Der Bundesrat hat in seiner 901. Sitzung am 12. Oktober 2012 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung des nichtformalen und informellen Lernens, insbesondere auch im Kontext des lebenslangen Lernens, würdigt der Bundesrat die mit dem Kommissionsvorschlag verbundene Aufwertung nichtformaler und informeller Lernwege und -ergebnisse. Er erkennt grundsätzlich an, dass die Sichtbarmachung von auf diesen Wegen erworbenen Lernergebnissen durch geeignete Validierungsverfahren für den Einzelnen, die Gesellschaft und die Wirtschaft erhebliche positive Effekte zeitigen kann. Gleichzeitig fordert er jedoch einen umsichtigen Umgang mit formalisierten Validierungsverfahren auch in den Bereichen der Jugendarbeit und der Freiwilligenorganisationen ein. Denn diese stehen im Regelfall im Widerspruch zu den nicht formalisierten und nicht standardisierten, häufig durch Engagement, Freiwilligkeit und Selbstbestimmtheit gekennzeichneten Kontexten, in denen nichtformales und informelles Lernen stattfindet, und können auch nichtbeabsichtigte, negative Rückwirkungen auf den Charakter dieser Lernwege haben.
- 2. Angesichts der primär auf Arbeitsmarkterfordernisse ausgerichteten Begründung der Kommission für die Notwendigkeit der Einführung von nationalen Validierungssystemen weist der Bundesrat erneut darauf hin, dass sich die Bemühungen der Mitgliedstaaten im Bildungsbereich auch bei der Förderung des nichtformalen und informellen Lernens sowie der Validierung von dessen Ergebnissen nicht darin erschöpfen dürfen, die Beschäftigungsfähigkeit zu verbessern, sondern daneben auch das umfassendere Ziel haben müssen, Werte zu vermitteln und die gesamte Persönlichkeit zur Entfaltung zu bringen (vgl. zuletzt BR-Drucksache 803/11(B) ).
- 3. Eine Umsetzung der von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen zur Validierung der Ergebnisse nichtformalen und informellen Lernens auf nationaler Ebene würde zu einem umfassenden Wandel der Lern-, Anrechnungs- und Anerkennungskultur in den Bildungssystemen der Mitgliedstaaten führen. Vor diesem Hintergrund erinnert der Bundesrat an die eng gefassten Unionskompetenzen im Bildungsbereich sowie an den nicht rechtsverbindlichen Charakter von Empfehlungen, die deshalb zu keiner förmlichen Verpflichtung der Mitgliedstaaten führen können. Er stellt fest, dass sowohl das "Ob", als auch ggf. das "Wie" und insbesondere das "Wann" der Einrichtung nationaler Verfahren oder gar ganzer Systeme der Validierung ausschließlich Sache der einzelnen Mitgliedstaaten, in Deutschland insbesondere auch der Länder, ist. Eine gesonderte, über die im strategischen Rahmen für die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung vorgesehenen Fortschrittsberichte hinausgehende Berichterstattung, eine Überwachung der Entwicklungen in den Mitgliedstaaten sowie die Schaffung neuer Strukturen auf europäischer Ebene werden abgelehnt.
- 4. Insbesondere unterliegen die Ausstellung von vollständigen oder teilweisen Qualifikationen sowie ggf. deren Anrechnung oder Anerkennung im formalen Bildungs- und Berufsbildungssystem, die Sicherstellung einer Kompetenzprüfung für spezielle Personengruppen innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens, die Setzung von Anreizen für Bildungsanbieter, um den Zugang zu formalen Angeboten auf der Grundlage von nichtformal oder informell erworbenen Lernergebnissen zu erleichtern, sowie die Schaffung eines Rechtsanspruches für den Einzelnen auf Validierung ausschließlich der Entscheidung der Mitgliedstaaten, in Deutschland auch der Länder.
- 5. Der Bundesrat erkennt an, dass die vorgesehene Empfehlung, das Validierungssystem als kohärenten und integralen Bestandteil des im Einklang mit dem Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) erstellten nationalen Qualifikationsrahmens auszugestalten, weitere Mobilitätserleichterungen in Europa bewirken kann. Zugleich erinnert er jedoch daran, dass sich der EQR auch hinsichtlich nichtformal oder informell erworbener Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen in seiner Funktion weiterhin auf die Rolle eines Übersetzungsinstruments ohne legislativen Charakter und ohne jegliche wie auch immer geartete innerstaatliche Bindungswirkung beschränkt (vgl. BR-Drucksache 655/06(B) ).
