Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Ermächtigung der Agentur der Europäischen Union für die Grundrechte, ihre Tätigkeiten in den Bereichen nach Titel VI des Vertrags über die Europäische Union auszuüben
Punkt 40 der 814. Sitzung des Bundesrates am 23. September 2005 Der Bundesrat möge beschließen, die Ausschussempfehlungen in BR-Drucksache 518/1/05 durch folgende Stellungnahme zu ersetzen:
- 1. Der Bundesrat hält aus grundsätzlichen Erwägungen die Einrichtung einer EU-Grundrechteagentur für nicht erforderlich. Seit den negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden hat sich die europapolitische Diskussion erheblich fortentwickelt. Die Fragen von Entbürokratisierung, Deregulierung, Kompetenzabgrenzung und -rückübertragung sowie die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips stellen sich noch drängender als zuvor. Die Konsequenz dieser Diskussion muss sein, den Trend der ständigen Kompetenzübertragung auf die europäische Ebene zu stoppen. Dies gilt konsequenterweise auch für die Tendenz innerhalb der Kommission, immer neue EU-Agenturen und EU-Institutionen zu errichten. Ungeachtet dessen nimmt der Bundesrat jedoch zur Kenntnis, dass die Entscheidung, die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu einer EU-Agentur für Grundrechte auszubauen, auf europäischer Ebene im Grundsatz bereits getroffen worden ist.
- 2. Der Bundesrat hat bereits am 17. Dezember 2004 zu der Mitteilung der Kommission "Agentur für Grundrechte - Unterlage für die öffentliche Konsultation" (KOM (2004) 693 endg.) Stellung genommen (BR-Drucksache 907/04(B) ). Darin hat der Bundesrat die Errichtung europäischer Agenturen aus Ländersicht kritisch hinterfragt und gefordert, stets die Notwendigkeit einer gemeinschaftlichen Regelung, "insbesondere einer neuen Agentur" in Frage zu stellen und deren Erforderlichkeit zu prüfen. Neue Maßnahmen seien auf das "unabdingbar Notwendige zu beschränken". Der Bundesrat sah für eine EU-Grundrechteagentur nur begrenzte Gemeinschaftszuständigkeiten im Bereich der Grundfreiheiten und als Rechtsgrundlage "allenfalls" die Beobachtung der Grundrechtssituation im Zusammenhang mit dem Vollzug und der Umsetzung von Gemeinschaftspolitik und Gemeinschaftsrecht. Er hat zudem betont, dass der Agentur keine "quasigerichtlichen Zuständigkeiten" zukommen sollen, da diese mit der "bereits bestehenden, sehr gut ausgebauten Grundrechtsschutz-Architektur" nicht zu vereinbaren seien. Der Bundesrat sah eine Tätigkeit einer EU-Grundrechteagentur nur im Geltungsbereich der EU-Grundrechtecharta und nicht auf Drittstaaten bezogen. Er sprach sich für die Zeit einer zweijährigen Erprobungsfrist gegen jede Änderung am finanziellen und personellen Zuschnitt der bisherigen Europäischen Stelle für die Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit aus.
- 3. Der Bundesrat bedauert, dass die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme vom 14. Dezember 2004 zu der unter Ziffer 2 genannten Kommissionsmitteilung einige wesentliche Forderungen des Bundesrates nicht aufgegriffen hat.
- 4. Der Bundesrat stellt fest, dass der von der Kommission vorgelegte "Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für die Grundrechte" wesentliche Forderungen des Bundesrates, die er im Zuge des Konsultationsprozesses der Kommission übermittelt hatte, nicht berücksichtigt. Der Bundesrat bekräftigt die in seinem Beschluss vom 17. Dezember 2004 (BR-Drucksache 907/04(B) ) genannten Positionen und nimmt zu dem Verordnungsentwurf ergänzend wie folgt Stellung:
Die von der Kommission in der Folgenabschätzung vorgenommene politische Bewertung der fünf möglichen Optionen zum Aufgabenbereich der Grundrechteagentur kann nicht akzeptiert werden. Die Kommission favorisiert ohne nachvollziehbare Begründung die sehr weitgehende Variante "Agentur für eine gezielte Beobachtung und Bewertung der Politikbereiche der Union". Aus Sicht des Bundesrates kann angesichts der der Errichtung europäischer Agenturen immanenten Gefährdung des institutionellen Gleichgewichts zwischen der Verwaltungshoheit der Mitgliedstaaten und der Rechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft allenfalls der Variante "Agentur für gezielte Beobachtung" zugestimmt werden. Durch die Wahl der Variante wäre ein effizientes Arbeiten der Agentur sichergestellt, da sich diese dann nur mit den Themenbereichen beschäftigen würde, die einen besonders engen Bezug zur EU-Politik aufweisen.
Der Bundesrat wiederholt seine Forderung, dass das Handlungsfeld der Agentur sachlich auf die Europäischen Grundrechte (vgl. Artikel 51 der Grundrechtecharta) und räumlich auf das Gemeinschaftsgebiet beschränkt bleiben muss. Auslegung und Anwendung nationaler Grundrechte sind nicht Gegenstand der Tätigkeit einer Gemeinschaftsagentur. Damit nicht im Einklang steht die in Artikel 3 Ziffer 4 und Artikel 4 Ziffer 1 Buchstabe e des Verordnungsvorschlags vorgesehene potentielle Erweiterung des Aufgabenbereichs der Agentur auf Drittstaaten bzw. das Verfahren nach Artikel 7 EUV.
