850. Sitzung des Bundesrates am 7. November 2008
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU) und der Ausschuss für Kulturfragen (K) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat teilt die Ansicht der Kommission, dass der Förderung der Mehrsprachigkeit in Europa sowie der Schaffung eines Bewusstseins für den Wert der Sprachenvielfalt in der EU künftig ein verstärktes Augenmerk zukommen solle, und begrüßt daher die Ankündigung der Kommission, die Mehrsprachigkeit zu einem Querschnittsthema in der EU zu machen und im Rahmen des Arbeitsprogramms "Bildung und Ausbildung 2010" das Mandat der Arbeitsgruppe "Fremdsprachen" zu erweitern, um künftig alle Aspekte der Mehrsprachigkeit abzudecken.
- 2. Der Bundesrat sieht in dem von der Kommission in Aussicht gestellten Inventar bewährter Verfahren für das Sprachenlernen und -lehren einen europäischen Mehrwert, der als hauptsächliches Element eines vertieften Informations- und Erfahrungsaustauschs zum Bereich der Mehrsprachigkeit dazu geeignet sein kann, als Impuls für die Gestaltung von Politiken der Mitgliedstaaten im Bereich der Mehrsprachigkeit zu dienen.
- 3. Der Bundesrat bekräftigt seine Stellungnahme zu der von der Kommission im Jahr 2005 vorgelegten Mitteilung zu einer neuen Rahmenstrategie für Mehrsprachigkeit (BR-Drucksache 852/05(B) ) und weist nachdrücklich darauf hin, dass die Gemeinschaft den Mitgliedstaaten keine Vorgaben hinsichtlich der Gestaltung und der Inhalte der Bildungssysteme machen kann. Unabhängig von der fehlenden Kompetenz der Gemeinschaft, den Mitgliedstaaten Verpflichtungen im Bereich der Bildungspolitik aufzuerlegen, sieht der Bundesrat es zwar als wünschenswert an, dass die Bürgerinnen und Bürger in der EU neben ihrer Muttersprache zwei weitere Gemeinschaftssprachen beherrschen, hegt aber erhebliche Zweifel an der Machbarkeit einer breitenwirksamen mittel- oder langfristigen Umsetzung der vorgeschlagenen Konzeption einer persönlichen Adoptivsprache für große Teile der Bevölkerung in den EU-Mitgliedstaaten, da die intrinsische Motivation und berufliche Anforderung, in mehreren Fremdsprachen zu kommunizieren, nicht bei allen Bürgerinnen und Bürgern in der EU gleich vorhanden ist.
- 4. Daher sieht der Bundesrat für den Bereich der Erwachsenenbildung zwar die Notwendigkeit bedarfsabhängiger Nachqualifizierungsmaßnahmen von Arbeitnehmern, die für ihre Berufstätigkeit bzw. zur Schaffung besserer Perspektiven in ihrem Berufsfeld zusätzlich verbesserte oder weitere Fremdsprachenkenntnisse benötigen, kann aber der impliziten Kommissionsforderung, alle Bürgerinnen und Bürger in den EU-Mitgliedstaaten zu einer fremdsprachlichen Nachqualifizierung zu veranlassen, nicht nähertreten.
- 5. Hinsichtlich der von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen auf europäischer Ebene vermisst der Bundesrat einen aktuellen Sachstand zu der von der Kommission geplanten und von den Mitgliedstaaten gegenwärtig geprüften Schaffung eines Europäischen Sprachenindikators und bringt seine Skepsis in Bezug auf ein von der Kommission vorgeschlagenes Monitoring der Sprachkenntnisse der Bürger mittels Sprachenindikatoren (vgl. Nummer 4.2), das weit über die im Rahmen des künftigen Europäischen Sprachenindikators geplante Zielpopulation (Schüler der Sekundarstufe II) hinausginge, zum Ausdruck. In diesem Zusammenhang betont der Bundesrat seine Ablehnung der Schaffung neuer europäischer Durchschnittsbezugswerte (Benchmarks) im Bildungsbereich und spricht sich vorsorglich gegen die Schaffung eines fremdsprachliche Kenntnisse betreffenden europäischen Durchschnittsbezugswerts aus.
- 6. Der Bundesrat begrüßt zwar grundsätzlich den Kommissionsansatz, den Mobilitätsaspekt sowie die Unterstützung des Unterrichts in einer größeren Zahl von Fremdsprachen in den gemeinschaftlichen Programmen zu verstärken, bedauert jedoch, dass die Kommission keine konkreten Vorschläge zur Umsetzung dieser Ziele bzw. Ausführungen zu damit verbundenen etwaigen finanziellen Implikationen gemacht hat.
