Der Bundesrat hat in seiner 892. Sitzung am 10. Februar 2012 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt den Jahreswachstumsbericht 2012 und ist der Ansicht, dass der Bericht mit den Bereichen wachstumsfreundliche Haushaltskonsolidierung, Wiederherstellung einer normalen Kreditvergabe an die Wirtschaft, Anschub für Wachstum, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Bewältigung der sozialen Folgen der Krise und Modernisierung der Verwaltungen die richtigen Schwerpunkte setzt.
- 2. Er begrüßt insbesondere die frühzeitige Vorlage des Jahreswachstumsberichts 2012. Der Bundesrat erhält so Gelegenheit, den Bericht vor Verabschiedung der Schlussfolgerungen des Rates im Februar 2012 und der horizontalen Leitlinien beim Europäischen Rat im März 2012 zu prüfen und zu erörtern.
- 3. Der Bundesrat stellt fest, dass die Kommission im Jahreswachstumsbericht wichtige Handlungsprioritäten herausgestellt hat. Er begrüßt, dass der Bericht 2012 im Vergleich zum Vorjahr einen neuen Ansatz verfolgt und sozial ausgewogener ist, indem er auch auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, insbesondere der Jugendarbeitslosigkeit, und die Bewältigung der sozialen Folge der Krise fokussiert. In diesem Zusammenhang fordert der Bundesrat eine stärkere Rolle des Beschäftigungsrates in der Koordinierung der Europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik.
- 4. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission, dass die Hauptpriorität bei der wirtschaftspolitischen Koordinierung darin liegen muss, die getroffenen Vereinbarungen auch umzusetzen. Die mittlerweile vielschichtigen, ineinandergreifenden Verfahren zur Steuerung der Wirtschaftspolitik in der EU und den Mitgliedstaaten bleiben fruchtlos, wenn die vereinbarten Maßnahmen nicht von allen Mitgliedstaaten entschieden durchgeführt werden. Nur auf diesem Weg kann auch das Vertrauen privater Investoren zurückgewonnen werden.
- 5. Der Bundesrat unterstützt die Kommission in ihrer Einschätzung, dass eine entschlossene Haushaltskonsolidierung entscheidend für die Wiederherstellung der makrofinanziellen Stabilität in der EU ist. Der eingeschlagene Konsolidierungsweg muss konsequent weiter beschritten werden.
Er ist der Auffassung, dass trotz der notwendigen Konsolidierungspolitik aufgrund der Staatsschuldenkrise die Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme erhalten bleiben und die Haushaltskonsolidierung so sozial ausgewogen und beschäftigungswirksam wie möglich ausgestaltet werden muss. Die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, Armut und sozialer Ausgrenzung muss auch vor dem Hintergrund des finanzpolitischen Konsolidierungsdrucks auf allen politischen Ebenen von prioritärer Bedeutung sein.
- 6. Besonders begrüßt der Bundesrat, dass die Kommission das Thema der steigenden Jugendarbeitslosigkeit in den Fokus rückt. Im europäischen Vergleich der Arbeitslosenquoten der unter 25jährigen (Quelle: Eurostat) kann Deutschland mit 9,9 Prozent im Jahresdurchschnitt 2010 den drittbesten Wert nach den Niederlanden (8,7 Prozent) und Österreich (8,8 Prozent) vorweisen. Auch wenn die Arbeitslosigkeit junger Menschen in Deutschland aktuell damit nicht zu den vorherrschenden Problemfeldern zählt, ist das Aufgreifen der Thematik mit Blick auf die EU-weite Entwicklung dringend geboten. Die extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit z.B. in Spanien (41,6 Prozent), in Griechenland (32,9 Prozent) und in Großbritannien (19,6 Prozent) sowie die daraus resultierende Perspektivlosigkeit bergen zudem enormes Konfliktpotential.
Der Bundesrat erachtet es als unbedingt erforderlich, in diesem Rahmen ein besonderes Augenmerk auf den besonders betroffenen Personenkreis junger Menschen mit sozialen und individuellen Defiziten zu richten, der einer besonders intensiven Unterstützung und Förderung bedarf.
