Empfehlungen der Ausschüsse
Initiative des Königreichs Belgien, der Republik Bulgarien, der Republik Estland, des Königreichs Spanien, der Französischen Republik, der Italienischen Republik, der Republik Ungarn, der Republik Polen, der Portugiesischen Republik, Rumäniens, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die europäische Schutzanordnung
868. Sitzung des Bundesrates am 26. März 2010
PE-CONS 2/ 10
A.
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union und der Rechtsausschuss empfehlen dem Bundesrat zu der Vorlage gemäß Artikel 12 Buchstabe b EUV wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt die Zielsetzung des Richtlinienvorschlags, den Schutz der Opfer von Straftaten durch die Vermeidung von Wiederholungstaten desselben Täters gegen dasselbe Opfer zu verbessern. Er ist jedoch der Auffassung, dass die Vorlage nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang steht.
- 2. Die Subsidiaritätsrüge gemäß Artikel 12 Buchstabe b EUV erfasst auch die Frage der Zuständigkeit der EU (siehe die Stellungnahme des Bundesrates vom 9. November 2007, BR-Drucksache 390/07(B) , Ziffer 5). Der Grundsatz der Subsidiarität ist ein Kompetenzausübungsprinzip. Gegen das Subsidiaritätsprinzip wird auch dann verstoßen, wenn keine Kompetenz der Union besteht. Daher muss im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung zunächst die Frage der Rechtsgrundlage geprüft werden. Außerdem wäre es widersprüchlich, wenn die nationalen Parlamente zwar Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip, nicht aber gegen den noch schwerer wiegenden Eingriff, den ein Handeln der EU ohne Zuständigkeit darstellt, rügen könnten.
- 3.
Der Bundesrat hat erhebliche Zweifel, ob sich die vorgeschlagene Richtlinie auf Artikel 82 AEUV stützen lässt. Nach dem in Artikel 5 Absatz 2 EUV normierten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung darf die EU nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig werden, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben. Die angegebene Rechtsgrundlage des Artikels 82 Absatz 1 Satz 2 Buchstabe d AEUV gestattet im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen Maßnahmen, um die Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden oder entsprechenden Behörden der Mitgliedstaaten im Rahmen der Strafverfolgung sowie des Vollzugs und der Vollstreckung von Entscheidungen zu erleichtern. Artikel 82 Absatz 1 Satz 2 Buchstabe a AEUV erlaubt die Festlegung von Regeln und Verfahren, mit denen die Anerkennung aller Arten von Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen in der gesamten Union sichergestellt wird.
- 4. Die von der beabsichtigten Richtlinie erfassten nationalen Opferschutzmaßnahmen werden von einigen Mitgliedstaaten in strafrechtlichen Verfahren getroffen, sind jedoch in anderen Mitgliedstaaten als zivilrechtlich (so im deutschen Gewaltschutzgesetz) oder verwaltungsrechtlich zu qualifizieren. Da die Mitgliedstaaten an ihren nationalen Systemen festhalten können, würde die Richtlinie nicht nur strafrechtliche, sondern auch zivil- und verwaltungsrechtliche Regelungen erfassen. Damit ist nicht nur der Bereich der strafrechtlichen Zusammenarbeit betroffen, für den Artikel 82 AEUV einschlägig ist.
- 5. Der Bundesrat nimmt mit großer Besorgnis zur Kenntnis, dass im Rat erwogen wird, Artikel 82 AEUV dahingehend auszulegen, dass nicht nur strafrechtliche Maßnahmen erfasst werden, sondern auch solche, die in Verfahren anderer Art getroffen werden, sofern diese den Schutz vor Straftaten zum Ziel haben. Diese extensive Auslegung dehnt die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen weit in den Bereich der Prävention aus und ist nachdrücklich abzulehnen.
Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen kann sich nur auf Entscheidungen beziehen, die im Rahmen der Strafrechtspflege und auf der Grundlage des Straf- bzw. Strafverfahrensrechts getroffen wurden. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut und der Systematik des Vertrages. Auch bei autonomer Auslegung des Artikels 82 AEUV ist der Begriff der Strafsache so zu verstehen, dass an eine begangene Straftat angeknüpft werden muss. Der Schutz vor bevorstehenden Straftaten ist hingegen dem Bereich der Gefahrenabwehr zuzuordnen, der von Artikel 82 AEUV nicht erfasst wird. Aus dem Regelungsgehalt der Artikel 82 bis 86 AEUV lässt sich ebenfalls der Schluss ziehen, dass sich die Vorschriften des entsprechenden Kapitels des Vertrages auf straf- und strafverfahrensrechtliche Maßnahmen im eigentlichen Sinne beziehen.
