Antrag des Freistaates Bayern
Entwurf eines Gesetzes zu bereichsspezifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung

Punkt 48 der 953. Sitzung des Bundesrates am 10. Februar 2017

Der Bundesrat möge zu dem Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes wie folgt Stellung nehmen:

Zu Artikel 8

'Artikel 8a
Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes

Das Gerichtsverfassungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Mai 1975 (BGBl. I S. 1077), das zuletzt durch [...] geändert worden ist, wird wie folgt geändert:

1. Nach § 175 wird folgender Paragraf eingefügt:

" § 175a

Bei der Verhandlung beteiligte Personen dürfen ihr Gesicht während der Sitzung weder ganz noch teilweise verdecken. Ausnahmen kann der Vorsitzende gestatten, wenn der unverdeckte Blick in das Gesicht weder zur Feststellung der Identität noch zur Erforschung der Wahrheit im Einzelfall geboten ist."

2. In § 180 wird die Angabe "176" durch die Angabe "175a" ersetzt.'

Begründung:

Zu Nummer 1:

Zur Gewährleistung der Identitätsfeststellung und der Wahrheitserforschung bedarf es einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung, dass Verfahrensbeteiligte in Gerichtsverhandlungen ihr Gesicht weder ganz noch teilweise verdecken dürfen.

Weder das Gerichtsverfassungsgesetz noch die einzelnen Verfahrensordnungen sehen bislang spezifische Regelungen vor, ob Verfahrensbeteiligte ihr Gesicht in Gerichtsverhandlungen verdecken dürfen und wie in entsprechenden Fällen zu verfahren ist. Das geltende Recht ermöglicht den Gerichten zwar, die Abnahme verdeckender Elemente im Einzelfall nach pflichtgemäßem Ermessen anzuordnen oder aber davon Abstand zu nehmen. Im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit sollte bei Betroffenen wie Gerichten hierüber jedoch schon aufgrund des Gesetzeswortlautes Gewissheit herrschen - nicht zuletzt, um zeitraubende Auseinandersetzungen zu vermeiden und eine effiziente Verfahrensführung zu ermöglichen.

Das in Artikel 20 Absatz 3 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip gebietet den Gerichten, den wahren Sachverhalt bestmöglich aufzuklären. Das Gericht muss sich grundsätzlich über die Identität von Verfahrensbeteiligten Gewissheit verschaffen und alle - auch aussagepsychologischen - Erkenntnisquellen einschließlich Mimik ausschöpfen, um materielle Gerechtigkeit zu schaffen und Fehlentscheidungen zu vermeiden. Eine offene, auch nonverbale Kommunikation zählt darüber hinaus zu den tragenden Elementen einer effektiven Verhandlungsführung. Ein ganz oder teilweise verdecktes Gesicht steht einer solchen entgegen und darf daher in aller Regel vor Gericht nicht hingenommen werden.

Für den Rechtsstaat ist die Wahrheitserforschung vor Gericht gleichermaßen zentrale Aufgabe wie Verpflichtung. Der demokratisch legitimierte Gesetzgeber sollte der gerichtlichen Praxis im Interesse der Rechtssicherheit eine klarstellende Regelung an die Hand geben, wie das normative Spannungsverhältnis zwischen der aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden zentralen Aufgabe und Verpflichtung der Gerichte zur Wahrheitserforschung und den grundrechtlich geschützten Positionen der Verfahrensbeteiligten im Einzelfall zu lösen ist.

Die vorgeschlagene Regelung stellt das angestrebte Regel-AusnahmeVerhältnis eindeutig klar: Die Gesichtsverdeckung ist gemäß § 175a Satz 1 GVG-E für alle Verfahrensbeteiligte während der Sitzung verboten. Dieses Verbot gilt ohne Voraussetzungen oder Einschränkungen, womit sich der Gesetzgeber unmissverständlich zur Wahrheitserforschungspflicht bekennt. Für Verfahrensbeteiligte ist mit einem Blick ins Gesetz rechtssicher erkennbar, dass sie ihr Gesicht vor Gericht weder ganz noch teilweise verdecken dürfen. Zugleich ist aus dem Gesetzeswortlaut selbst für den Vorsitzenden zu entnehmen, welches Verbot er im konkreten Fall auch anzuwenden und durchzusetzen hat.

§ 175a Satz 2 GVG-E sieht die Möglichkeit von einzelfallbezogenen Ausnahmen vom grundsätzlichen Gesichtsverdeckungsverbot vor. Eng auszulegende Tatbestandsvoraussetzung ist allerdings, dass im konkreten Fall der unverdeckte Blick in das Gesicht weder zur Feststellung der Identität noch zur Erforschung der Wahrheit im Einzelfall geboten ist. Nur wenn beide Belange nicht berührt werden, kann der Vorsitzende in Ausübung seines pflichtgemäßen Ermessens eine Ausnahme im Einzelfall gestatten. Der Anwendungsbereich für derartige Ausnahmen dürfte jedoch in der Praxis kaum relevant sein, weil die Wahrheitserforschungspflicht regelmäßig vorgeht.

Zu Nummer 2:

Das Verbot der Gesichtsverdeckung nach § 175a GVG-E gilt während der gesamten Dauer der Sitzung. Der Begriff der Sitzung umfasst jedoch lediglich die unmittelbar auf die Entscheidung in der Sache selbst gerichtete Verhandlung. Amtshandlungen des beauftragten oder ersuchten Richters, die Tätigkeit in Haft- oder Vollstreckungssachen sowie sonstige Anhörungen oder Vernehmungen fallen nicht darunter. Insoweit ist es erforderlich und sachgerecht, die neue Norm in den Katalog des § 180 GVG einzubeziehen, der die Befugnisse auch auf Amtshandlungen außerhalb der Sitzung erstreckt.