Der Bundesrat hat in seiner 857. Sitzung am 3. April 2009 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat nimmt den Bericht der Kommission "Bessere Rechtsetzung 2007" zur Kenntnis. Er begrüßt, dass die Kommission seiner wiederholten Aufforderung nachgekommen ist und den 15. Bericht wieder vollständig auch in deutscher Sprache vorgelegt hat.
- 2. Der Bundesrat misst dem jährlichen Bericht angesichts fehlender weiterer Erkenntnisquellen auf EU-Ebene zur Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit grundlegende Bedeutung bei der Beurteilung der Reichweite beider Grundsätze in der EU-Rechtsetzungspraxis bei. Nach seiner Auffassung wird allerdings die vorliegende Fassung des Berichts dieser Bedeutung erneut weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht gerecht. Der Bundesrat ist daher der Ansicht, dass die Kommission auch mit dem 15. Bericht ihrer in Ziffer 9 des Protokolls Nummer 30 zum EGV verankerten Verpflichtung, jährlich über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit substantiell zu berichten, nicht hinreichend nachkommt.
- 3. Der Bundesrat erkennt zwar ausdrücklich an, dass die Kommission seiner Aufforderung vom 9. November 2007 (BR-Drucksache 390/07(B) ) nachgekommen ist, und sich im 15. Bericht vornehmlich auf die Berichterstattung zur Anwendung der Prinzipien von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit konzentriert hat. Allerdings hat dies nicht zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der Anwendung der beiden Grundsätze im Berichtszeitraum geführt. Er ersucht daher die Kommission erneut, im kommenden 16. Bericht der Darstellung der Entwicklungen und Fortschritte in diesem Bereich deutlich breiteren Raum als bisher einzuräumen. Er regt hierzu neben einer insgesamt umfassenderen Berichterstattung unter anderem an, im Rahmen der Darstellung konkreter Anwendungsfälle beider Grundsätze auch solche Praxisfälle aufzuführen, in denen Einwände im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip nicht aufgegriffen wurden. Dabei sollte der Bericht auch darüber Angaben enthalten, aus welchen Gründen die Kommission einen Subsidiaritätseinwand für unbeachtlich gehalten hat.
- 4. Zwar ist eine Auseinandersetzung mit den Einwänden der nationalen Parlamente aus Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgründen im Vergleich zum 14. Bericht zumindest in Ansätzen enthalten, allerdings könnte die inhaltliche Erörterung der Stellungnahmen der nationalen Parlamente noch deutlich verbessert werden. In Zukunft sollte es mit Hilfe des Berichts möglich sein, festzustellen, inwieweit und aus welchen Gründen die Kommission die jeweiligen Anregungen der nationalen Parlamente im Rahmen des weiteren Willensbildungsprozesses tatsächlich berücksichtigt hat. Der Bundesrat fordert daher die Kommission auf, bereits im kommenden 16. Bericht, entsprechend ihrer Ankündigung vom 9. April 2008 (vgl. BR-Drucksache 236/08 (PDF) ), jedoch spätestens nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, eine systematischen Wirkungsbewertung der Stellungnahmen der nationalen Parlamente vorzusehen.
- 5. Der Bundesrat begrüßt ausdrücklich, dass die Kommission mit der im Januar 2009 abgeschlossenen Überarbeitung ihrer Leitlinien für Gesetzesfolgenabschätzungen in Zukunft der Prüfung des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes breiteren Raum einräumen will. Abzuwarten bleibt allerdings, inwieweit eine derart verbesserte Folgenabschätzung dazu führen wird, dass Bedenken im Hinblick auf die Vereinbarkeit eines Vorschlags mit dem Subsidiaritätsprinzip im Rechtsetzungsverfahren auch tatsächlich aufgegriffen werden.
- 6. Der Bundesrat bedauert, dass die Kommission nicht seine Anregungen zur Konkretisierung des Prüfkatalogs für eine substantielle Subsidiaritätsprüfung aufgegriffen hat (vgl. Stellungnahme des Bundesrates vom 9. November 2007, BR-Drucksache 390/07(B) ). Es fehlen nach wie vor die gemäß Ziffer 4 des Protokolls Nummer 30 zum EGV geforderten qualitativen oder - soweit möglich - quantitativen Kriterien, auf denen die Feststellung, dass ein Gemeinschaftsziel besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden kann, beruhen muss. Damit bleibt auch in Zukunft in weiten Teilen offen, in welcher Weise die Kommission bei der Ausarbeitung eines konkreten Rechtsetzungsvorschlags dem Subsidiaritätsgedanken gerecht geworden ist.
