Der Bundesrat hat in seiner 815. Sitzung am 14. Oktober 2005 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich alle Bemühungen der Kommission, die praktische polizeiliche Zusammenarbeit insbesondere an den Binnengrenzen der EU weiter zu verbessern und noch bestehende Hindernisse bei der Zusammenarbeit, der Abstimmung von Maßnahmen, beim Informationsaustausch sowie bei der grenzüberschreitenden Observation und Nacheile abzubauen.
- 2. Der Bundesrat ist jedoch der Auffassung, dass der Vorschlag der Kommission für einen Beschluss des Rates zur "Verbesserung der polizeilichen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, vor allem an den Binnengrenzen, und zur Änderung des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen" den Anforderungen an eine effektive grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit nicht in dem gebotenen Umfang Rechnung trägt.
- 3. Der Bundesrat verweist hierzu auf den von den Innenministern und -senatoren der Länder veröffentlichten Bericht der Bund-Länder-Projektgruppe "Umsetzung und Ausgestaltung des Haager Programms" (Anlage zu Nummer 3 der zur Veröffentlichung freigegebenen Beschlüsse der 178. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren vom 24. Juni 2005), in dem unter Ziffer 2.2 alle aus Ländersicht notwendigen Punkte für eine umfassende Fortentwicklung der operativen polizeilichen Zusammenarbeit in der EU und insbesondere auch im Schengen-Rahmen aufgeführt sind.
- 4. Der Bundesrat stellt ferner fest, dass die Einrichtung eines Ausschusses gemäß Artikel 10 des Beschlussvorschlags weder erforderlich noch sinnvoll ist.
Vielmehr besteht die Gefahr, dass ihm in Zukunft weitere Zuständigkeiten für die Koordinierung der originär in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten liegenden polizeilichen Zusammenarbeit zuerkannt werden sollen (vgl. Artikel 1 Abs. 1 des Beschlussvorschlags). Daneben ist der geplante Vorsitz der Kommission in diesem für Fragen der 3. Säule zuständigen Ausschuss nicht akzeptabel (vgl. Artikel 10 Abs. 1 des Beschlussvorschlags). Auch die weitere Ausgestaltung der Behandlung von Entwürfen des Ausschusses für zu treffende Maßnahmen führt zu einem faktischen Ungleichgewicht zu Lasten des Rates und damit der Mitgliedstaaten (nach Artikel 10 Abs. 6 Unterabs. 3 des Beschlussvorschlags kommen Durchführungsrechtsakte der Kommission bereits zustande, wenn sich der Rat nicht oder nicht fristgerecht gegen sie ausspricht). Diese Regelung würde damit der im Titel VI des EUV festgelegten Stellung der Kommission zuwiderlaufen.
- 5. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, sich bei den Beratungen des Beschlussvorschlags für die entsprechenden Änderungen einzusetzen.
- 6. Ungeachtet seiner grundsätzlichen Positionen sieht der Bundesrat folgenden Änderungsbedarf im Detail:
- - Generell sollte der Beschluss nicht nur von bilateralen Kooperationen (vgl. Artikel 6 Abs. 1, Artikel 8 Abs. 1, Artikel 9 Überschrift) ausgehen. Vielmehr kommen insbesondere dort, wo die Grenzen mehrerer Mitgliedstaaten zusammenstoßen, auch mehrseitige Kooperationsformen in Betracht.
- - Die Definition der "Grenzregion" gemäß Artikel 2 Buchstabe b des Beschlussvorschlags gewährleistet keine hinreichend praktikable Bestimmung der "Grenzregion" im Sinne des Beschlusses. Um eine eindeutige Regelung zu schaffen wird vorgeschlagen, Artikel 2 Buchstabe b wie folgt zu formulieren: " 'Grenzregion': in jedem Fall das bis zu 50 km von der Grenze entfernte Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats; die Mitgliedstaaten können eine weitergehende Definition ihrer Grenzregionen vornehmen und zeigen dies gegenüber der Kommission und dem Rat unverzüglich an."
- 7. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich die Bemühungen zur Verbesserung des Informationsaustauschs zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten.
- 8. Im Zusammenhang mit dem in Artikel 3 Abs. 1 des Beschlussvorschlags vorgesehenen unmittelbaren Informationsaustausch zwischen den Polizeibehörden verweist der Bundesrat auf die Stellungnahme der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister im Umlaufverfahren vom März 2005 zum Aktionsplan Haager Programm. Danach dürfen europäische Vorgaben nicht zu einer Änderung oder Beeinträchtigung der innerstaatlichen präventiven und repressiven Zuständigkeiten führen.
