ankündigung der Kommission, eine umfassende Bestandsaufnahme der sozialen Wirklichkeit in Europa vorzunehmen, sieht der Bundesrat auf Grund der bereits bestehenden zahlreichen Koordinierungsprozesse, die gerade gestrafft werden sollten, kritisch.
- 14. Der Bundesrat bewertet den in der Mitteilung enthaltenen Vorschlag einer so genannten "Berechtigungskarte", die von vornherein nur bestehende Rechte aufführen könnte, unter dem Gesichtspunkt von Kosten und Nutzen kritisch.
- 15. Der Bundesrat sieht zudem einen Widerspruch zwischen der Selbsteinschätzung der Kommission, wonach diese beim Abbau von Bürokratie "mit gutem Beispiel" vorangehe, und der tatsächlichen Tendenz innerhalb der Kommission, neue europäische Institutionen einrichten zu wollen. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, der Einrichtung immer weiterer EU-Institutionen entgegenzuwirken.
- 16. Der Bundesrat ist mit der Kommission der Auffassung, dass die große Erweiterung im Jahr 2004 in politischer, strategischer und historischer Hinsicht notwendig war und auch wirtschaftlich ein Erfolg ist. Mit Blick auf das in der Bevölkerung aber auch verbreitete Unbehagen hinsichtlich der Geschwindigkeit und des Ausmaßes des Erweiterungsprozesses teilt der Bundesrat die Einschätzung der Kommission, dass eine fundierte Debatte über künftige Erweiterungen geführt und gezeigt werden muss, was sie für die EU insgesamt bedeuten.
Der Bundesrat begrüßt daher, dass der Europäische Rat am 15./16. Juni 2006 sich darauf verständigt hat, die Debatte über die künftige Erweiterungspolitik der EU im 2. Halbjahr 2006 fortzusetzen und zu vertiefen sowie bei seiner Tagung im Dezember 2006 alle Fragen zu erörtern, die sich im Zusammenhang mit künftigen Erweiterungen stellen, darunter auch die Fähigkeit der EU, neue Mitglieder aufzunehmen. Der Bundesrat begrüßt ferner die Aufforderung des Europäischen Rates an die Kommission, im Herbst 2006 einen Sonderbericht zur Aufnahmefähigkeit der EU vorzulegen, der auch den Aspekt abdecken soll, wie die Erweiterung von den Bürgern wahrgenommen wird.