Punkt 11 der 875. Sitzung des Bundesrates am 15. Oktober 2010
Der Bundesrat möge zu dem Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes wie folgt Stellung nehmen:
I. Der Bundesrat lehnt den vorliegenden Gesetzentwurf aus folgenden Gründen ab:
- a) Der Gesetzentwurf gefährdet die Grundlagen der Gesetzlichen Krankenversicherung, indem er das Grundprinzip der solidarischen Finanzierung aufgibt.
- b) Der Gesetzentwurf verpasst den wichtigen Einstieg in eine gerechte Lastenverteilung, da andere Einkommensarten wie Miet- und Kapitaleinkünfte nicht in die Feststellung der Anspruchsberechtigung einfließen.
- c) Der Gesetzentwurf trägt zur Spaltung unserer Gesellschaft bei, indem die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zukünftig allein die Lasten steigender Gesundheitsausgaben tragen. Dies ist sozial ungerecht und hemmt die volkswirtschaftliche Entwicklung.
- d) Der Gesetzentwurf verschärft das soziale Ungleichgewicht, da er kleine Einkommen mehr belastet als große. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bzw. Rentnerinnen und Rentner mit einem Einkommen in Höhe von 800 Euro werden bei einem Zusatzbeitrag in Höhe von 16 Euro mit 10,2 Prozent ihres Einkommens zur Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung herangezogen - ein Anstieg um 29 Prozent gegenüber heute -, während Personen mit einem Einkommen an der heutigen Beitragsbemessungsgrenze nur 8,6 Prozent ihres Einkommens für den Krankenversicherungsschutz aufwenden müssen.
- e) Der Gesetzentwurf vermindert angesichts der zusätzlichen finanziellen Belastungen vor allem für Geringverdiener die Attraktivität sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Das ist arbeitsmarkt- und sozialpolitisch kontraproduktiv.
- f) Der Gesetzentwurf hat sozialpolitisch absurde Folgen, wenn Personen mit sehr hohen Kapitaleinkünften bei geringem sozialversicherungspflichtigem Einkommen einen "Sozialausgleich" beanspruchen können. Zudem können sogar Versicherte, die gar keinen Zusatzbeitrag zahlen oder sogar eine Beitragserstattung erhalten, unter bestimmten Umständen einen Sozialausgleich beanspruchen.
- g) Der Gesetzentwurf setzt die Klientelpolitik der Bundesregierung fort, indem er die Private Krankenversicherung zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung stärkt. Durch den erleichterten Wechsel in die Private Krankenversicherung bereits nach einmaligem Überschreiten der Jahresarbeitsentgeltgrenze gehen der Gesetzlichen Krankenversicherung einkommensstarke Versicherte und damit Finanzmittel in beträchtlichem Umfang verloren. Auch daher kann von einer nachhaltigen Reform der Finanzierung nicht die Rede sein. Nicht zuletzt mindert auch die Ausweitung der Zusatzbeiträge die Attraktivität der gesetzlichen Krankenkassen für freiwillig Versicherte.
- h) Der Gesetzentwurf schafft mehr Bürokratie, da die Ausweitung der Zusatzbeiträge und die Umsetzung eines "Sozialausgleichs" den Verwaltungsaufwand für Arbeitgeber, Krankenkassen und Bürgerinnen und Bürger erhöhen.
- i) Der Gesetzentwurf ist ein Schuldenaufbauprogramm, da die Finanzierung des "Sozialausgleichs" bereits kurzfristig, vor allem aber langfristig nicht gesichert ist. Weder wird deutlich, wie sich der Mittelbedarf für den Sozialausgleich bei steigenden Gesundheitsausgaben entwickelt, noch ist geregelt, wie die Mittel aufgebracht werden können. Es ist angesichts eines nach internationalen Erfahrungen stark steigenden Mittelbedarfs und der Verpflichtung zur Schuldenbremse zu erwarten, dass der dann notwendige Steuerzuschuss nicht bewältigt werden kann und die Belastungen der Versicherten weiter steigen werden.
- j) Der Gesetzentwurf ist eine reine Kostendämpfungsmaßnahme, die keine strukturverbessernden und effizienzsteigernden Wirkungen entfaltet. Er belastet die Leistungserbringer in unterschiedlichem Maße und gefährdet im Zuge eines drohenden Personalabbaus die Qualität der Patientenversorgung in den Krankenhäusern.
- k) Der Gesetzentwurf liefert keine Lösung für schon bestehende und absehbar wachsende Probleme der Primärversorgung besonders im ländlichen Raum. Er trägt nicht dazu bei, die hausärztliche Versorgung zu stärken.
II. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, unverzüglich einen neuen Gesetzentwurf vorzulegen.
Dabei
- a) ist sicherzustellen, dass der Charakter der Gesetzlichen Krankenversicherung als ein bundesweites Solidarsystem erhalten bleibt,
- b) ist das System der Zusatzbeiträge in ein für Versicherte und Krankenkassen praktikables und gerechtes System zu überführen und generell zur paritätischen Finanzierung zurückzukehren,
- c) muss von der Einführung einer unsozialen Kopfpauschale Abstand genommen und am System einkommensabhängiger Beiträge grundsätzlich festgehalten werden,
- d) sind neue finanzielle Risiken und Belastungen für die Gesetzliche Krankenversicherung sowohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite zu vermeiden,
- e) sind neue bürokratischen Lasten für alle Beteiligten im Gesundheitswesen zu vermeiden; dazu zählen besonders Maßnahmen, die die Verwaltungsausgaben der gesetzlichen Krankenkassen automatisch in die Höhe treiben, wie zum Beispiel der Sozialausgleich und die vorgesehene Einzelkontenführung für Zusatzbeiträge,
- f) muss am Sachleistungsprinzip, das sich zum Schutz der Versicherten vor finanzieller Überforderung bewährt hat, festgehalten werden,
- g) ist am morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich festzuhalten, um auch zukünftig gleiche Wettbewerbschancen der Krankenkassen unabhängig von ihrer Versichertenstruktur zu gewährleisten,
- h) ist auf Klientelpolitik zugunsten der Privaten Krankenversicherung und bestimmter Leistungserbringer zu verzichten,
- i) sind die Voraussetzungen für die Schaffung eines einheitlichen Versicherungsmarktes und für die Verbreiterung der Einnahmenbasis der Krankenkassen im Sinne einer Bürgerversicherung zu schaffen,
- j) sind auch Regelungen aufzunehmen, die - ergänzend zu bereits gegangenen Schritten - zu einer Sicherung einer bedarfsgerechten hausärztlichen Versorgung auch in der Fläche beitragen, denn diese dulden keinen Zeitaufschub,
- k) muss der Bedeutung der gesundheitlichen Prävention für die Sicherung einer nachhaltigen Finanzierbarkeit der Gesetzlichen Krankenversicherung angemessen Rechnung getragen werden.
Begründung:
Der Gesetzentwurf verfehlt das Ziel einer nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung. Deshalb wird der Gesetzentwurf abgelehnt und die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Gesetzliche Krankenversicherung auf eine solide finanzielle Basis stellt und zugleich eine sozial gerechte Lastenverteilung sicherstellt. Eine Abkehr von der solidarischen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung, die sich über Jahrzehnte bewährt hat und auch im internationalen Umfeld als Vorbild dient, darf es dabei nicht geben.