A. Problem und Ziel
- Die sogenannte "58er-Regelung" des § 65 Abs. 4 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II), wonach 58-jährige und ältere Personen Arbeitslosengeld II beziehen können ohne sich den Vermittlungsbemühungen des jeweils zuständigen Leistungsträgers zur Verfügung zu stellen und sich selbst um die Beendigung der Arbeitslosigkeit bemühen zu müssen, findet ab dem 1. Januar 2008 nur noch Anwendung, wenn der Leistungsanspruch vor diesem Zeitpunkt entstanden ist und die bzw. der Arbeitslose vor diesem Tag das 58. Lebensjahr vollendet hat.
- Das Auslaufen dieser Regelung hat zur Folge, dass erwerbsfähige Hilfebedürftige aufgrund des geltenden Nachranggrundsatzes ( § 5 SGB II) regelmäßig auf eine mit Abschlägen verbundene Altersrente verwiesen werden.
- Ohne eine Nachfolgeregelung kommt es im Ergebnis für die betroffenen erwerbsfähigen Hilfebezieherinnen und Hilfebezieher zu einer zwangsweisen Verrentung vor der für eine abschlagsfreie Altersrente maßgeblichen Altersgrenze. In Grenzfällen, besonders bei Menschen, die während ihrer Erwerbstätigkeit niedrige Einkommen erwirtschaftet haben, kann der Wegfall der "58er-Regelung" bis hin zu einer Verfestigung der Abhängigkeit von Leistungen der Sozialhilfe während der gesamten Rentenlaufzeit führen.
- Eine solche Zwangsverrentung und ihre Folgen sind sozialpolitisch nicht vertretbar.
- Es muss gewährleistet werden, dass in den genannten besonderen Härtefällen ab dem 1. Januar 2008 von einer Antragstellung auf vorgezogene Rente abgesehen wird.
B. Lösung
- Die Problematik der drohenden Zwangsverrentung soll in den dargestellten Härtefällen durch die Einfügung eines neuen Absatzes 4a in § 65 SGB II entschärft werden. Danach wird es den Trägern der Grundsicherung ab dem 1. Januar 2008 ermöglicht bei erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente erfüllen, unter bestimmten Voraussetzungen von dieser Antragstellung abzusehen. Dies gilt für Personen, die innerhalb der nächsten sechs Monate eine abschlagsfreie Altersrente beziehen könnten sowie für Personen, die bereits sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind oder aus einer sonstigen Erwerbstätigkeit Einkommen in vergleichbarem Umfang erzielen. Damit sollen auch diejenigen Erwerbstätigen, die keiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen, aber ihre Hilfebedürftigkeit in vergleichbarem Umfang verringern, nicht auf die Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente verwiesen werden. Zudem soll eine Verweisung auf eine vorzeitige Altersrente auch ausgeschlossen werden, wenn die bzw. der erwerbsfähige Hilfebedürftige glaubhaft macht, dass eine Eingliederung in Arbeit innerhalb von sechs Monaten möglich ist.
C. Alternativen
- Keine.
D. Finanzielle Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte
- 1. Haushaltsausgaben ohne Vollzugsaufwand
Das Gesetz führt zu Mehrausgaben der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende, deren Höhe von der künftigen Inanspruchnahme abhängt und daher derzeit noch nicht verlässlich geschätzt werden kann. Wegen der Abschlagsregelung bei vorgezogener Altersrente sind die Auswirkungen auf die gesetzliche Rentenversicherung langfristig nur von untergeordneter Bedeutung.
- 2. Vollzugsaufwand
Zusätzliche Kosten werden durch den Vollzug des Gesetzes entstehen, die sich allerdings in Grenzen halten dürften.
E. Sonstige Kosten
- Keine.