Die Erstreckung von Artikel 82 AEUV auf nicht strafrechtliche Entscheidungen, die lediglich das Ziel der Verhinderung von Straftaten verfolgen, könnte dazu führen, dass andere Kompetenzbestimmungen und deren möglicherweise restriktivere Voraussetzungen umgangen werden. So richtet sich etwa die gegenseitige Anerkennung zivilgerichtlicher Entscheidungen nach Artikel 81 AEUV. Zum Zwecke der Kriminalprävention gestattet Artikel 84 AEUV lediglich Maßnahmen der EU, die das Vorgehen der Mitgliedstaaten fördern und unterstützen.
- 6. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die vertraglichen Kompetenzgrundlagen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen wegen der besonders empfindlichen Berührung der demokratischen Selbstbestimmung durch Straf- und Strafverfahrensnormen restriktiv ausgelegt werden müssen. Diese strikte und keinesfalls extensive Auslegung hat gemäß den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts auch zu erfolgen, wenn ein Beschluss im Bereich der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen im Sinne von Artikel 82 Absatz 1 AEUV gefasst werden soll. Die Strafrechtspflege ist von kulturellen und historisch gewachsenen Vorverständnissen abhängig und in besonderem Maße durch die Werte und sittlichen Prämissen in den Mitgliedstaaten geprägt. Die Sicherung des Rechtsfriedens in Gestalt der Strafrechtspflege ist eine zentrale Aufgabe staatlicher Gewalt, hinsichtlich deren Übertragung auf eine supranationale Ebene strenge Maßstäbe anzulegen sind.
B.
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union und der Rechtsausschuss empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 7. Der Bundesrat begrüßt den Ansatz des Richtlinienvorschlags, dem Opfer von Gewalttaten und Bedrohungen die Möglichkeit zu geben, einer bereits erwirkten Schutzanordnung in einem anderen Mitgliedstaat Geltung zu verschaffen, ohne dass dort ein vollständig neues Verfahren betrieben werden muss.
- 8. Dem Bundesrat erscheint es zweifelhaft, ob der vorliegende Richtlinienvorschlag den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Artikel 5 Absatz 4 EUV) wahrt. Bereits die Eignung der vorgesehenen Maßnahme ist fraglich, da wegen des vergleichsweise komplizierten Verfahrens möglicherweise nicht gewährleistet ist, dass das Ziel erreicht werden kann, gefährdeten Personen schnelleren und einfacheren Schutz in dem Mitgliedstaat zu gewähren, in den sie sich begeben wollen. Verhältnismäßigkeitsbedenken können sich auch daraus ergeben, dass nicht absehbar ist, für wie viele Fälle eine europäische Schutzanordnung praktisch relevant sein könnte. Käme sie nur für zahlenmäßig wenige Fälle in Betracht, könnte der erhebliche Umsetzungsaufwand, der zu teils grundlegenden Veränderungen in den Rechtssystemen der Mitgliedstaaten führen könnte, als nicht mehr angemessen erscheinen.
- 9. Eine Beschreibung des Anwendungsbereichs der Richtlinie, die an die Begehung einer Straftat oder jedenfalls ein Strafverfahren anknüpft, stellt nicht zweifelsfrei sicher, dass die von einem Zivilgericht getroffene Anordnung nach dem deutschen Gewaltschutzgesetz (GewSchG) Grundlage einer europäischen Schutzanordnung sein kann. Sofern dies unter Kompetenz- und Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten möglich ist, sollte aus Sicht des Bundesrates im Interesse der Klarheit und um einen wirksamen Schutz für deutsche Opfer sicherzustellen der Anwendungsbereich dadurch beschrieben werden, dass eine vorsätzliche und rechtswidrige Handlung wider Leben, physische oder psychische Unversehrtheit, persönliche Freiheit oder sexuelle Selbstbestimmung begangen worden ist oder begangen werden sollte. Ergänzend weist der Bundesrat darauf hin, dass Schutzbedarf nicht nur mit Blick auf Anordnungen nach dem Gewaltschutzgesetz, sondern auch bei vergleichbaren Anordnungen auf der Grundlage von § 1361b Absatz 2 oder § 1666 Absatz 4 BGB bestehen kann. Für solche Anordnungen findet im Übrigen auch die Strafvorschrift des § 4 GewSchG keine Anwendung.
