Der Bundesrat hat in seiner 819. Sitzung am 10. Februar 2006 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt es, dass die Kommission ihre Auffassung zu den Folgen des Urteils des Gerichtshofs vom 13. September 2005 (Rechtssache C-176/03, Kommission gegen Rat) in einer Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat niedergelegt hat. Diese transparente Vorgehensweise ist geeignet, bestehende unterschiedliche Auffassungen zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten frühzeitig aufzudecken und einer Klärung zuzuführen.
- 2. Der Bundesrat stimmt mit der Kommission darin überein, dass die Folgen des Urteils vom 13. September 2005 nicht auf die Kompetenz der Gemeinschaft hinsichtlich des Umweltschutzes zu beschränken sind, sondern sich grundsätzlich in allen Kompetenzbereichen der Gemeinschaft auswirken werden können.
- 3. Der Bundesrat weist aber darauf hin, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber auch weiterhin nach den Grundsätzen des Urteils keine eigene Rechtsetzungskompetenz hinsichtlich des Strafrechts und des Verfahrensrechts sowie für die justizielle und polizeiliche Zusammenarbeit in Strafsachen besitzt. Nur in den Fällen, in denen strafrechtliche Maßnahmen erforderlich sind, um die volle Wirksamkeit der gemeinschaftlichen Rechtsnormen zu gewährleisten, und wenn die Anwendung von Sanktionen eine unerlässliche Maßnahme darstellt, ist eine Regelungskompetenz hinsichtlich des materiellen Strafrechts aus dem Gesichtpunkt der Annexkompetenz eröffnet.
- 4. Diese einschränkenden Bedingungen, die der EuGH für die Annahme einer Annexkompetenz setzt, sind strikt zu beachten. Keinesfalls darf die ausnahmsweise vorhandene Kompetenz des Gemeinschaftsgesetzgebers, strafrechtliche Maßnahmen zu erlassen, extensiv ausgelegt werden.
- 5. Grundsätzlich erkennt die Kommission in Rnr. 10 der Mitteilung die Grenzen der Annexkompetenz an. Im Weiteren kündigt sie an, in jedem Fall die Notwendigkeit der strafrechtlichen Maßnahme im Hinblick auf Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit und Kohärenz zu überprüfen. Diese Prüfung sollte sich auch in einer schriftlichen Begründung niederschlagen.
- 6. Die Aufzählung in Rnr. 10 und 12 der Mitteilung, was die Gemeinschaft im Strafrecht den Mitgliedstaaten im Einzelfall vorschreiben darf, geht zu weit. So sollen der Grundsatz der strafrechtlichen Verfolgung, die Definition des Tatbestands, die Strafart und das Strafniveau oder eine sonstige Maßnahme im Bereich des Strafrechts festgeschrieben werden. Eine solche Vorgehensweise widerspräche dem Grundsatz der Subsidiarität des gemeinschaftlichen Handelns.
- 7. Diese extensive Auffassung birgt die Gefahr, dass die Kommission den Mitgliedstaaten selbst im Rahmen eines Richtlinienvorschlags so vollständige Strafnormen und/oder auch in einzelnen Mitgliedstaaten nicht oder nicht in dieser Form vorhandene Sanktionen vorschreiben wird, dass diesen keine Wahlfreiheit zur Einzelgestaltung verbleibt. Diese ist aber gerade im Strafrecht unabdingbar. Denn die auf EU-Grundlage entstehende Strafnorm muss sich in das übrige nationale strafrechtliche System, etwa hinsichtlich des Vorsatz-Fahrlässigkeitskonzepts oder des Täterschafts-Teilnahmekonzepts kohärent einfügen. Entsprechendes gilt für die jeweilige Sanktion. Von dieser Wahlfreiheit geht auch der EuGH in Rnr. 49 des Urteils vom 13. September 2005 implizit aus und sie findet sich explizit im Vertrag über eine Verfassung für Europa (Artikel III-271 Abs. 2 "Mindestvorschriften"), der eine neue Kompetenzregel für strafrechtliche Normen schaffen will. Über die Grenzen der Verfassungsvorschrift des Artikels III-271 hinaus wird das Urteil des EuGH vom 13. September 2005 jedoch keineswegs auszulegen sein.