Gesetzesantrag des Landes Rheinland-Pfalz
Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
Der Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz Mainz, den 28. November 2007
An den
Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ersten Bürgermeister
Ole von Beust
Sehr geehrter Herr Präsident,
die Regierung des Landes Rheinland-Pfalz hat beschlossen, dem Bundesrat den in der Anlage mit Vorblatt und Begründung beigefügten Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch zuzuleiten.
Ich bitte Sie, diesen Gesetzesantrag gemäß § 36 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Bundesrates in die Tagesordnung der 839. Sitzung des Bundesrates am 30. November 2007 aufzunehmen und eine sofortige Entscheidung in der Sache herbeizuführen.
Mit freundlichen Grüßen
Kurt Beck
Anlage
Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
Vom ...
Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen:
Artikel 1
Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
Das Zweite Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (Artikel 1 des Gesetzes vom 24. Dezember 2003, BGBl. I S. 2954, 2955), zuletzt geändert durch ... (BGBl. I S. ...), wird wie folgt geändert:
- 1. In der Inhaltsübersicht wird nach der Angabe zu § 71 folgende Angabe eingefügt:
" § 72 "Viertes Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch".
- 2. In § 65 wird nach Absatz 4 folgender Absatz 4a eingefügt:
(4a) Abweichend von § 5 Abs. 3 stellen die Leistungsträger nach diesem Buch einen Antrag auf eine Altersrente nicht, wenn erwerbsfähige Hilfebedürftige nach dem 31. Dezember 2007 die Voraussetzungen für eine vorzeitige Inanspruchnahme einer Altersrente erfüllen und
- 1. innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten Anspruch auf eine Altersrente haben die zu dem für die Versicherten jeweils maßgebenden Rentenalter in Anspruch genommen werden kann (abschlagsfreie Altersrente) oder
- 2. sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind oder aus sonstiger Erwerbstätigkeit ein Einkommen in vergleichbarer Höhe erzielen.
Ein Antrag auf eine Altersrente soll auch dann nicht gestellt werden, wenn erwerbsfähige Hilfebedürftige glaubhaft machen, dass sie innerhalb von sechs Monaten in Arbeit eingegliedert werden können. Die Frist nach Satz 2 beginnt mit dem Zeitpunkt, zu dem erwerbsfähige Hilfebedürftige erstmals die Voraussetzungen für die vorzeitige Inanspruchnahme einer Altersrente erfüllen, spätestens mit dem Antrag auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Satz 1 Nr. 1 findet keine Anwendung, wenn erwerbsfähige Hilfebedürftige bereits einmal glaubhaft gemacht haben, dass sie innerhalb von sechs Monaten in Arbeit eingegliedert werden können."
- 3. Nach § 71 wird folgender § 72 angefügt:
" § 72 Viertes Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
§ 65 Abs. 4a findet nur für Bewilligungszeiträume Anwendung, die vor dem 1. Januar 2011 beginnen."
Artikel 2
Inkrafttreten
Dieses Gesetz tritt am 1. Januar 2008 in Kraft.
Begründung
A. Allgemeiner Teil
Erwerbsfähige Hilfebedürftige haben gemäß § 5 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) vor Inanspruchnahme der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende andere Leistungen in Anspruch zu nehmen (sog. Nachrang der Grundsicherung für Arbeitsuchende).
Nach § 65 Abs. 4 SGB II können erwerbsfähige Hilfebedürftige, die vor dem 1. Januar 2008 das 58. Lebensjahr vollenden und Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende beziehen diese auch dann weiterhin erhalten, wenn sie nicht arbeitsbereit sind und nicht alle Möglichkeiten nutzen oder nutzen wollen, um ihre Hilfebedürftigkeit durch Aufnahme einer Arbeit zu beenden. Ab dem 1. Januar 2008 müssen alle anderen erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende beziehen, alle Möglichkeiten zur Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit insbesondere durch Aufnahme einer Arbeit nutzen. Dazu gehört grundsätzlich auch die Inanspruchnahme einer Altersrente, die vor dem für die Versicherten jeweils maßgebenden Rentenalter bezogen werden kann, also der Bezug einer Altersrente mit Abschlägen. Die Leistungsträger können nach § 5 Abs. 3 SGB II diese erwerbsfähigen Hilfebedürftigen dazu auffordern, einen entsprechenden Rentenantrag zu stellen und - nach erfolgloser Aufforderung - die Rente mit Wirkung für die erwerbsfähigen Hilfebedürftigen beantragen. Davon unberührt bleibt das Recht der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, selbst einen Rentenantrag zu stellen, damit sie nicht mehr alle Möglichkeiten nutzen müssen, um ihre Hilfebedürftigkeit zu überwinden.