- 10. Der Richtlinienvorschlag regelt nicht hinreichend deutlich, welcher Staat für die strafrechtliche Verfolgung eines Verstoßes gegen eine europäische Schutzanordnung im Vollstreckungsstaat zuständig ist. Der Bundesrat spricht sich insoweit dafür aus, die Strafverfolgung vollständig dem Staat zu übertragen, auf dessen Gebiet gegen eine Schutzmaßnahme verstoßen wird. Dies vermeidet sowohl, dass der territoriale Geltungsbereich des Strafrechts des Anordnungsstaates auf das Gebiet des Vollstreckungsstaats ausgedehnt wird, als auch, dass wegen eines zugleich verwirklichten anderen Straftatbestands (z.B. Körperverletzung, Bedrohung) eine Sanktionierung infolge Strafklageverbrauchs scheitert. Die Verfolgung in zwei getrennten Verfahren würde zudem zu einer Verdoppelung der (von den Ländern zu tragenden) Kosten für die Ermittlungs- und Strafverfahren und zu einer doppelten Belastung des Opfers, das jeweils als Zeuge aussagen müsste, führen.
- 11. Mit dem Ziel eines besseren Verständnisses für den Rechtsanwender empfiehlt der Bundesrat, im Hinblick auf das Übersetzungsprozedere klarzustellen, dass die Übersetzung in die Sprache des Vollstreckungsstaates durch den Ausstellungsstaat zu erfolgen und dieser die Kosten dafür zu tragen hat.
- 12. Der Bundesrat weist darauf hin, dass das Verhältnis zu anderen möglicherweise einschlägigen EU-Rechtsakten nicht mit der für die Praxis der Rechtsanwendung erforderlichen Klarheit geregelt ist. Die derzeit vorgesehene Formulierung, wonach andere Rechtsakte unberührt bleiben sollen ("shall not affect"), stellt nicht hinreichend klar, ob ein Ausschlussverhältnis vorliegen soll oder mehrere Rechtsakte nebeneinander zur Anwendung kommen sollen.
- 13. Bei der Bemessung der Umsetzungsfrist sollte bedacht werden, ob sich aus weiteren zu erwartenden EU-Rechtsakten auf dem Gebiet des Opferschutzes Umsetzungsbedarf ergeben wird. Gegebenenfalls sollte sichergestellt werden, dass Umsetzungsmaßnahmen gemeinsam und aufeinander abgestimmt erfolgen können.
Begründung (nur gegenüber dem Plenum):
Die Anknüpfung an die Begehung einer Straftat oder jedenfalls ein Strafverfahren stellt nicht vollständig zweifelsfrei sicher, dass die Anordnung nach dem deutschen GewSchG Grundlage einer europäischen Schutzanordnung sein kann. In den Fällen, in denen eine Anordnung nach dem GewSchG ergehen kann, ist zwar meistens auch ein Straftatbestand verwirklicht; gerade im Fall des "Stalking" fallen GewSchG und § 238 StGB aber insoweit auseinander, als der Straftatbestand zusätzlich eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung verlangt. Um verbleibende Zweifel auszuräumen, die sich unter Umständen zum Nachteil für deutsche Opfer auswirken könnten, erscheint es vorzugswürdig, den Anwendungsbereich - im Rahmen der Kompetenzen der EU - durch eine Reaktion auf eine Verletzung der Schutzgüter zu definieren.
Der Richtlinienvorschlag beantwortet nicht, welcher Staat für die strafrechtliche Verfolgung eines Verstoßes gegen eine europäische Schutzanordnung im Vollstreckungsstaat zuständig ist. Einerseits kann das Ziel, das Opfer weitestgehend so zu stellen, wie es bei einer Schutzanordnung nach dem nationalen Recht des Vollstreckungsstaats stünde, nur dann erreicht werden, wenn dieser die Strafverfolgung auf Grundlage seiner nationalen Straftatbestände unternimmt. Dies ist auch systemkonsequent, da der Verstoß die Schutzmaßnahme dieses Vollstreckungsstaats betrifft. Andererseits heißt es in dem Richtlinienvorschlag, dass die Einleitung eines neuen Strafverfahrens gegen die gefährdende Person der zuständigen Behörde des Anordnungsstaats obliegt. Aus deutscher Sicht höchst problematisch wäre (wie erwogen), den Verstoß gegen die Schutzanordnung als solchen dem Anordnungsstaat, eine damit zugleich verwirklichte andere Straftat (z.B. Körperverletzung, Bedrohung) im Vollstreckungsstaat als Tatort zu sanktionieren. Nach deutschem Verständnis, das insoweit wegen Artikel 103 Absatz 3 GG verfassungsrechtlich fundiert ist, liegt eine Tat im prozessualen Sinn vor, so dass die zuerst in Rechtskraft erwachsende Entscheidung einen Strafklageverbrauch für den gesamten Lebenssachverhalt unter allen strafrechtlichen Gesichtspunkten bewirkt.
C.
- 14. Der Ausschuss für Frauen und Jugend und der Ausschuss für Innere Angelegenheiten empfehlen dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.