Der Bundesrat hat in seiner 904. Sitzung am 14. Dezember 2012 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Das Ziel, Menschen zu unterstützen, die von gravierender materieller Armut betroffen oder bedroht sind, ist grundsätzlich zu begrüßen.
- 2. Der Bundesrat sieht - auch mit Blick auf das Armutsziel der Europa-2020- Strategie - den Anstieg der von Armut bedrohten Personen in vielen Mitgliedstaaten der EU in den vergangenen Jahren insbesondere in Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise mit Sorge. Er erachtet Maßnahmen für Wachstum und Beschäftigung für erforderlich, um Menschen nachhaltig aus Armut und sozialer Ausgrenzung zu befreien.
- 3. Der Bundesrat hält es für richtig, dass in der aktuellen Situation auch auf europäischer Ebene Überlegungen angestellt werden, wie Armut und soziale Ausgrenzung nachhaltig bekämpft werden können. Aus Sicht des Bundesrates ist jedoch unter anderem fraglich, ob es sich bei dem EU-Hilfsfonds um ein zur Armutsbekämpfung taugliches Instrument handelt.
- 4. Der Bundesrat weist darauf hin, dass Artikel 175 Absatz 3 AEUV zum Erlass von Maßnahmen des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts ermächtigt, falls diese sich als erforderlich erweisen. Er macht darauf aufmerksam, dass die Erforderlichkeit einer Maßnahme nur bejaht werden kann, falls sie zumindest geeignet erscheint, das erstrebte Ziel zu erreichen, im vorliegenden Fall also Menschen aus der Armut zu befreien und so dem Ziel der Europa-2020-Strategie näher zu kommen.
Es bestehen insbesondere Bedenken, ob der Hilfsfonds zu einer nachhaltigen Bekämpfung von Armut geeignet ist, da er im Wesentlichen punktuelle materielle Hilfe, in Form von Nahrungsmitteln oder grundlegenden Konsumgütern, leisten soll. Insoweit bedarf es aus Sicht des Bundesrates ergänzender Erläuterungen, wie der Hilfsfonds durch die Leistung in erster Linie punktueller materieller Hilfe in der genannten Form dieses Ziel erreichen will. Es ist fraglich, inwieweit eine solche kurzfristige Unterstützung - selbst wenn sie durch Maßnahmen, die die soziale Integration unterstützen, flankiert wird - dazu führt, dass sich die unterstützten Personen nach Leistungserbringung in einer besseren Ausgangssituation befinden als zuvor.
Demgegenüber sollte es das Bestreben der EU sein, den Mitgliedstaaten zu helfen, Abhängigkeiten, die durch das bisherige Nahrungsmittelhilfeprogramm geschaffen wurden, abzubauen. Statt direkter Essensverteilung sollte strukturelle Hilfe und eine auf Prävention angelegte Unterstützung der Ärmsten geboten werden. Um tatsächlich Menschen nachhaltig aus der Armut zu befreien, sollten sinnvollerweise umfassendere Maßnahmen ergriffen werden. Dies ist insbesondere über den Europäischen Sozialfonds (ESF) möglich. Auf diese Weise würde auch die Gefahr verringert, dass nationale Gelder im Bereich der Armutsbekämpfung durch EU-Mittel ersetzt werden und so neue Abhängigkeiten entstehen können.
- 5. Der Bundesrat stellt fest, dass die EU keine allgemeine Zuständigkeit für Armutsbekämpfung besitzt. Deshalb sieht er im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip mit Sorge, dass mit dem Hilfsfonds über die EU soziale Hilfen gewährt werden sollen, obwohl die Gewährung von sozialen Hilfen grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten ist und von den Mitgliedstaaten effektiver und erfolgreicher betrieben werden kann. Er gibt zu bedenken, dass die sozialen Systeme in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU aufgrund der unterschiedlichen nationalen Sozialgesetzgebungen unterschiedlich ausgestaltet sind und nur der jeweilige Mitgliedstaat mit den spezifischen Gegebenheiten des eigenen Systems vertraut ist. Nur der einzelne Mitgliedstaat kann am jeweils eigenen System ansetzen und Maßnahmen einführen, die individuell passend sind. Der Bundesrat ist deshalb der Auffassung, dass soziale Hilfen besser auf mitgliedstaatlicher Ebene gewährt werden. Einen Mehrwert durch eine Finanzierung über einen neuen europäischen Fonds sieht er nicht.
