Punkt 23 der 902. Sitzung des Bundesrates am 2. November 2012
Der Bundesrat möge zu der Vorlage gemäß Artikel 12 Buchstabe b EUV wie folgt Stellung nehmen:
- 1. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass der Vorschlag mit dem Subsidiaritätsprinzip nicht in Einklang steht. Denn nach Artikel 5 Absatz 3 EUV darf die EU in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig werden, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahme von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Unionsebene zu verwirklichen sind.
- 2. Die Stärkung der Aufsicht über den Bankensektor ist ein wichtiger Schritt zur Überwindung der gegenwärtigen Krise und zur Vermeidung neuer Krisen. Die zentrale Beaufsichtigung sämtlicher Kreditinstitute in der Eurozone durch die EZB wird jedoch abgelehnt. Um einen europäischen Mehrwert zu schaffen, muss sich die Aufsicht der EZB auf große systemrelevante und grenzüberschreitend tätige Kreditinstitute beschränken. Die Beaufsichtigung von national agierenden, nicht systemrelevanten Kreditinstituten verstößt aus folgenden Gründen gegen das Subsidiaritätsprinzip des Artikels 5 Absatz 3 EUV:
- 3. Der Verordnungsvorschlag legt nicht ausreichend dar, warum Kreditinstitute in der Eurozone nicht ausreichend auf nationaler Ebene beaufsichtigt werden können und daher die Beaufsichtigung sämtlicher Kreditinstitute auf Unionsebene zu verwirklichen ist. Die Kommission beschränkt sich auf sehr knappe und äußerst pauschal gehaltene Ausführungen.
- 4. Unter Hinweis auf die Finanzkrise, die Ziele der Verordnung, die unionsweite Struktur des Bankensektors und die Auswirkungen von Bankeninsolvenzen führt die Kommission aus, dass eine europäische Bankenaufsicht notwendig sei. Die Kommission legt nicht dar, inwieweit eine europäische Bankenaufsicht die Probleme der letzten Jahre im Bankensektor im Gegensatz zur nationalen Aufsicht verhindert hätte und wie sie in Zukunft konkret Störungen der Finanzstabilität durch eine europäische Aufsicht verhindern will.
- 5. Die Begründung für die Einbeziehung auch der nur national agierenden, nicht systemrelevanten Kreditinstitute erschöpft sich ebenfalls in der formelhaften Darlegung, dass die jüngste Vergangenheit gezeigt habe, dass auch von kleineren Banken Risiken für die Finanzstabilität ausgehen können. Diese Aussage ist in dieser Allgemeinheit nicht richtig. Sollte sich die Kommission auf Probleminstitute in einzelnen Mitgliedstaaten wie z.B. Bankia, Dexia oder Northern Rock beziehen, sollte dies differenziert dargelegt werden. Denn die nationale Aufsicht in Deutschland wie auch in anderen EU-Mitgliedstaaten über die "kleineren" bzw. regional tätigen Kreditinstitute hat auch in der Krise funktioniert und sich aufgrund der Kenntnisse über Problemstellungen bei den Kreditinstituten vor Ort grundsätzlich bewährt.
- 6. Darüber hinaus geht der Hinweis auf die unionsweite Struktur des Bankensektors fehl. Die Strukturen im europäischen Bankensektor können nicht pauschal miteinander verglichen werden. Die diversifizierten nationalen Bankenstrukturen legen es nahe, dass eine umfassende europäische Aufsicht nicht dazu geeignet ist, die bisherigen Aufsichtsstrukturen über nur national agierende, nicht systemrelevante Banken zu ersetzen. Die Bankenaufsicht in Deutschland wird von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) sowie der Deutschen Bundesbank wahrgenommen. In diesem "dualen Aufsichtssystem" erfolgt ein Großteil der operativen Aufsichtstätigkeit durch die Hauptverwaltungen der Deutschen Bundesbank. Die dezentralen Strukturen der Bankenaufsicht in Deutschland sind ein Spiegelbild der von einer Vielzahl von kleinen und mittleren Kreditinstituten geprägten Bankenlandschaft und haben sich in der Krise grundsätzlich bewährt. Der Erhalt dieser dezentralen bzw. regionalen Banken- und Bankaufsichtstrukturen wird durch die hohe Bedeutung der Regionalbanken für die Finanzierung von mittelständischen Unternehmen evident. Die bestehenden Strukturen der Bankenaufsicht in Deutschland erscheinen durchweg besser geeignet, die in dem Verordnungsvorschlag genannten Zielsetzungen zu erreichen. Die Möglichkeit der Rück-Delegation von bestimmten Befugnissen auf die nationalen Aufseher schließt eine Subsidiaritätsverletzung nicht aus.
