Europäische Kommission Vizepräsidentin Brüssel, den 22. Mai 2007
An den
Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Dr. Harald Ringstorff
Sehr geehrter Herr Präsident,
vielen Dank für Ihren Brief vom 16. Februar 2007 mit dem Beschluss des Bundesrates über die Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über die Strategische Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union (KOM (2006) 689 endg.; Ratsdok. 15510/06) *
In Übereinstimmung mit der Entscheidung der Kommission, welche die nationalen Parlamente auffordert, zu ihren Vorschlägen zu reagieren, um die Politikformulierung und Rechtsetzung auf europäischer Ebene zu verbessern, begrüßen wir diese Gelegenheit, auf Ihre Anmerkungen einzugehen. Ich füge die Stellungnahme der Kommission bei. Ich hoffe, dass diese Antwort ein wertvoller Beitrag zu Ihren eigenen Ratsverhandlungen ist.
Ich hoffe, dass wir unseren Politikdialog zukünftig weiter entwickeln.
Mit freundlichen Grüßen
Margot Wallström
Commission européenne, B-1049 Bruxelles / European Commission, B-1049 Brussel - Belgium. Telephone: (32-2) 299 11 11.
Europäische Kommission
Brüssel, im Mai 2007
Anmerkungen der Europäischen Kommission zu einer Stellungnahme des Deutschen Bundesrates KOM (2006) 689 -
Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Strategische Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union (KOM (2006) 690) (KOM (2006) 691 endgültig).
Die Kommission dankt dem Deutschen Bundesrat für seine Stellungnahme (Ratsdok. 15510/06) zur Mitteilung "Strategische Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union"1. Diese Stellungnahme entspricht der Aufforderung der Kommission an die nationalen Parlamente, auf neue Vorschläge und Konsultationspapiere zu reagieren, "um den politischen Entscheidungsprozess zu verbessern"2.
In seiner Stellungnahme vom 16. Februar 2007 begrüßt der Bundesrat die Fortschritte und unterstützt die Vorschläge der Kommission im Hinblick auf Vereinfachung, Verwaltungslasten, Folgenabschätzungen (einschließlich der Einrichtung des Ausschusses für Folgenabschätzung) und die Sichtung anhängiger Vorschläge. Die Anmerkungen des Bundesrates werden im folgenden kommentiert:
- 1. Der Bundesrat stellt die Absicht der Kommission, Verordnungen an Stelle von Richtlinien vorzuschlagen, in Frage. Nach Auffassung des Bundesrates ist Richtlinien der Vorzug zu geben.
In diesem Punkt besteht keine Meinungsverschiedenheit zwischen Bundesrat und Kommission. Nach Auffassung der Kommission muss die Wahl der Instrumente von Fall zu Fall und entsprechend dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gemäß der Definition in Artikel 5 EG-Vertrag erfolgen. Nach Protokoll (30) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit "wäre unter sonst gleichen Gegebenheiten eine Richtlinie einer Verordnung ... vorzuziehen". Aber in einer Reihe von Bereichen führt die Umsetzung von Richtlinien zu großen Unterschieden, die sich als sehr kostspielig für die Wirtschaftsakteure, insbesondere die KMU, erweisen. Richtlinien haben dann nicht die gleiche Wirkung wie Verordnungen. Dies ist wahrscheinlich der Grund, warum Richtlinien in einigen Bereichen Verordnungen immer ähnlicher geworden sind und sehr genaue Bestimmungen enthalten. Diese Entwicklung trägt nicht zur Klarheit bei, da sie ein Missverhältnis zwischen der Art des Instruments und seinen Inhalten schafft. Obwohl Richtlinien nach wie vor in vielen Bereichen angemessen sein können, dürfte eine verstärkte Nutzung von Verordnungen, insbesondere bei den technischeren Maßnahmen, geboten sein. Die Kommission beabsichtigt lediglich, diejenigen Richtlinien durch Verordnungen zu ersetzen, mit deren Hilfe die Ziele der Union nicht erreicht wurden, sofern dieses Instrument dem Ziel der Maßnahme eher gerecht wird.
- 2. Der Bundesrat bittet, direkt an den Folgenabschätzungen der Kommission beteiligt zu werden und die Länder sollten Gelegenheit zur Stellungnahme zu diesen Folgenabschätzungen bekommen.
Die Kommission hat transparente und offene Verfahren zur Anhörung der Beteiligten und zum Einholen von Sachverständigenwissen eingerichtet. Die Länder sind häufig unmittelbar von der EU-Rechtsetzung betroffen und verfügen über einen umfangreichen Sachverstand, insbesondere im Hinblick auf die Umsetzung und Durchsetzung. Somit ist ihr Beitrag als Beteiligte bzw. Sachverständige äußerst willkommen. Daneben betrachtet die Kommission die Bemühungen des Ausschusses der Regionen zur Einrichtung von Netzen regionaler Sachverständiger als eine effiziente und wirksame Möglichkeit, um regionale Beiträge zu sammeln. Die Ergebnisse dieser Anhörung und das eingeholte Sachverständigenwissen werden von der Kommission bei ihren Folgenabschätzungen verwendet.