- 6. Die Aussage der Kommission, dass angesichts des Ausmaßes der Armut und sozialen Ausgrenzung in der Union und der inakzeptablen Unterschiede Maßnahmen auf EU-Ebene notwendig seien, trägt aus Sicht des Bundesrates nicht. Auch die Tatsache, dass es sich beim Hilfsfonds um eine europäische Finanzierung handelt, die von den Mitgliedstaaten nur zu einem geringen Anteil kofinanziert werden muss, ändert an dieser Einschätzung nichts. Eine zu weite Auslegung des Begriffs des "europäischen Mehrwerts" könnte die Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten unterlaufen und die politischen Spielräume der Mitgliedstaaten zu sehr einengen. Finanzmittel erzeugen jedenfalls nicht schon aufgrund der Tatsache, dass sie aus dem EU-Haushalt stammen, einen europäischen Mehrwert.
- 7. Der Bundesrat kritisiert, dass der Kommissionstext im Hinblick auf die Frage, wer konkret mithilfe des Fonds unterstützt werden soll, äußerst unklar ist. Aus der Formulierung in Artikel 4 des Verordnungsvorschlages wird nicht deutlich, ob Kinder sowie obdachlose Personen nur als Beispiel für am stärksten von Armut betroffene Personen genannt werden oder ob ausschließlich Kinder und obdachlose Personen unterstützt werden sollen, weil diese in der Regel die am stärksten von Armut betroffenen Personen sind.
- 8. Der Bundesrat gibt zu bedenken, dass für die Umsetzung des neuen Hilfsfonds, ähnlich wie bei den Strukturfonds, ein umfassendes Verwaltungs- und Kontrollsystem aufzubauen ist. Die mit dem Verordnungsvorschlag geforderte Begleitung der Förderprogramme durch nationale Verwaltungs-, Bescheinigungs- und Auditbehörden dürfte neben den Anforderungen eines professionellen Monitorings und umfassender Evaluationen einen erheblichen Verwaltungsmehraufwand bedeuten. Die vorhandenen Verwaltungsstrukturen können die neue Aufgabe nicht vollumfänglich abdecken. Dies wird insbesondere mit Blick auf das relativ geringe Finanzvolumen des Hilfsfonds als unverhältnismäßig eingestuft. Es ist zu befürchten, dass der verwaltungsseitige Aufwand den erhofften Nutzen erheblich relativieren wird.
- 9. Der Bundesrat weist darauf hin, dass der ESF ein wichtiges Instrument bei der Armutsbekämpfung darstellt. Der ESF fördert hohe Beschäftigungsniveaus, begünstigt dadurch die soziale Eingliederung und bekämpft auf diese Weise nachhaltig die Armut. Im Gegensatz zum EU-Hilfsfonds ist der ESF zudem in Artikel 162 AEUV gesetzlich verankert. Vor diesem Hintergrund ist es aus Sicht des Bundesrates nicht zu rechtfertigen, Mittel aus dem ESF für den Hilfsfonds zu verwenden. Der Bundesrat bittet, dafür Sorge zu tragen, dass der Verordnungstext zumindest eine Option für die Mitgliedstaaten zur Teilnahme an dem Fonds vorsieht, mit der Folge, dass bei Nicht-Teilnahme den Mitgliedstaaten die vorgesehenen ESF-Mittel in voller Höhe erhalten bleiben.
- 10. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die Kommission die geplante Einführung des Hilfsfonds insbesondere mit der Tatsache begründet, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise zu einem Anstieg von Armut und sozialer Ausgrenzung geführt hat. Mehr denn je sei der soziale Zusammenhalt durch finanzielle Zwänge gefährdet. Vor dem Hintergrund der krisenbedingten Einführung erwartet der Bundesrat, dass der Kommissionsvorschlag zumindest eine zeitliche Befristung enthält.
- 11. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.