- 7. Eine umfassende europäische Aufsicht birgt vor allem die Gefahr der Marktferne. Besonders bedenklich ist es daher, dass die Kommission bei diesem bedeutenden Vorhaben aus Zeitgründen keine förmliche Folgenabschätzung vorgenommen hat.
- 8. Der Verordnungsvorschlag ist nach Auffassung des Bundesrates nicht von der Ermächtigungsgrundlage des Artikels 127 Absatz 6 AEUV gedeckt. Denn der EZB sollen nicht nur besondere Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute übertragen werden. Gemäß Artikel 4 des Verordnungsvorschlags und der Verordnungsbegründung erhält die EZB für sämtliche Kreditinstitute, die in den Mitgliedstaaten niedergelassen sind, die ausschließliche Zuständigkeit für zentrale Aufsichtsaufgaben. Sie wird zur zentralen europäischen Bankenaufsichtsbehörde umgestaltet.
- 9. Damit wird die in Artikel 127 Absatz 6 AEUV festgelegte Kompetenzverteilung zwischen besonderer (europäischer) und allgemeiner (nationaler) Aufsicht in ihr Gegenteil verkehrt. Die nationalen Behörden sollen nur noch für besondere Aufgaben wie den Verbraucherschutz oder die Bekämpfung der Geldwäsche originär zuständig sein.
- 10. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass dieser Kompetenzverstoß nicht dadurch geheilt wird, dass die nationalen Aufsichtsbehörden weiterhin die tägliche Kontrolle der Banken durchführen sollen. Diese Aussage der Kommission wird im Verordnungstext nicht widergespiegelt. Die ausschließliche Aufsichtskompetenz soll nach Artikel 4 des Verordnungsvorschlags eindeutig bei der EZB liegen. Sie kann ohne weiteres die tägliche Kontrolle aller europäischen Banken durchführen. Ihr stehen umfassende Informations-, Untersuchungs- und Prüfungsrechte zu (Artikel 8 bis 12 des Verordnungsvorschlags). Die nationalen Aufsichtsbehörden sollen die EZB gemäß Artikel 5 des Verordnungsvorschlags nur unterstützen.
- 11. Nach Auffassung des Bundesrates können die Ziele der Verordnung im Hinblick auf national agierende, nicht systemrelevante Kreditinstitute ausreichend auf nationaler Ebene verwirklicht werden. Sie können nicht besser auf europäischer Ebene erreicht werden. Eine europäische Aufsicht ist nicht geeignet, diese Institute effektiv zu überwachen.
- 12. Die Beaufsichtigung von national agierenden, nicht systemrelevanten Kreditinstituten wie Sparkassen, Genossenschaftsbanken, Spartenbanken, Förderbanken und kleinen Privatbanken durch die Bundesbank und die BaFin hat sich bisher bewährt. Selbst während der Finanzkrise gab es keine Schwierigkeiten, diese Institute effektiv zu beaufsichtigen. Sie weisen aufgrund ihres Geschäftsbereichs häufig keinen transnationalen Bezug auf, der besondere Risiken bergen kann. In aller Regel besitzen sie weder die Größe noch die Komplexität, um im Falle wirtschaftlicher Schwierigkeiten einen negativen Effekt auf die Wirtschaft oder Finanzstabilität in der EU haben zu können. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass diese Institute oft konservative Geschäftsmodelle verfolgen, die wenig risikoanfällig sind.
- 13. In Deutschland gehören zu diesen Instituten vor allem die Sparkassen und Genossenschaftsbanken, aber auch eine nennenswerte Anzahl von kleineren Privatbanken. Mit dem Haftungsverbund der Sparkassen-Finanzgruppe und der Sicherungseinrichtung des Bundesverbandes der Deutschen Volks- und Raiffeisenbanken e.V. sowie dem Einlagensicherungsfonds des Bundesverbandes deutscher Banken verfügen alle Institutsgruppen über eigene, funktionierende Einlagensicherungssysteme. Seit Bestehen der Sicherungssysteme von Sparkassen und Genossenschaftsbanken hat noch nie ein Kunde einen Verlust seiner Einlagen erlitten. Zusätzlich verfügen die Verbundinstitute über ein Verbandsprüfwesen, das die Aufsicht durch Bundesbank und BaFin ergänzt.