Folgenabschätzungen sind kein Ersatz für politisches Urteilen. Sie sammeln Informationen über mögliche Auswirkungen eines Vorschlags und benennen mögliche Kompromisse und Synergien. Als solche und weil sie Teil des Initiativrechts der Europäischen Kommission sind, darf ihre Abfassung nicht politischen Verhandlungen mit den anderen EU-Organen und den Parlamenten der Mitgliedstaaten unterworfen sein. Es ist Aufgabe der Kommission, Vorschläge zu unterbreiten, die sich auf vernünftige Grundlagen stützen. Anschließend haben die anderen EU-Gremien und die nationalen Parlamente diese Vorschläge politisch zu beurteilen. Mögliche Mängel der Folgenabschätzungen können bei dieser Gelegenheit festgestellt werden und zur Änderung des Vorschlags führen.
- 3. Der Bundesrat teilt nicht die Auffassung der Kommission, dass die Einführung des Prinzips der Diskontinuität das gegenwärtige Gleichgewicht zwischen den wichtigsten Organen ändern und zu übermäßig langen Unterbrechungen des Arbeitsablaufs in der EU führen würde. Seiner Auffassung nach ist die Empfehlung, dass jede neue Kommission während der ersten sechs Monate ihrer Amtszeit anhängige Vorschläge überprüft nicht ausreichend. Die Aufnahme dieses Grundsatzes in den Vertrag sollte daher weiterverfolgt werden.
Nach Artikel 211 EG-Vertrag trägt die Kommission "Sorge ... für die Anwendung dieses Vertrags sowie der von den Organen aufgrund dieses Vertrags getroffenen Bestimmungen". Es ist daher ihre Pflicht, zu betonen, dass das Prinzip der (legislativen) Diskontinuität nicht Teil des gegenwärtigen Vertrages ist und sogar einigen seiner Bestimmungen zuwiderläuft. Der Europäische Gesetzgeber kann sich weigern, Vorschläge der Kommission zu verabschieden. Die Kommission entscheidet jedoch, ob und wann sie ihre Vorschläge zurückzieht. Dies ist Teil des der Kommission durch den Vertrag verliehenen Initiativrechts. Hierdurch kann die Kommission eine ihrer wichtigsten Aufgaben erfüllen, nämlich das Gemeinschaftsinteresse zu vertreten und zu verteidigen indem sie Themen auf der Tagesordnung belässt, die sich möglicherweise gegen die kurzfristigen Interessen einiger EU-Komponenten richten.
Ferner gibt es praktische Gründe, warum die Diskontinuität die Wirksamkeit des EU-Entscheidungsprozesses beeinträchtigen würde. Das wichtigste Rechtsetzungsverfahren, das Mitentscheidungsverfahren, ist länger und komplizierter als die nationalen Gesetzgebungsverfahren. Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat durchläuft der Legislativvorschlag ein relativ kompliziertes System des "parlamentarischen Pendelverkehrs". Im Rahmen der Mitentscheidung dauert es durchschnittlich zwei Jahre, bis ein Vorschlag verabschiedet ist. Sollte das Diskontinuitätsprinzip eingeführt werden, könnte es nach Auffassung der scheidenden Kommission nutzlos sein, in den letzten beiden Jahren ihrer Amtszeit neue Initiativen vorzulegen während die neue Kommission angesichts der Verpflichtung, umfassende Anhörungen und Folgenabschätzungen durchzuführen, mehrere Monate benötigen würde um neue Vorschläge unterbreiten zu können. Hierdurch würde ebenfalls das Programm des Mitgliedstaates, der zum Ende oder zu Beginn der Amtszeit einer Kommission den Ratsvorsitz führt, stark ausgehöhlt.
Es ist daher eher empfehlenswert, selektiv die Vorschläge zurückzuziehen, die veraltet oder politisch nicht länger relevant sind. Ansonsten würde dies zu langen Unterbrechungen des Legislativprozesses führen.
- 4. Der Bundesrat fürchtet, dass die Vorgabe von Entsprechungstabellen (aus denen hervorgeht welche innerstaatlichen Vorschriften den Bestimmungen der Richtlinien entsprechen) bürokratischen Aufwand auslösen wird.
Entsprechungstabellen enthalten Mindestverweise auf die numerische Kennzeichnung der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinien und der nationalen Maßnahmen zu ihrer Umsetzung. Die Benennung der entsprechenden Bestimmungen sind Teil der Erarbeitung der Umsetzungsmaßnahmen. Für die Tabellen können einfache Vorlagen verwendet werden, in die bei Abfassung der Bestimmungen die entsprechenden Zahlen eingetragen werden, was nicht sehr aufwändig erscheint. Bei vielen Legislativverfahren in den Mitgliedstaaten gehört es dazu, Informationen dieser Art aufzuarbeiten. Für die Kommission handelt es sich bei Entsprechungstabellen um ein Instrument, das die Beurteilung der Umsetzung erleichtert, die Transparenz erhöht und die gerichtliche Nachprüfung vereinfacht. Sie sind besonders wichtig in einer erweiterten Union, in der die Umsetzung der Richtlinien in einer zunehmenden Zahl von Rechtsordnungen und Sprachen erfolgt. Als solche tragen sie dazu bei, dass den Mitgliedstaaten und den EU-Bürgern der Nutzen des europäischen Einigungswerks vollständig zugute kommt.
- * siehe Drucksache 871/06(Beschluss)
- 1 KOM (2006) 689.
- 2 Siehe "Eine bürgernahe Agenda: Konkrete Ergebnisse für Europa", KOM (2006) 211 vom 10. Mai 2006.