950. Sitzung des Bundesrates am 4. November 2016
A
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Ausschuss für Frauen und Jugend (FJ) und der Rechtsausschuss (R) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt das Ziel des Richtlinienvorschlags, die Aufnahmebedingungen in der EU weiter zu harmonisieren, Anreize zur Sekundärmigration zu verringern [sowie die Eigenständigkeit und die Integrationsaussichten der Antragstellenden zu verbessern]. Bedenken bestehen gegen einzelne Bestimmungen des Richtlinienvorschlags.
- 3. In Artikel 2 Absatz 10 des Richtlinienvorschlags wird der Begriff der "Flucht" neu eingefügt. Mit diesem legal definierten Begriff soll nach dem Willen der Kommission eine Handlung erfasst werden, durch die Antragstellende zur Umgehung des Asylverfahrens entweder das Hoheitsgebiet, in dem sie sich nach der neu zu fassenden Dublin-Verordnung (BR-Drucksache 390/16 (PDF) ) aufzuhalten haben, verlassen oder aufgrund derer sie sich nicht den zuständigen Behörden oder dem Gericht zur Verfügung halten. In der englischen Fassung des Richtlinienvorschlags wird dieses Verhalten eines Antragstellenden mit "absconding" definiert, was als "sich dem Verfahren entziehen" oder "untertauchen" übersetzt werden kann. Der Bundesrat hält in der deutschen Fassung des Richtlinienvorschlags die Wahl des Begriffs der Flucht für ungeeignet, weil dieser Begriff üblicherweise als Flucht aus dem Herkunftsland wegen Verfolgung verstanden wird.
- 4. In Artikel 2 Absatz 11 des Richtlinienvorschlags wird der Begriff der "Fluchtgefahr" neu eingefügt. Mit diesem ebenfalls legal definierten Begriff soll nach der Intention der Kommission das Vorliegen von Gründen im Einzelfall erfasst werden, die auf objektiven, im nationalen Recht festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass ein Antragstellender fliehen könnte. In der englischen Fassung des Vorschlags wird dieser Zustand mit "risk of absconding" definiert. Der Bundesrat erachtet auch diesbezüglich die Wahl einer anderen Begrifflichkeit in der deutschen Fassung des Richtlinienvorschlags für angezeigt, um deutlich herauszustellen, dass die in Absatz 11 beschriebene Situation das Vorliegen von Gründen erfassen soll, aus denen sich die Gefahr ergibt, dass ein Antragstellender "sich dem Verfahren entziehen" oder "untertauchen" wird.
- 5. Der Bundesrat bittet im Hinblick auf die in Artikel 7 Absatz 2 und 7 des Richtlinienvorschlags enthaltene Verpflichtung der Mitgliedstaaten, eine Entscheidung in jedem Einzelfall treffen zu müssen, um Klarstellung, dass für die Sicherstellung der Erreichbarkeit im Verfahren sowie die Bestimmung des Aufenthalts und der Unterbringung eines Antragstellenden auch gesetzliche Verpflichtungen der Mitgliedstaaten genügen, die eine wirksame Bearbeitung des Antrags sowie die gleichmäßige Verteilung der Antragstellenden in dem Mitgliedstaat bezwecken.
- 6. Der Bundesrat spricht sich gegen die in Artikel 7 Absatz 3 des Richtlinienvorschlags vorgesehene Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Erlass von Meldeauflagen bei Fluchtgefahr im Sinne des Artikels 2 Absatz 11 aus. Mit einer Pflicht des Antragstellenden zur regelmäßigen Vorsprache bei einer zuständigen Behörde kann der Gefahr, dass ein Antragstellender sich seinem laufenden Verfahren entzieht oder untertaucht, nicht wirksam begegnet werden. Zudem führt die Meldepflicht zu einem unvertretbaren Aufwand für die Behörden und die für eine rechtliche Überprüfung zuständigen Gerichte.
- 7. Der Bundesrat hält es für geboten, Artikel 7 Absatz 5 des Richtlinienvorschlags dahin abzuändern, dass der Antragstellende stets seinen Aufenthaltsort und seine Anschrift (nicht lediglich eine Telefonnummer) mitzuteilen hat, damit im gerichtlichen Verfahren eine ordnungsgemäße Ladung und Zustellung der gerichtlichen Entscheidung gewährleistet ist.