- 7. Die Vorschläge zur Förderung der Beschäftigung insbesondere junger Menschen sind aus Sicht des Bundesrates grundsätzlich zu begrüßen. Allerdings sieht der Bundesrat die Aussage "Besonderes Augenmerk sollte auf die Aspekte der beruflichen Bildung in tertiären Bildungssystemen ( ... ) gerichtet werden" kritisch. Er ist der Auffassung, dass keine Priorisierung zu Gunsten der beruflichen Bildung in tertiären Bildungssystemen beziehungsweise zu Ungunsten der regulären Ausbildung im dualen System angestrebt werden sollte.
- 8. Der Bundesrat sieht die von der Kommission vorgeschlagene Konzentration von allgemeiner und beruflicher Bildung auf Wirtschaftszweige, in denen die stärkste Nachfrage nach Qualifikationen und Arbeitskräften besteht, mit Sorge. Qualitativ hochwertige Bildung muss sich zwar auch den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts anpassen, kann sich jedoch nicht nur an kurzlebigen wirtschaftlichen Entwicklungen orientieren.
- 9. Er teilt grundsätzlich die Auffassung der Kommission, dass Bildung die Aufgabe hat, junge Menschen für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren und ihnen hierfür relevante Kompetenzen zu vermitteln. Er lehnt aber eine Orientierung von Bildungsmaßnahmen und -inhalten an deren bloßer Verwendbarkeit auf dem Arbeitsmarkt ab und erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass Bildung sich nicht darin erschöpft, die Beschäftigungsfähigkeit zu verbessern, sondern das umfassendere Ziel haben muss, Werte zu vermitteln und die gesamte Persönlichkeit zur Entfaltung zu bringen (vgl. BR-Drucksache 597/10(B) ).
- 10. Der Bundesrat begrüßt die Bemühungen der Kommission, in geeigneten Bereichen die Ausrichtung der Steuerpolitik der EU und der Mitgliedstaaten zu koordinieren, soweit dadurch ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarkts gefördert wird. Die bestehende Kompetenzordnung ist dabei zu beachten.
- 11. Der Bundesrat begrüßt ausdrücklich die Bestrebungen der Kommission, eine Finanztransaktionssteuer möglichst EU-weit einzuführen.
Dadurch kann neben dem reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts auch ein Beitrag zur Harmonisierung des Steuerrechts innerhalb der EU geleistet werden.
Durch eine solche können Spekulationsgeschäfte eingedämmt und damit künftigen Krisen vorgebeugt werden. Darüber hinaus stellt sie einen aus Gerechtigkeitsgesichtspunkten begrüßenswerten Beitrag der Finanzwirtschaft an der Bewältigung der aktuellen Krise dar.
- 12. Der Bundesrat unterstützt die Bestrebungen der Kommission zur Schaffung einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage als einen weiteren Beitrag zur Harmonisierung des Steuerrechts innerhalb der EU. Auch wenn in diesem Zusammenhang noch eine Vielzahl von Fragen zu klären ist, wird die Chance gesehen, die Transparenz der Unternehmensbesteuerung zu erhöhen, Hindernisse für den Binnenmarkt zu beseitigen und grenzüberschreitende Tätigkeiten zu erleichtern. Im Interesse der Stabilität der öffentlichen Haushalte und der notwendigen Haushaltskonsolidierung sind negative Auswirkungen auf das Steueraufkommen zu vermeiden.
- 13. Der Bundesrat begrüßt das Ziel der Kommission, die Energiebesteuerung in den Mitgliedstaaten stärker zu harmonisieren und einheitliche Anreize für energiebezogene Klimaschutzanstrengungen außerhalb des Emissionshandels zu schaffen. Er hält den Vorschlag zur Überarbeitung der Energiesteuerrichtlinie aber für problematisch, weil er mittelfristig eine Änderung des derzeit in Deutschland bestehenden Steuersatzverhältnisses zwischen Diesel und Benzin erforderlich machen würde. Dies hätte einen Attraktivitätsverlust der im Vergleich zu solchen mit Benzinmotor weniger Treibhausgas emittierenden Dieselfahrzeugen zur Folge und wäre deshalb im Hinblick auf das mit dem Vorschlag verbundene Ziel einer Reduktion der CO₂-Emissionen kontraproduktiv.
- 14. Der Bundesrat begrüßt die Bemühungen der Kommission, durch Verwaltungszusammenarbeit der Mitgliedstaaten Steuerhinterziehung zu bekämpfen und auch auf internationaler Ebene für ein verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich aller Staaten einzutreten.