- 14. Die Beaufsichtigung national agierender, nicht systemrelevanter Institute durch die EZB bringt keine Vorteile mit sich. Aus Sicht des Bundesrates wäre eine zentrale Aufsicht über diese Institute durch die EZB im Vergleich zum gegenwärtigen nationalen Aufsichtssystem sogar in erheblichem Maße nachteilig. Die EZB wird als zentrale europäische Bankenaufsichtsbehörde die über 6000 Banken in der Eurozone nicht gleichwertig überwachen können. Außerdem bestehen erhebliche Bedenken, dass die europäische Aufsicht die erforderliche Marktnähe aufweist. Die angestrebte Zentralisierung der Bankenaufsicht bei der EZB erscheint in Anbetracht der fehlenden Nähe der Aufsicht zu den Instituten und damit der nicht ausreichenden Kenntnis über Problemstellungen bei den Kreditinstituten vor Ort jedoch nicht geeignet, die vorgenannten Zielsetzungen erreichen zu können. Darüber hinaus erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass angesichts der hohen Zahl der zu beaufsichtigenden Institute die Ressourcen der EZB überbeansprucht werden. Hierdurch würden sich negative Rückwirkungen auf die Erreichung der in dem Verordnungsvorschlag genannten Zielsetzungen: Sicherstellung der Wirksamkeit der Beaufsichtigung, Gewährleistung der Zuverlässigkeit und Solidität der Kreditinstitute sowie Gewährleistung der Stabilität des Finanzsystems und somit auch des Einlegerschutzes und Verbesserung der Funktionsweise des Binnenmarktes, ergeben.
- 15. Das effektive Funktionieren der bisherigen nationalen Aufsicht wird trotz der Ankündigung der Kommission, die nationalen Behörden eng in die Aufsicht einzubinden und diese die täglichen Kontrollen durchführen zu lassen, infrage gestellt. Den Artikeln 4 und 5 des Verordnungsvorschlags zufolge hat die EZB das Letztentscheidungsrecht in allen Fragen. Dies wird auch aus der Begründung des Verordnungsvorschlags und dem Artikel 13 deutlich, wonach die nationalen Behörden teilweise die Aufsichtsentscheidungen vorbereiten dürfen, diese dann aber der EZB vorlegen müssen. Durch diesen aufwendigen Kontrollmechanismus werden Verzögerungen entstehen, die sich, gerade in eiligen Fällen, negativ auswirken könnten.
- 16. Darüber hinaus ist es aus Sicht des Bundesrates bedenklich, dass die nationalen Aufsichtsbehörden die laufenden täglichen Prüfungen auch bei national agierenden, nicht systemrelevanten Instituten unter Einhaltung allgemeiner Leitlinien und Verordnungen der EZB durchführen sollen. Wenn die EZB in diesem Zusammenhang den Besonderheiten der nationalen Bankensektoren ausreichend gerecht werden wollte, müsste sie eine Vielzahl länderspezifischer Leitlinien und Verordnungen erlassen. Es darf bezweifelt werden, dass dies mit Blick auf die Marktferne einer europäischen Bankenaufsicht geschehen wird. Vielmehr ist zu befürchten, dass bei der Regulierung des europäischen Bankensektors einmal mehr nationale Besonderheiten negiert und gegen den Subsidiaritätsgrundsatz verstoßen wird.
- 17. Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass nach bisherigem Verhandlungsstand die geplanten CRD IV-Regelungen zahlreiche auf nationaler Ebene ausfüllungsfähige und -bedürftige Wahlrechte beinhalten werden. Die Vorschläge der Kommission sehen hingegen diesbezüglich weitreichende Ermessens- und Entscheidungsspielräume der EZB vor. Diese umfassen einen Großteil bankwirtschaftlich sowie unter Wettbewerbsgesichtspunkten essentieller Bereiche, wie z.B. Festlegung von Eigenkapitalpuffern, Liquiditätsvorschriften etc. (vgl. Erwägungsgründe 17 ff. i.V.m. Artikel 4 Absatz 1). In Anbetracht dieser der EZB übertragenen weitreichenden Entscheidungsbefugnisse ist nicht erkennbar, inwieweit nationale Aufsichtsbehörden künftig in der Lage sein werden, die in der CRD IV-Verordnung bzw. -Richtlinie festgelegten Wahlrechte vor dem Hintergrund der Heterogenität der Bankenlandschaft (d.h. Kreditinstitute unterschiedlicher Größe und Komplexität, Förderbanken, Spezialbanken etc.) überhaupt ausüben zu können. In Folge der durch die Übertragung von Aufsichtsbefugnissen auf die EZB entstehenden Möglichkeit, die Befugnisse der nationalen Aufsichtsbehörden de facto leerlaufen zu lassen, wird der Grundsatz der Subsidiarität verletzt.