- 7. In diesem Zusammenhang besteht aus Sicht des Bundesrates ein klarer Vorrang für Maßnahmen, die den europäischen Bürgerinnen und Bürgern direkt zugute kommen. Der Bundesrat sieht daher die Kommissionsankündigung, ggf. alle zwei Jahre EU-Sprachenkonferenzen durchzuführen (vgl. Nummer 9 Abs. 4), kritisch und hält stattdessen die Erstellung regelmäßiger Sachstände durch Mitteilungen der Kommission für zweckmäßiger.
- 8. Der Bundesrat stellt fest, dass die Kommission einzelne, von ihr zu früheren Zeitpunkten unterbreitete konkrete Vorschläge für strategische Ziele und Schwerpunkte für einen effektiven Unterricht im fremdsprachlichen Bereich als "festgelegt" betrachtet und offenbar davon ausgeht, dass diese eine "Gültigkeit" für die Mitgliedstaaten entfalten (vgl. Nummer 6.1). Der Bundesrat betont, dass auf Grund der in Artikeln 149 und 150 EGV festgelegten enggefassten Zuständigkeiten der Gemeinschaft im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung gemäß Artikel 149 und 150 EGV keine von den Mitgliedstaaten zu implementierenden Maßnahmen von der Gemeinschaft erlassen werden können. Das betrifft im konkreten Fall etwaige Prioritätensetzungen zu Gunsten gewisser Fremdsprachen, der Anzahl der angebotenen Fremdsprachen oder des Angebots fremdsprachlichen Unterrichts im Bereich der Berufs- und Hochschulbildung. In diesem Zusammenhang kann der Bundesrat den Hinweis der Kommission, dass mit einer etwaigen Erweiterung des Sprachenangebots einhergehende organisatorische Herausforderungen durch den Einsatz neuer Technologien und Partnerschaften bewältigt werden könnten (vgl. Nummer 6.1), nicht nachvollziehen. Die Feststellung der Kommission, dass für den Unterricht in weniger verbreiteten Fremdsprachen "oft ungeschulte Mitarbeiter" (vgl. Nummer 6.2) eingesetzt würden, weist der Bundesrat für die Kultusbehörden der deutschen Länder zurück.
- 9. Der Bundesrat vermag den Mehrwert einer zusätzlichen Struktur im Bereich der Mehrsprachigkeit in Ergänzung zur Arbeitsgruppe "Fremdsprachen" in Form einer Plattform (vgl. Nummer 9 Abs. 2) nicht zu erkennen und stellt die richtungsweisende Funktion des Bildungsausschusses des Rates sowie des Bildungsministerrates heraus, die durch zusätzliche Strukturen nicht in Frage gestellt werden darf.
- 10. Die Förderung der Mehrsprachigkeit in der EU darf nicht als Argument dienen, die Verwendung der einzelnen Amtssprachen der EU einzuschränken. Der Bundesrat vermisst in diesem Zusammenhang detaillierte Ausführungen zur Situation der Mehrsprachigkeit in den EU-Institutionen und in den Beziehungen der Kommission mit den übrigen EU-Institutionen sowie mit den Bürgerinnen und Bürgern. Aus Sicht des Bundesrates ist ein stärkeres Bekenntnis der Union zur Sprachenpolitik nötig. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Internetauftritte, Veröffentlichungen und Übersetzungen entscheidungsrelevanter Dokumente sowie der Kontakt mit Unternehmen insbesondere im Hinblick auf Ausschreibungen.
- 11. Der Bundesrat nimmt mit Bedauern zur Kenntnis, dass die Kommission mit der vorliegenden Mitteilung die Mitgliedstaaten zu einem verstärkten Engagement im Bereich der Mehrsprachigkeit auffordert, selbst jedoch immer stärker auf Englisch als "lingua franca" zurückgreift. Die Kommission wird damit ihrer Vorbildfunktion im Bereich der Mehrsprachigkeit für Europa nicht gerecht. So besteht nach wie vor keine spürbare Bereitschaft der Kommission, ein einheitliches Vorgehen ihrer Dienststellen in Bezug auf die Mehrsprachigkeit insbesondere bei ihren Veröffentlichungen im Internet sicherzustellen. An den bestehenden Defiziten hat auch die 2007 von der Kommission angenommene "Strategie für die Kommunikation über das Internet" nichts geändert.
