Der Bundesrat hat in seiner 847. Sitzung am 19. September 2008 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Angesichts von Globalisierung und demografischen Herausforderungen braucht Europa eine zukunftsweisende Sozialpolitik. Diese ist entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit der EU und der Mitgliedstaaten. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission mit der erneuerten Sozialagenda die soziale Dimension der EU unterstreicht. Das soziale Europa muss auch unter Akzeptanzgesichtspunkten den Bürgerinnen und Bürgern noch näher gebracht werden. Die Binnenmarktpolitik muss dabei von Anfang an die sozialen Auswirkungen ihrer Politik analysieren und möglichst positiv gestalten.
- 2. Der Bundesrat hält die drei Pfeiler "Chancen eröffnen - Zugangsmöglichkeiten schaffen - Solidarität zeigen" für ausgewogen. Europäische Sozialpolitik sollte das Ziel haben, die Menschen zu Eigenverantwortung und Eigeninitiative zu befähigen und die Kräfte des Einzelnen zu stärken.
- 3. Der Bundesrat hält zentrale Botschaften, die über eine Vielzahl und in ihrer Anordnung zusammenhanglos erscheinende Einzelvorhaben hinausgehen, für erforderlich. Eine zukunftsweisende Europäische Sozialpolitik kann nicht auf einen sektorübergreifenden Ansatz und den Erlass von legislativen und nichtlegislativen Maßnahmen reduziert werden.
- 4. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die Ausgestaltung der Sozialpolitik im Kern in den nationalen Parlamenten erfolgen und insoweit keine Kompetenzverlagerung auf die EU stattfinden sollte. Maßstab bürgernaher Politik sollte daher das Prinzip der Subsidiarität sein.
- 5. Der Bundesrat betont die Wichtigkeit einer nachhaltigen und beschäftigungsfreundlichen EU-Sozialpolitik. Subsidiarität und rechtlich klare Kompetenzzuweisungen sind die Grundlagen, um den Spielraum der Mitgliedstaaten zu stärken und sie in die Lage zu versetzen, den gesellschaftlichen Wandel sozialpolitisch besser zu flankieren. Daher begrüßt der Bundesrat, dass bei den Maßnahmen zur Erreichung der drei neuen Pfeiler auf die primäre Zuständigkeit der Mitgliedstaaten verwiesen wird. Er vermisst in diesem Zusammenhang schlüssige Aussagen zum angeblich klaren Mehrwert der europäischen Maßnahmen. In weiten Bereichen der Sozialpolitik sowie Arbeits- und Beschäftigungspolitik sind die Mitgliedstaaten und die Regionen die richtigen und bürgernahen Ebenen für politisches und rechtliches Handeln; dies gilt auch für die Gesundheitspolitik. Gleichzeitig ist die Rolle der EU als Impulsgeber zu betonen. Der Bundesrat vermisst eine klare Aussage, welcher Ebene welche Aufgabe und damit auch Verantwortung obliegt.
- 6. Die Aufgabe der EU-Institutionen im Bereich der Sozialpolitik sollte vorrangig darin bestehen, die notwendigen strukturellen Arbeitsmarktreformen sowie die Modernisierung der sozialen Sicherungssysteme durch die Mitgliedstaaten über Erfahrungsaustausch und Benchmarking im Rahmen der Offenen Methode der Koordinierung (OMK) zu unterstützen. Die aussagekräftigere soziale Folgenabschätzung und ein Mainstreaming sozialer Belange in andere Politikbereiche unterstreichen, dass bei der Realisierung des Binnenmarkts die soziale Dimension vollständig berücksichtigt werden muss. Nach Ansicht des Bundesrates wird aber die bisherige OMK durch Zentralisierung und Aufweichung der Kompetenzverteilung zugunsten der Kommission maßgeblich verändert. Das Setzen von quantifizierten Zielen, die stärkere Überwachung und die verstärkte Bewertung der Fortschritte auf EU-Ebene sowie die Kompetenz der Kommission, Empfehlungen für gemeinsame Grundsätze zu erlassen, verändern auf bedenkliche Weise die Grundphilosophie der OMK als freiwilliges voneinander Lernen. Deshalb wird der Bundesrat die weitere Entwicklung der OMK Sozialschutz besonders kritisch beobachten.
- 7. Im Hinblick auf die Äußerung der Kommission, dass über die Einführung bzw. Aktualisierung von Zielvorgaben in anderen Anwendungsbereichen der OMK - z.B. Verbesserung des Bildungsniveaus - nachgedacht werden sollte, bekräftigt der Bundesrat seine Stellungnahme zu dieser Thematik (BR-Drucksache 141/07(B) ). Aufgrund der begrenzten Zuständigkeiten der Gemeinschaft im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung (Artikel 149, 150 EGV) kann die Gemeinschaft den Mitgliedstaaten keine Vorgaben machen, welche Maßnahmen zur Verbesserung des Bildungsniveaus ergriffen werden müssen und welche Zielvorgaben zu erreichen sind.