- 7. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die Durchführung der Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen von Folgenabschätzungen die Kommission nicht von ihrer primärrechtlichen Verpflichtung nach Artikel 5 Absatz 2 EGV in Verbindung mit Ziffer 9 des Protokolls Nummer 30 zum EGV über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit befreit. Vielmehr bleibt die Kommission verpflichtet, das Ergebnis der Prüfung in die Begründung des jeweiligen Rechtsetzungsvorschlages mit einer nachvollziehbaren und angemessenen Darstellung aufzunehmen. Erst dadurch wird das Subsidiaritätsprinzip justiziabel.
- 8. Nach Auffassung des Bundesrates stellen detaillierte Ausführungen über die Vereinbarkeit eines Vorschlags mit den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit eine wesentliche Unterstützung für die nationalen Parlamente bei ihrer Prüfung dar, ob ein Rechtsetzungsvorschlag im Einklang mit dem Subsidiaritäts- und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip steht. Die nach wie vor häufig in Begründungen zu Rechtsetzungsvorschlägen wiederkehrenden pauschalen Ausführungen und abstrakten Rechtserwägungen zur Subsidiaritätsprüfung können hierfür keinen Ersatz bieten. Der Bundesrat fordert daher die Kommission auch im Hinblick auf die gesteigerten Anforderungen an die Begründung eines Rechtsetzungsvorschlags im Hinblick auf die Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auf, ihre primärrechtliche Verpflichtung deutlich besser als bisher zu erfüllen.
- 9. Der Bundesrat unterstreicht erneut die Bedeutung der seit September 2006 praktizierten direkten Einbindung der nationalen Parlamente in die europäische Politikgestaltung durch die Kommission. In diesem Zusammenhang begrüßt der Bundesrat ausdrücklich die Ankündigung der Kommission vom 6. Mai 2008 (KOM (2008) 237 endg.), das derzeitige System für den politischen Dialog mit den nationalen Parlamenten auch nach einem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon mit seinen förmlichen Rechten der nationalen Parlamenten in Form der Subsidiaritätsrüge und -klage beizubehalten.
- 10. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission dazu übergegangen ist, ihre Antworten auf die Stellungnahmen der nationalen Parlamente auch auf der elektronischen Plattform für den Informationsaustausch zwischen den Parlamenten, der IPEX-Website ("Interparliamentary EU Information Exchange"), zu veröffentlichen. Der Bundesrat würdigt IPEX als ein wichtiges Informationsforum für die nationalen Parlamente, um die Prüfung von Dokumenten der EU auf der Ebene der nationalen Parlamente und gegebenenfalls ihre Umsetzung in nationales Recht durch die nationalen Parlamente verfolgen zu können. Der Bundesrat sieht es dabei als unbedingt erforderlich an, die deutsche Sprache als weitere Systemsprache von IPEX neben Englisch und Französisch zu verankern.
- 11. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) nimmt bei der Auslegung und Überprüfung der Einhaltung des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips eine zentrale Rolle ein. Der Bundesrat stellt fest, dass der EuGH auch im Berichtszeitraum weiterhin keine EU-Maßnahme wegen Verletzung des Subsidiaritätsgrundsatzes aufgehoben hat. Anlass zu substantiellen Aussagen zum Subsidiaritätsprinzip dürfte der EuGH spätestens mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon mit der Einführung eines Klagerechts für nationale Parlamente haben, wenn Subsidiaritätsbedenken als einziger Klagegrund vor dem EuGH geltend gemacht werden.
- 12. Der Bundesrat vertritt die Auffassung, dass ein von einer EuGH-Kontrolle freier gesetzgeberischer Spielraum auf EU-Ebene hinsichtlich der Frage der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips nach Artikel 5 Absatz 2 EGV nicht besteht. Vielmehr hält der Bundesrat eine nicht nur auf eine Evidenzkontrolle beschränkte materielle Prüfung durch den EuGH zur Stärkung des Subsidiaritätsprinzips für geboten. Dies zeigen auch die verfassungsrechtlichen Erfahrungen in Deutschland mit der bestehenden konkurrierenden Gesetzgebung von Bund und Ländern (Artikel 72 Absatz 2 GG).
- 13. Der Bundesrat unterstreicht, dass für den Erfolg des nach dem Vertrag von Lissabon vorgesehenen "Subsidiaritätsfrühwarnsystems" ein europaweiter Konsens über das Verständnis von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit in der Praxis entwickelt werden muss. Dazu kann der EuGH wichtige Impulse liefern.
- 14. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.