- 8. Das Gebot, die Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung strafrechtlicher Maßnahmen größtmöglich zu wahren, folgt wesentlich auch aus der Beachtung der Kompetenzordnung nach dem EGV, nach dem die strafrechtliche Rechtsetzungskompetenz den Mitgliedstaaten obliegt.
- 9. Daraus ergibt sich, dass der Rechtsetzungsakt "Verordnung" mit seiner unmittelbaren Geltung in den Mitgliedstaaten im Regelfall für strafrechtliche Maßnahmen ausscheiden wird.
- 10. Es besteht kein zwingender Grund, die Rechtsakte, bei denen die Klagefrist des Artikels 230 EGV abgelaufen ist und die auf einer nach EuGH falschen Rechtsgrundlage erlassen worden sind, zügig ohne inhaltliche Änderungen neu zu verabschieden. Die Gültigkeit der deutschen Umsetzungsgesetze wird von der Fehlerhaftigkeit des Rahmenbeschlusses nicht berührt.
- 11. Der Bereinigungsbedarf muss für jeden Rechtsakt gesondert überprüft werden, denn es muss sichergestellt werden, dass die strafrechtliche Maßnahme unter Zugrundelegung der Maßstäbe des EuGH-Urteils tatsächlich in der ersten Säule zu regeln ist. Die von der Kommission erwogene Anpassung der Rechtsgrundlage der bereits vorhandenen, im Anhang zu der Mitteilung aufgeführten Maßnahmen "im Paket" wäre damit nicht vereinbar. Erhebliche Zweifel an einer Kompetenz zur Regelung in der ersten Säule bestehen unter anderem hinsichtlich der von der Kommission genannten Rahmenbeschlüsse zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln ABl. L 149 vom 2. Juni 2001, S. 1), über Geldwäsche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten (ABl. L 182 vom 5. Juli 2001, S. 1), zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor (ABL. L 192 vom 31. Juli 2003, S. 54) sowie über Angriffe auf Informationssysteme (ABl. L 69 vom 16. März 2005, S. 67).
- 12. Der Bundesrat weist ferner darauf hin, dass nach der Entscheidung des EuGH eine Kompetenz der Gemeinschaft, die strafrechtliche Sanktionierung bestimmter Verhaltensweisen in der ersten Säule vorzusehen, nur insoweit besteht, als dies zur Gewährleistung der von ihr erlassenen Rechtsnormen erforderlich ist (Nummer 48 der Entscheidung). Die Gemeinschaft hat hingegen nicht die Möglichkeit, in der ersten Säule eine strafrechtliche Sanktionierung von Verstößen gegen das nationale Recht vorzusehen. Soweit daher, etwa aus Gründen der Subsidiarität, die Mitgliedstaaten für die exakte Festlegung des zu sanktionierenden Verhaltens zuständig sind, kann die Gemeinschaft keine strafrechtliche Sanktionierung fordern. Auch unter diesem Gesichtspunkt bestehen erhebliche Bedenken gegen die von der Kommission erwogene Anpassung der Rechtsgrundlage insbesondere der Rahmenbeschlüsse zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln (ABl. L 149 vom 2. Juni 2001, S. 1), über Geldwäsche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten ABl. L 182 vom 5. Juli 2001, S. 1) und zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor (ABl. L 192 vom 31. Juli 2003, S. 54).
- 13. Die Ankündigung der Kommission, von ihrem Initiativrecht Gebrauch zu machen und für den Fall der Nichtkooperation des Rates und des Europäischen Parlaments neben der Kompetenzgrundlage noch zusätzliche, inhaltliche Änderungen vorzuschlagen vermag nicht zu überzeugen. Sollten inhaltliche Änderungen der Rahmenbeschlüsse angezeigt sein, kann im Rahmen dieses Verfahrens auch die Kompetenzgrundlage berichtigt werden. Sind keine inhaltlichen Änderungen erforderlich, dann ist nicht einzusehen, warum solche durch eine Verweigerung des Rates oder des Europäischen Parlaments, die Kompetenzgrundlage zu berichtigen, notwendig würden.