- 9. Die Ausklammerung der Justizbehörden nach Artikel 2 Buchstabe c ist nicht sachgerecht. Der vorgeschlagene Beschluss novelliert in Teilen das Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) im Titel III Kapitel 1. Dies berührt aber - nicht nur in Deutschland - zumindest teilweise die Sachleitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft und insgesamt die Regelungen der internationalen Rechtshilfe. Die Sachleitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft im Bereich der Strafverfolgung und die justiziellen rechtshilferechtlichen Entscheidungsbefugnisse, auch außerhalb anhängiger innerstaatlicher Ermittlungs- und Strafverfahren, müssen gewährleistet bleiben. In vielen Mitgliedstaaten der EU ist die Informationsweitergabe i. S. v. Artikel 3 des vorgeschlagenen Beschlusses Sache der Justiz, wobei teilweise von vornherein ein justizielles Rechtshilfeersuchen verlangt wird. Soweit sich der Informationsaustausch auf Strafverfolgungsdaten aus anhängigen Ermittlungs- oder Strafverfahren bezieht, kommt eine Übermittlung regelmäßig nur auf der Grundlage einer justiziellen Entscheidung in Betracht. Durch die Übermittlung dürfen zudem die Verfahrensrechte der Betroffenen weder ausgehöhlt noch beeinträchtigt werden.
Soweit - abweichend von den weiterhin geltenden einschlägigen rechtshilferechtlichen Regelungen - Informationen im so genannten Diagonalverkehr unmittelbar zwischen einer Polizeibehörde des einen und einer Justizbehörde des anderen Staats ausgetauscht werden, ist sicherzustellen, dass die bis dahin nicht beteiligte Justizbehörde unverzüglich unterrichtet wird.
Die Eingangsformulierung des Artikels 3 Abs. 1 des Beschlussvorschlags ist zudem missverständlich, weil nicht ausreichend deutlich wird, dass bei dem vorgesehenen Informationsaustausch die sich aus Artikel 39 Abs. 1 und 2 SDÜ ergebenden Beschränkungen zu beachten sind.
- 10. Der Bundesrat sieht ferner folgenden Änderungsbedarf im Detail:
- - Artikel 3 Abs. 3 und Artikel 10 des Beschlussvorschlags sollten gestrichen werden. Eine Notwendigkeit, eine EU-weite genauere Bestimmung der Informationen, die zur Verfügung gestellt werden können, der Zugangsmodalitäten und der Übermittlungskanäle entsprechend dem Komitologieverfahren vorzunehmen, ist sowohl unter Subsidiaritätsgesichtspunkten als auch nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht erkennbar. Genauere Abstimmungen dieser Fragen sollten entsprechend den Bedürfnissen und Möglichkeiten in den einzelnen Grenzregionen vorgenommen werden.
- - Bezüglich Artikel 6 Abs. 1 sollte klargestellt werden, dass es sich bei den "permanenten Kooperationsstrukturen" nicht um eine zentrale bilaterale Stelle für jede Binnengrenze handelt. Gerade die Erfahrungen einiger Länder zeigen, dass auch dezentrale und multilaterale Strukturen eine geeignete Form der Kooperation bilden können.
- - In Artikel 6 Abs. 2 sollten die Wörter "und überwachen" gestrichen werden. Die Überwachung der in Artikel 3, 4 und 5 vorgesehenen Maßnahmen kann nicht vorrangig Aufgabe der Koordinierungsstrukturen sein, sondern ist den zuständigen Dienst- und Fachaufsichtsbehörden vorbehalten.
- - Die in Artikel 8 Abs. 1 vorgesehenen regelmäßigen bilateralen Evaluierungen sollten entfallen, um keine überzogenen Evaluierungs- und Berichtspflichten zu schaffen. Eine Mitwirkung der Mitgliedstaaten an der Erstellung des Berichts der Kommission gemäß Absatz 2 ist ausreichend. Dadurch kann sichergestellt werden, dass die Evaluierungen, z.B. an Hand eines Fragebogens der Kommission, nach einheitlichem Muster erfolgen.
- - Die für Artikel 40 und 41 SDÜ vorgesehene Regelung: "...Gefängnisstrafe oder einen Freiheitsentzug von mindestens zwölf Monaten geben kann, ..." ist zumindest missverständlich. Sofern tatsächlich eine Mindeststrafandrohung von zwölf Monaten gemeint ist, also nach deutschem Recht die Verbrechenstatbestände, so wäre dies als zu restriktiv abzulehnen. Gemeint sein sollte eine Mindesthöchststrafe von zwölf Monaten, worunter nach deutschem Recht alle Straftaten zumindest nach dem Strafgesetzbuch fallen.
In Artikel 11 Nr. 2 sollte unter einem neuen Buchstaben b der Artikel 41 Abs. 1 Satz 2 wie folgt ergänzt werden: "Gleiches gilt, wenn die verfolgte Person sich in Untersuchungs- oder Strafhaft befand und aus der Haft geflohen ist oder sich aus ansonsten nicht bekannten Gründen einer polizeilichen Kontrolle zu entziehen versucht." Diese Regelung entspräche den bilateralen Verträgen Deutschlands mit Österreich und den Niederlanden.