- 8. Der Bundesrat geht davon aus, dass die gemäßigte Form der OMK im Bereich der Bildung, wie sie in Nummer 4.1 des Arbeitsprogramms des Rates zur Umsetzung der Ziele der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung in Europa (Abl. EG (Nr. ) C 142/1 vom 14. Juni 2002) festgelegt wurde, beibehalten wird und dass mit der Verstärkung der OMK für Sozialschutz und soziale Eingliederung keine Modifikation der OMK im Bildungsbereich verbunden ist. Die Verbindung verschiedener Politikbereiche in einer Mitteilung der Kommission kann zu keiner Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen im Bildungsbereich führen; dies würde gegen Gemeinschaftsrecht (Artikel 149, 150 EGV) verstoßen.
- 9. Der Bundesrat hebt hervor, dass für die Zukunft der europäischen Gesellschaft der Zusammenhalt der Generationen und das Gelingen der Integration von großer Bedeutung sind. Daher begrüßt er die verstärkte Einbeziehung der Generations- und Integrationspolitik.
- 10. Die erneuerte sozialpolitische Agenda wird die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in der Familien-, der Migrations- und der Gleichstellungspolitik fördern. Eine Politik für Kinder und Jugendliche sowie eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind wichtige Bestandteile einer modernen EU-Sozialpolitik.
- 11. Der Bundesrat unterstützt die Chancengleichheit für Kinder und Jugendliche beim Zugang zur allgemeinen und beruflichen Bildung, von der frühen Förderung bis zum lebenslangen Lernen. Kinder und Jugendliche sind die Zukunft Europas.
- 12. Der Bundesrat erkennt den bedeutenden Beitrag des EU-rechtlichen Rahmens für die Gleichstellung der Geschlechter an und begrüßt die Absicht, die Berücksichtigung des Gleichstellungsaspekts in den Aktivitäten und politischen Maßnahmen zu intensivieren, auch in den von dieser erneuerten Sozialagenda abgedeckten Bereichen.
- 13. Die erneuerte Agenda enthält insbesondere legislative Vorschläge, zu denen der Bundesrat getrennt Stellung nehmen wird. Im Übrigen weist der Bundesrat auf folgende Punkte hin:
- - Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission die Sozialpartner und die Mitgliedstaaten aufgefordert hat, die durch die kürzlich ergangenen Gerichtsurteile (Laval, Viking, Rüffert, Luxemburg) aufgekommenen Fragen zum Verhältnis der Grundfreiheiten (Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit) einerseits und dem Arbeitskampfrecht von Gewerkschaften andererseits zu erörtern und ein Forum zu organisieren, damit die Stakeholder über die Problematik der Wahrung der Sozialrechte angesichts einer zunehmenden Arbeitskräftemobilität diskutieren. Es ist Aufgabe der Mitgliedstaaten, von den ihnen eingeräumten Möglichkeiten Gebrauch zu machen und wo nötig, eine nationale Debatte über die Ausgestaltung der erforderlichen Schutzmaßnahmen zu führen.
- - Der Bundesrat hebt erneut den klaren Auftrag an die Kommission durch das "Protokoll über Dienste von allgemeinem Interesse" im Reformvertrag hervor, die Grundsätze der Daseinsvorsorge bei ihren vergabe- und beihilferechtlichen Festlegungen stärker als bisher zu beachten (vgl. BR-Drucksache 865/07(B) , Ziffer 48).
- - Bezüglich des angekündigten Vorschlags für eine Empfehlung über die aktive Eingliederung erinnert der Bundesrat daran, dass der Qualitätsrahmen mit methodischen Leitlinien für die Festlegung, Überwachung und Bewertung von Qualitätsstandards freiwillig bleiben muss und nicht zu zusätzlichen Kontrollmaßnahmen und Berichtspflichten führen darf (vgl. BR-Drucksache 865/07(B) , Ziffer 55). Eine Verpflichtung der Länder oder lokalen Gebietskörperschaften, lokale Aktionspläne zu erstellen, wird abgelehnt, da sonst eine bislang nicht existente OMK auf Ebene der Länder geschaffen würde. Der Bundesrat betont außerdem, dass die Empfehlung des Rates vom 27. Juli 1992 über die Annäherung der Ziele und Politiken im Bereich des sozialen Schutzes die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Festsetzung eines Mindesteinkommens hervorhebt.
- - Der Bundesrat unterstreicht die Bedeutung der Sozialpartner und begrüßt die Aussage, dass diese die Möglichkeiten des sozialen Dialogs voll nutzen sollen. Ihre Autonomie muss gewahrt bleiben und darf nicht durch über ihre Einigung hinausgehende ergänzende europäische Rechtsetzungsvorschläge z.B. im Bereich der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit ausgehöhlt werden.
- - Der Bundesrat betont eine freiwillig ausgestaltete soziale Verantwortung der Unternehmen. Europäische Aktivitäten müssen im Einklang mit aktuellen Deregulierungsbemühungen stehen und dürfen den Spielraum der Unternehmen nicht unverhältnismäßig einschränken.
- 14. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.