Der Bundesrat bekräftigt seine Forderung nach einem aktiven Vorgehen der Agentur nach dem Muster der derzeitigen Beobachtungsstelle für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Keinesfalls dürfen durch die Einrichtung der Agentur für Grundrechte die Behörden der Mitgliedstaaten zur Erstellung regelmäßiger Sachstandsberichte gegenüber der Agentur verpflichtet werden. Dies ist insbesondere durch die in Artikel 6 des Verordnungsvorschlags vorgesehene Regelung derzeit noch nicht hinreichend sichergestellt. Der Bundesrat hält ebenfalls an seiner Forderung fest, dass die aus den selbst gesammelten Informationen erarbeiteten Stellungnahmen der Agentur nicht in Form regelmäßiger Berichte erfolgen sollten, sondern nur auf Anforderung abgegeben werden. Nur auf diese Weise kann auf die spezifischen Informationsbedürfnisse der EU-Organe und Mitgliedstaaten abgestellt werden. Insbesondere die in Artikel 4 Ziffer 1 Buchstabe h des Verordnungsvorschlags derzeit vorgesehene Regelung entspricht dem nicht.
Die vorgesehene personelle (von 37 auf 100 Mitarbeiter) und finanzielle (von 8,2 Mio. Euro auf 29 Mio. Euro) Aufstockung der bereits vorhandenen Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ist weder mit den derzeitigen europäischen Bemühungen um eine Entbürokratisierung vereinbar noch steht sie im Einklang mit der derzeit EU-weit angespannten Wirtschaftslage, noch ist sie sachlich gerechtfertigt. Wie schon die Kommission selbst ausführt, wird die Errichtung der Agentur zwei bis drei Jahre in Anspruch nehmen. Es geht nicht an, dass schon zum jetzigen Zeitpunkt blanko Mittel und Personal bewilligt werden, von denen man derzeit noch gar nicht weiß, ob sie überhaupt nötig werden. Der Bundesrat wiederholt daher seine Forderung, dass während einer zweijährigen Erprobungsfrist nichts am derzeitigen finanziellen und personellen Zuschnitt der bisherigen Stelle für die Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verändert werden soll. Erst aus den gewonnenen Erfahrungen mit der neuen Aufgabe lassen sich die für die Agentur wirklich notwendigen Sach- und Personalmittel konkret ermitteln.
- 5. Im Hinblick auf den Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Ermächtigung der Agentur der Europäischen Union für die Grundrechte, ihre Tätigkeiten in den Bereichen nach Titel VI des Vertrags über die EU auszuüben, sind ergänzend folgende Äußerungen des Bundesrates veranlasst:
Für die von der Kommission vorgeschlagene Erstreckung des Tätigkeitsbereichs der Agentur auch auf die so genannte 3. Säule fehlt es an einer Rechtsgrundlage. Die von der Kommission in Anspruch genommenen Artikel 30, 31 und 34 EUV enthalten gerade keine dem Artikel 308 EGV vergleichbare Auffangkompetenz für gemeinschaftliche Regelungen, sondern konkretisieren nur detailliert einzelne Bereiche der intergouvernementalen Zusammenarbeit. Für die von der Kommission vorgesehene Vermischung der 1. und 3. Säule fehlt es aber nicht nur an einer Rechtsgrundlage; auch strukturell ist es mit der derzeitigen Rechtslage nicht vereinbar, eine Gemeinschaftsagentur mit Überwachungstätigkeiten im Bereich der intergouvernementalen Zusammenarbeit zu betrauen. Darüber hinaus ist die Erstreckung auch im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip abzulehnen.
Zur Klarstellung merkt der Bundesrat an, dass durch die (abzulehnende) Erstreckung des Tätigkeitsbereichs der Grundrechteagentur auf den noch nicht vergemeinschafteten Bereich der 3. Säule keinesfalls die Beurteilung nationaler Grundrechte in das Aufgabengebiet der Agentur einbezogen werden darf. Auch hier muss das Handlungsfeld der Agentur sachlich auf die in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs anerkannten Europäischen Grundrechte beschränkt bleiben. Auch darf die Zuständigkeit der Agentur auch weitergehen als die des Europäischen Gerichtshofs im Bereich der 3. Säule. Da der Gerichtshof gemäß Artikel 35 Abs. 5 EUV nicht für die Überprüfung der Gültigkeit und Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen der Polizei oder anderer Strafverfolgungsbehörden eines Mitgliedstaats oder der Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit zuständig ist, darf auch die Agentur ihre Tätigkeit nicht auf diesen Bereich erstrecken, selbst wenn die Strafverfolgungs-, Polizeiund Sicherheitsbehörden in Ausführung des (gegebenenfalls in nationales Recht umgesetzten) Europarechts handeln.
- 6. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung daher auf, die beiden Vorschläge der Kommission zur Errichtung einer EU-Grundrechteagentur in der vorliegenden Form abzulehnen.
- 7. Der Bundesrat stellt fest, dass die Voraussetzungen des § 5 Abs. 3 EUZBLG gegeben sind, und bittet daher die Bundesregierung, vor der Zustimmung zum Vorhaben das Einvernehmen mit dem Bundesrat herzustellen.