- 12. Der Bundesrat ist sich bewusst, dass die Kommunikation innerhalb der EU-Institutionen aus praktischen Gründen auch davon abhängig ist, welche Sprachkenntnisse bei den Mitarbeitern tatsächlich vorhanden sind. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die seit Jahren bewährte Durchführung von Deutsch-Intensiv-Sprachkursen für EU-Bedienstete durch das Auswärtige Amt in Zusammenarbeit mit den Ländern. Diese stellen einen wichtigen Anreiz für die Nutzung der deutschen Sprache im internen Arbeitsgebrauch der EU-Institutionen dar.
- 13. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die Verwendung der eigenen Sprache für die im Vertrag von Lissabon vorgesehene Stärkung der demokratischen Legitimation Europas insgesamt von herausragender Bedeutung ist. So ist sie für die Arbeit der nationalen Parlamente vor allem im Hinblick auf die neuen Verfahrensrechte im Rahmen des Subsidiaritätsfrühwarnsystems nach dem Vertrag von Lissabon unerlässlich. Vor allem im Hinblick auf die Beteiligung an den bevorstehenden Europawahlen im Juni 2009 sieht der Bundesrat den Erfolg einer bürgernahen, verständlichen europäischen Politik ganz wesentlich davon abhängig, dass sie in der jeweiligen Sprache und rechtzeitig zugänglich gemacht wird.
- 14. Der Bundesrat missbilligt, dass sich die Kommission entgegen ihrer Zusagen gegenüber Bundesrat und Deutschem Bundestag beharrlich weigert, das Konzept für ihre internen Übersetzungen und die Kommunikation mit anderen EU-Organen und Einrichtungen sowie mit den Mitgliedstaaten und Bürgerinnen und Bürgern (so genannte "Übersetzungsstrategie") an die Erfordernisse der Praxis anzupassen. Entgegen der Auffassung der Kommission (E-1359/08DE , Antwort von Kommissar Orban im Namen der Kommission vom 11. Juni 2008) bestehen aus Sicht des Bundesrates erhebliche Probleme, was den Bedarf an Übersetzungen ins Deutsche und deren fristgerechte Vorlage angeht. Der Bundesrat erneuert damit seine Kritik an der Praxis der Kommission, Übersetzungen auf "Kerndokumente" zu beschränken, dagegen andere Dokumente, die insgesamt für die Bewertung von Rechtsetzungsakten und politischen Prozessen ebenfalls von erheblicher Bedeutung sind, als Anhänge bzw. Arbeitspapiere der Kommissionsdienststellen zu deklarieren und somit grundsätzlich nur noch in der Ausgangssprache vorzulegen. Wichtige entscheidungsrelevante Informationen werden damit nur noch auf Englisch oder Französisch vorgelegt (vgl. die Entschließung bzw. Stellungnahme des Bundesrates vom 21. September bzw. 9. November 2007, BR-Drucksachen 472/07(B) bzw. 390/07(B) ).
- 15. Wiederholt sind beratungs- und entscheidungsrelevante EU-Dokumente der Kommission nicht vollständig oder erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung auch in der deutschen Sprachfassung vorgelegt worden. So wurde das Arbeitsprogramm der Kommission für das Jahr 2008 erst knapp drei Wochen nach Veröffentlichung in alle Amtssprachen und damit auch ins Deutsche übersetzt. Auch die Fortschrittsberichte der Kommission 2007 zu den Kandidatenländern und potentiellen Beitrittskandidaten des Westbalkans sind nicht ins Deutsche übersetzt worden. Lediglich informelle Übersetzungen der Berichte zu Kroatien und der Türkei waren auf Drängen von Bundesrat und Bundesregierung nach Wochen auch in deutscher Sprache verfügbar. Der Bundesrat sieht in der Vorlage informeller Übersetzungen durch die Kommission keinen adäquaten Ersatz, zumal nach den Durchführungsbestimmungen der Kommission zu ihrer Geschäftsordnung Deutsch zu den selbst gewählten Arbeitssprachen zählt.
- 16. In diesem Zusammenhang wird die Kommission daher aufgefordert, die für den 5. November 2008 angekündigten Fortschrittsberichte von Anfang an auch auf Deutsch vorzulegen. Sollte die Kommission diesem Ansinnen, wie bereits angekündigt, nicht nachkommen, so bittet der Bundesrat die Bundesregierung, eine inhaltliche Beratung über diese Dokumente so lange abzulehnen, bis eine offizielle deutsche Sprachfassung von der Kommission vorgelegt wird.
