829. Sitzung des Bundesrates am 15. Dezember 2006
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union empfiehlt dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat bekräftigt seine Auffassung, wonach künftige Erweiterungen strikt vom Kriterium der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit der EU abhängig gemacht werden müssen. Er begrüßt, dass sich Kommission und Europäischer Rat vor dem Hintergrund einer verbreiteten Skepsis gegenüber künftigen Erweiterungen der EU in der Bevölkerung verstärkt mit dieser Frage auseinandersetzen.
- 2. Der Bundesrat nimmt die Mitteilung der Kommission "Erweiterungsstrategie und wichtigste Herausforderungen für den Zeitraum 2006 bis 2007" und die Ausführungen zum Stand der Beziehungen mit den Beitrittskandidaten Kroatien, Türkei und Mazedonien sowie den potentiellen Beitrittskandidaten der übrigen Staaten des westlichen Balkans zur Kenntnis.
- 3. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die Beitrittskriterien bei den laufenden Verhandlungen strikt eingehalten werden müssen. Die anhaltende Weigerung der Türkei, ihren Verpflichtungen zur Umsetzung des Ankaraprotokolls gegenüber einem Mitglied der Union nachzukommen, ist inakzeptabel und muss eine eindeutige Reaktion der EU nach sich ziehen.
- 4. Der Bundesrat bedauert, dass die Kommission keine vertiefte Analyse der Kriterien für die Aufnahmefähigkeit der EU vorgelegt hat. Die Kommission geht von einem funktionalen Konzept der Integrationsfähigkeit der EU aus, wonach die Union solange neue Mitglieder aufnehmen kann, wie die Funktionsfähigkeit der Institutionen und der gemeinsamen Politiken sowie ihre Finanzierung sichergestellt sind. Der Bundesrat weist darauf hin, dass für diese Funktionsfähigkeit auch die Legitimation des Handelns der EU von überragender Bedeutung ist. Hierzu sind nicht nur die intensive politische Auseinandersetzung in den europäischen Institutionen und die Vermittlung der gemeinsam gefundenen Lösungen in der Öffentlichkeit, sondern auch die breite Akzeptanz der Entscheidungen durch die Bevölkerung unabdingbar. Darüber hinaus ist aus Sicht des Bundesrates die Wahrung der europäischen Identität notwendiger Bestandteil der Integrationsfähigkeit. Der Bundesrat weist auf die anhaltende Debatte über Finalität und Grenzen der EU hin und spricht sich für eine Diskussion über die Werte und Ziele Europas aus.
- 5. Der Bundesrat sieht in der Ankündigung der Kommission, die Frage der Integrationsfähigkeit zukünftig durch Analysen zu den Folgen eines möglichen Beitritts auf die Institutionen, auf die gemeinsamen Politiken wie insbesondere die Agrar- und Kohäsionspolitik sowie auf die Finanzen der EU bei jedem neuen Beitrittsantrag sowie in wichtigen Stadien der laufenden Verhandlungsprozesse eingehend zu prüfen, einen ersten Schritt in die richtige Richtung hin zu einer schlüssigen Strategie für künftige Erweiterungen. Hierdurch erhalten alle Beteiligten die Gelegenheit, die Konsequenzen der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen bzw. des Abschlusses bestimmter Verhandlungskapitel für die EU konkreter einzuschätzen. Der Bundesrat hält es für erforderlich, auch die Konsequenzen der Nichterfüllung der Integrationsfähigkeitskriterien zu benennen. Mögliche Konsequenzen dürfen sich nicht darauf beschränken, Übergangsfristen und "sonstige Regelungen" zu bestimmen. Zu vermeiden sind schrittweise Zusagen der EU an Bewerberländer und Selbstbindungen der EU, die dazu führen können, dass die Beitrittsreife des Bewerberlandes und die Integrationsfähigkeit der EU als Entscheidungskriterien in den Hintergrund treten.
- 6. Der Bundesrat betont die Bedeutung der von der Kommission aufgeführten Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität der laufenden Beitrittsverhandlungen, um sicherzustellen, dass Beitrittskandidaten Fortschritte bei den Verhandlungen nur bei Erfüllung der von der EU festgelegten Beitrittskriterien machen können (Grundsatz der Konditionalität). Die bereits jetzt praktizierte Festlegung von Bedingungen für Aufnahme und Abschluss von Verhandlungskapiteln, die Einbeziehung der Ergebnisse des wirtschaftlichen und politischen Dialogs in die Verhandlungen sowie die Behandlung schwieriger Themen wie Justizreform und Korruptionsbekämpfung in einem frühen Stadium der Verhandlungen bieten Möglichkeiten, differenziert auf den jeweiligen Vorbereitungsstand der Beitrittskandidaten einzugehen. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, sich bei entsprechenden Anlässen in den Verhandlungen konsequent für die Nutzung dieses Instrumentariums einzusetzen um dem Grundsatz der Konditionalität Rechnung zu tragen.
- 7. Der Bundesrat unterstützt die Empfehlung der Kommission, die wichtigsten Dokumente wie Berichte zur Folgenabschätzung sowie gemeinsame Standpunkte der EU zu den Verhandlungen und zur Festlegung von Kriterien für Eröffnung und Abschluss von Verhandlungskapiteln zu veröffentlichen. Hierdurch kann die Transparenz des Verhandlungsprozesses verbessert werden.
- 8. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, die Debatte zur Erweiterungsstrategie insbesondere zur Integrationsfähigkeit der EU auch nach dem Europäischen Rat am 14./15. Dezember 2006 auf EU-Ebene und in Deutschland aktiv weiter zu gestalten.