- 15. Er nimmt den Entwurf des Gemeinsamen Beschäftigungsberichts sowie den Fortschrittsbericht zur Strategie Europa 2020, die als Anlagen zum Jahreswachstumsbericht veröffentlicht wurden, zur Kenntnis.
- 16. Der Bundesrat bemängelt die negative Darstellung der bildungspolitischen Situation in dem dem Jahreswachstumsbericht anhängenden Entwurf des gemeinsamen Beschäftigungsberichts. Vor allem wird - jedenfalls für Deutschland - die pauschale Einschätzung der Kommission, dass die Bildungsergebnisse den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts nicht gerecht werden, nicht geteilt. Zutreffend ist allerdings, dass weitere Anstrengungen zur Verbesserung der Bildungssysteme unternommen werden sollten.
- 17. Im Entwurf des Fortschrittsberichts zur Strategie Europa 2020, der dem Jahreswachstumsbericht anhängt, fordert die Kommission die Mitgliedstaaten auf, die Empfehlung des Rates vom 28. Juni 2011 für politische Strategien zur Senkung der Schulabbrecherquote umzusetzen. Angesichts dieser Forderung weist der Bundesrat darauf hin, dass im Hinblick auf den unverbindlichen Rechtscharakter der Empfehlung und die Freiwilligkeit der EU-Bildungskooperation es den Mitgliedstaaten obliegt, über die Umsetzung zu entscheiden.
- 18. Der Bundesrat mahnt vermehrte Sorgfalt bei der Übersetzung aus der ursprünglichen Sprachfassung an und weist in diesem Zusammenhang insbesondere kritisch darauf hin, dass frühzeitige Schulabgänger ("early school leavers") nicht mit Schulabbrechern gleichzusetzen sind.
- 19. Anlässlich der Äußerung im Entwurf des Fortschrittsberichts, dass durch die Festlegung konkreter Ziele jeder einzelne Mitgliedstaat stärker in die Pflicht genommen werden soll, um messbare Fortschritte vor allem bei der Umsetzung der Kernziele der Strategie Europa 2020 zu machen, erinnert der Bundesrat daran, dass er die deutsche Beteiligung an der europäischen Bildungskooperation nach wie vor als freiwilligen Prozess betrachtet, der sich auf Grund der vertraglichen Bestimmungen jedweder Vorgabe durch die europäische Ebene entzieht.
- 20. Der Bundesrat weist im Hinblick auf die Aussagen im Makroökonomischen Bericht zur Bedeutung einer effizienten Anpassung der Arbeitskosten für den Abbau der Ungleichgewichte und der stark gestiegenen Arbeitslosigkeit im Euroraum darauf hin, dass eine solche Anpassung nicht zu einem Wettlauf um die niedrigsten Löhne führen darf. Der Indikator Arbeitskosten darf nicht isoliert von den Kriterien Produktivität, dem Vorhandensein von gut ausgebildeten Fachkräften, Steuerbedingungen, Infrastrukturangebot und vor allem Wirtschaftsstruktur betrachtet werden. In den Arbeitskosten von Mitgliedstaaten und Regionen spiegelt sich also letztendlich die dahinter stehende Produktivität wider.
- 21. Der Bundesrat weist darauf hin, dass sich die Arbeitsmärkte in den Mitgliedstaaten strukturell stark unterscheiden und Fragen des Kündigungsschutzes folgerichtig auf nationaler Ebene geregelt werden. Der deutsche Arbeitsmarkt konnte den Rückgang der Wirtschaftsleistung im Jahr 2009 weit überdurchschnittlich gut abfedern, weil etwa mit Arbeitszeitkonten oder dem Kurzarbeitergeld vor allem Instrumente der so genannten "internen Flexibilität" zum Einsatz kamen. Zugleich standen damit den Unternehmen in der anschließenden Erholungsphase die notwendigen Arbeitskräfte unmittelbar zur Verfügung. Der Bundesrat lehnt daher pauschale Empfehlungen der Kommission zu Fragen des Kündigungsschutzes als unangemessen ab.
- 22. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, sich in den Verhandlungen auf EU-Ebene zum Europäischen Semester für ein Verfahren bzw. Zeitpläne einzusetzen, die eine ausgewogene und sachgerechte Beteiligung der Länder ermöglichen.