- 17. Unabhängig davon fordert der Bundesrat die Kommission erneut auf, Ihre Zusicherung aus 2007 zu erfüllen und ihre ungenügende Übersetzungspraxis umfassend zu reformieren. Dabei sind die nationalen Parlamente in einem transparenten Verfahren zu beteiligen.
- 18. Auch im Rahmen der Dolmetschungspraxis beobachtet der Bundesrat mit Sorge die Entwicklungen beim Gebrauch der so genannten Relaissprachen. Er bittet die EU-Institutionen, keine Veränderungen zu Lasten der EU-Arbeitssprache Deutsch zuzulassen.
- 19. Der Bundesrat kritisiert die Darstellung der Kommission, wonach die angeblich nur begrenzt zur Verfügung stehenden Ressourcen in personeller und finanzieller Hinsicht sie daran hindere, Verbesserungen an der gegenwärtigen Übersetzungspraxis vorzunehmen. Solange sich die Kommission weigert, aussagekräftige Daten über die derzeitige Mittelverwendung für Übersetzungsleistungen vorzulegen, um Bedarf, Nachfrage und Übersetzungsleistung besser beurteilen zu können, kann der behauptete zusätzliche Personal- und Finanzbedarf nicht glaubhaft nachvollzogen werden.
- 20. Der Bundesrat erneuert daher seine Bitte gegenüber der Bundesregierung, dem Einzelplan für die Kommission im Haushaltsverfahren für 2009 erst dann zuzustimmen, wenn die Kommission die gegenwärtige Mittelverwendung für die Übersetzungsleistungen exakt aufschlüsselt und gegebenenfalls den von ihr veranschlagten Mehrbedarf für Übersetzungsleistungen exakt benennt (Stellungnahme des Bundesrates vom 14. März 2008, BR-Drucksache 134/08(B) ).
- 21. Allerdings weist der Bundesrat bereits jetzt darauf hin, dass ein etwaiger zusätzlicher Bedarf an Ressourcen für Übersetzungsleistungen nur durch ausgabenneutrale Umschichtungen innerhalb der Rubrik 5 des EU-Haushalts zu decken ist.
- 22. Der Bundesrat verkennt nicht, dass auch die signifikante Zunahme der Amtssprachen der EU im Zuge der seit Mai 2004 erfolgten Beitritte von zwölf neuen Mitgliedstaaten zur EU zu einer stärkeren Inanspruchnahme von Übersetzungsleistungen geführt hat. Der Bundesrat ruft in diesem Zusammenhang die Bundesregierung auf, sich bereits im Vorfeld einer Erweiterung des Kreises der bislang 23 Amtssprachen für praxisgerechte Lösungen einzusetzen. Ansonsten wird sich die EU bei der Übersetzungsfrage noch weit aus größeren Problemen in personeller, finanzieller und organisatorischer Hinsicht gegenübersehen.
- 23. Der Bundesrat unterstützt die Förderung und Bewahrung von Minderheiten- und Regionalsprachen in den Staaten der EU. Allerdings hat der Bundesrat Bedenken gegen die institutionelle Anerkennung von Minderheitensprachen auf europäischer Ebene, wie sie zuletzt vom Ausschuss der Regionen auf seiner Sitzung am 18./19. Juni 2008 gefordert wurde (CdR 6/2008 fin, Nummer 37). Hier sind vermittelnde Ansätze zu suchen. So kann der Abschluss von Verwaltungsvereinbarungen zwischen einzelnen Mitgliedstaaten und europäischen Institutionen, wie zuletzt zwischen dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland und dem Rat der EU im Juni 2008 geschehen (Ratsdokument 10887/08), dabei helfen, den offiziellen Gebrauch von Sprachen, die nicht unter die Verordnung (EWG) Nr. 1/1958 fallen, auf Kosten des antragstellenden EU-Mitgliedstaates in einzelnen EU-Institutionen zu ermöglichen.
- 24. Der Bundesrat erkennt an, dass es weltweit verbreitete EU-Amtssprachen gibt. Dies darf jedoch nicht dazu führen, dass hieraus Prioritäten für den Gebrauch dieser Sprachen bei Veröffentlichungen und in den Institutionen und Einrichtungen der Gemeinschaft abgeleitet werden. Der Grundsatz der Gleichwertigkeit aller offiziellen Amtssprachen darf nicht aufgeweicht werden.
- 25. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.