- 8. Der Bundesrat spricht sich gegen den in Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe c des Richtlinienvorschlags neu aufgenommenen Haftgrund aus, wonach schon ein Pflichtverstoß gegen eine Einzelentscheidung gemäß Artikel 7 Absatz 2 bei Vorliegen von Fluchtgefahr die Inhaftierung des Antragstellenden zu rechtfertigen vermag. Der Vorschlag begegnet mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Bedenken. Zudem bittet der Bundesrat um Klarstellung, dass keine Pflicht zur Regelung aller Haftgründe im nationalen Recht besteht. Jedenfalls für den Vollzug der Haft aufgrund des in Buchstabe c geregelten Haftgrundes bestehen in der Bundesrepublik keine zureichenden Kapazitäten. Die mit der Schaffung entsprechender Haftkapazitäten verbundenen finanziellen Belastungen der Mitgliedstaaten sind nicht zumutbar; sie stehen jedenfalls in keinem angemessenen Verhältnis zum angestrebten Zweck.
- 9. Der Bundesrat begrüßt, dass der Richtlinienvorschlag der Kommission die Interessen und das Wohl von Minderjährigen grundsätzlich berücksichtigt. Er weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der dementsprechende Grundsatz auch bei der Regelung zur Inhaftnahme von unbegleiteten Minderjährigen (Artikel 11 des Richtlinienvorschlags) anzuwenden ist. Der Bundesrat erachtet Inhaftierungen unbegleiteter Minderjähriger, die auf der sogenannten Aufnahmerichtlinie beruhen, nur aus Gründen der nationalen Sicherheit oder einer erheblichen Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung für zulässig.
- 10. Der Bundesrat spricht sich gegen jede starre Frist in Artikel 23 Absatz 1 des Richtlinienvorschlags aus. Ein gerichtliches Verfahren auf Vormundbestellung mit entsprechenden Verfahrensgarantien (Anhörung, Dolmetscher) und Ermittlungserfordernissen - etwa zur Frage der Minderjährigkeit, aber auch zu der Frage, ob die Sorgeberechtigten tatsächlich an der Ausübung der elterlichen Sorge gehindert sind, so dass das Ruhen der elterlichen Sorge festgestellt werden kann (§ 1674 BGB) - ist innerhalb dieser Frist nicht durchführbar. Dies gilt umso mehr, wenn der Beginn der Frist bereits an die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz im Sinne des Artikels 25 Absatz 1 des Verordnungsvorschlags zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes in der Union (BR-Drucksache 503/16 (PDF) ) bei einer der dort oder in Artikel 5 Absatz 3 oder 4 jenes Vorschlags genannten Stellen geknüpft wird.
Zu diesem Zeitpunkt ist oft weder die Minderjährigkeit offenkundig, noch konnte stets schon das Jugendamt eingeschaltet werden und dieses die notwendigen Einschätzungen vornehmen. Solange noch nicht feststeht, ob der oder die Minderjährige mit Verwandten zusammengeführt werden kann und an welchem Ort er oder sie sich im weiteren Verlauf des Verfahrens aufhalten wird, ist auch die Auswahl einer ortsnahen Person als dauerhaftem Ansprechpartner noch nicht möglich. Eine starre Entscheidungsfrist stünde auch im Konflikt mit der sachlichen Unabhängigkeit der Gerichte (Artikel 47 Absatz 2 der Charta der Grundrechte der EU, Artikel 97 Absatz 1 des Grundgesetzes) und potentiell auch mit dem verfassungsrechtlich geschützten Elternrecht.
- 11. Der Bundesrat bittet zu gewährleisten, dass in einer Übergangsphase bis zur Bestellung eines Vormunds durch die Gerichte jede geeignete Form einer mitgliedstaatlich vorgesehenen Vertretung, die das Kindeswohl zu schützen vermag und auch kraft Gesetzes berufen sein kann, [auch für die Zwecke der beabsichtigten Richtlinie] ausreicht.
- 12. Ebenso spricht sich der Bundesrat gegen die aus der bisherigen sogenannten Aufnahmerichtlinie übernommene Bestimmung in Artikel 23 Absatz 1 des Richtlinienvorschlags aus, wonach die als Vormund handelnde Person "nur im Notfall" wechselt. Diese Formulierung erscheint zu eng. So kann beispielsweise auch bei einem Wechsel des Aufenthaltsorts der oder des Minderjährigen die Wahl eines anderen Vertreters vor Ort geboten sein.
- 13. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.
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- 14. Der Ausschuss für Arbeit, Integration und Sozialpolitik, der Ausschuss für Familie und Senioren und der Ausschuss für Innere Angelegenheiten empfehlen dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.