- 6. Der Bundesrat verweist darauf, dass in Deutschland kein bildungsbereichsübergreifendes System der Anrechnung bzw. Anerkennung nichtformal und informell erworbener Lernergebnisse auf einheitlicher gesetzlicher Basis existiert. Es gibt jedoch bereits einzelne nebeneinander bestehende, rechtlich verankerte und mit einer formalen Anerkennung bzw. Zulassung oder Berechtigung verbundene Verfahren, die unterschiedlichen Zuständigkeiten unterliegen (z.B. Verfahren im deutschen Berufsbildungs- und Weiterbildungssystem sowie die in allen Ländern existierenden Nichtschülerprüfungen in der allgemeinen Bildung, die Externenprüfung in der beruflichen Bildung, der Hochschulzugang für beruflich Qualifizierte und die Möglichkeit der Anrechnung beruflich erworbener Kompetenzen für ein Hochschulstudium). Der Bundesrat weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das in den Erwägungsgründen in Bezug genommene Kommuniqué von Brügge vorsieht, dass die Mitgliedstaaten bis spätestens 2015 damit beginnen, einzelstaatliche Verfahren für die Anerkennung und Validierung des nichtformalen und informellen Lernens zu entwickeln.
- 7. Der Bundesrat begrüßt, dass dem Deutschen Qualifikationsrahmen (DQR) künftig Qualifikationen, die auf dem Weg nichtformaler und informeller Lernprozesse erworben und auf der Basis von geeigneten Validierungsverfahren zuerkannt werden, grundsätzlich auf allen Ebenen zugeordnet werden sollen und somit lebenslanges Lernen insgesamt gestärkt wird. So ist bereits jetzt für die Vervollständigung der Grundlagen des DQR die Entwicklung von Vorschlägen und Verfahren für die Einbeziehung von Ergebnissen nichtformalen und informellen Lernens in dessen Einführungsphase (2013 bis 2018) vorgesehen.
- 8. Wie die Einleitung erster Maßnahmen zur Validierung von Ergebnissen nichtformalen und informellen Lernens im Rahmen des DQR-Prozesses gezeigt hat, müsste einer sachgerechten Umsetzung der Kommissionsvorschläge in Deutschland, insbesondere auch bei der geforderten Einbindung der relevanten Interessenträger (Stakeholder), ein zeitintensiver, komplexer Prozess vorausgehen, der mit ganz erheblichem administrativen, personellen und finanziellen Aufwand verbunden ist. Unbeschadet der in Ziffer 4 festgestellten Freiwilligkeit in Bezug auf das "Ob", "Wie" und "Wann" einer Umsetzung der Empfehlung in den Mitgliedstaaten lehnt der Bundesrat auch aus diesem Grund die von der Kommission gesetzte, für eine nachhaltige und sinnvolle Erarbeitung und Einführung nationaler Validierungssysteme bei Weitem zu knapp bemessene Frist mit Nachdruck ab.
- 9. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die in dem Vorschlag der Kommission mehrfach in Bezug genommenen im Jahr 2009 veröffentlichten "Europäischen Leitlinien für die Validierung nichtformalen und informellen Lernens" kein von einem rechtsetzenden Gremium verabschiedeter Politikrahmen sind, sondern lediglich ein unverbindliches praktisches Instrument darstellen.
- 10. Mit Blick auf die vorgesehene Förderung des Einsatzes von Instrumenten des Europass-Rahmenkonzeptes hat der Bundesrat Bedenken, ob eine ausschließlich oder im Wesentlichen auf Selbstaussagen und -einschätzungen des Einzelnen beruhende Dokumentation von nichtformal und informell erworbenen Kenntnissen, Fertigkeiten und Kompetenzen eine verlässliche Grundlage für deren Bewertung im Rahmen eines Validierungsverfahrens sein kann. Darüber hinaus lehnt er eine pauschale Bezugnahme auf "in Zukunft existierende Instrumente des Europass-Rahmenkonzeptes" in der Empfehlung ab und bekräftigt im Übrigen, dass der EU-Bildungsministerrat grundsätzlichen Erweiterungen bzw. Veränderungen des Europass-Rahmenkonzepts zustimmen muss (vgl. BR-Drucksache 025/04(B) ).
- 11. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.