In der Folge kann es somit zu zwangsweisen Verrentungen kommen, wobei die betroffenen Menschen eine vorgezogene Altersrente in Anspruch nehmen müssten, die mit Abschlägen verbunden wäre. Eine solche "Zwangsverrentung" ist sozialpolitisch nicht vertretbar. Besonders Menschen, die während ihrer Erwerbstätigkeit nur ein niedriges Einkommen erzielt haben, könnten in Grenzfällen während ihrer gesamten Rentenlaufzeit abhängig von Leistungen der Sozialhilfe werden.
Geboten ist es daher, eine Nachfolgeregelung zu schaffen, die für die in der Einzelbegründung zu Artikel 1 Nr. 2 (§ 65 Abs. 4a - neu - SGB II) dargestellten besondere Fälle ein Abweichen vom Nachrang der Grundsicherung für Arbeitsuchende und damit von der ansonsten drohenden "Zwangsverrentung" zulässt.
B. Besonderer Teil
Zu Artikel 1 (Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch)
Zu Nummer 1 (Inhaltsübersicht)
Folgeänderung zu Nummer 3.
Zu Nummer 2 (§ 65)
Die Regelung des neuen Absatzes 4a des § 65 SGB II ermöglicht den Leistungsträgern, ab dem 1. Januar 2008 bei erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente erfüllen, unter bestimmten Voraussetzungen von dieser Antragstellung abzusehen.
Dies gilt nach Satz 1 für Personen, die innerhalb der nächsten sechs Monate eine abschlagsfreie Altersrente beziehen könnten sowie für Personen, die bereits sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind oder aus einer sonstigen Erwerbstätigkeit Einkommen in vergleichbarem Umfang erzielen. Damit sollen auch diejenigen Erwerbstätigen, die keiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen, aber ihre Hilfebedürftigkeit in vergleichbarem Umfang verringern, nicht auf die Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente verwiesen werden.
Vergleichbares gilt nach Satz 2, wenn erwerbsfähige Hilfebedürftige glaubhaft machen, dass sie innerhalb von sechs Monaten in Arbeit eingegliedert werden können.
Die Sätze 3 und 4 stellen klar, dass erwerbsfähige Hilfebedürftige, die keine Erwerbstätigkeit ausüben längstens für die Dauer von sechs Monaten nicht auf die Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente verwiesen werden; haben sie bereits einmal glaubhaft gemacht, innerhalb von sechs Monaten eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen so können sie nach Ablauf dieses Zeitraums nicht darauf verweisen, dass nunmehr innerhalb von sechs Monaten eine abschlagsfreie Rente in Anspruch genommen werden könnte.
Zu Nummer 3 (§ 72)
Die Neuregelung in § 65 Abs. 4a SGB II ist auf drei Jahre befristet. Die eingeleiteten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zur Integration älterer Menschen in den Arbeitsmarkt zeigen bereits erste positive Wirkungen. Inwieweit sie tatsächlich zu einer besseren Integration älterer Menschen beitragen, soll während dieses Zeitraums beobachtet werden.
Zu Artikel 2 (Inkrafttreten)
Das Inkrafttreten wird auf den 1. Januar 2008 festgelegt, um einen nahtlosen Übergang zum Auslaufen der sogenannten "58er-Regelung" zu gewährleisten.