875. Sitzung des Bundesrates am 15. Oktober 2010
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Ausschuss für Innere Angelegenheiten (In) und der Rechtsausschuss (R) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt das mit dem Richtlinienvorschlag verfolgte Anliegen, durch die Festlegung gemeinsamer Mindeststandards für das Recht auf Belehrung in Strafverfahren innerhalb der EU das Vertrauen in die Rechtssysteme der anderen Mitgliedstaaten zu stärken und die gegenseitige Anerkennung von gerichtlichen Entscheidungen zu fördern.
- 2. Zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens innerhalb der EU ist es wichtig, dass es Normen für den Schutz der Verfahrensrechte gibt, die in den Mitgliedstaaten ordnungsgemäß umgesetzt und angewendet werden. Durch die Entwicklung gleichwertiger Standards für Verfahrensrechte in Strafverfahren wird das Vertrauen der Bürger und Bürgerinnen gestärkt, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten die Rechte der Bürger und Bürgerinnen schützen und gewährleisten.
Zugleich wird die Bereitschaft der zuständigen Behörden zur gegenseitigen Anerkennung getroffener Entscheidungen und Maßnahmen gefördert.
- 3. Die Vorgaben zur Belehrung werden kritisch gesehen.
- 4. Ein gegenseitiges Vertrauen kann nur dann gestärkt werden, wenn der europäische Mindeststandard an eine Belehrung nicht zu niedrig angesetzt wird. Die im Richtlinienvorschlag vorgesehenen Belehrungspflichten unterschreiten nicht nur den in Deutschland bereits existierenden, sondern auch den mit dem Vorschlag des Rahmenbeschlusses des Rates vom 28. April 2004 über bestimmte Verfahrensrechte in Strafverfahren innerhalb der EU, KOM (2004) 328 endg. - BR-Drucksache 409/04 (PDF) -, vorgeschlagenen Standard an Belehrungspflichten in wesentlichen Punkten.
- 5. Das Risiko einer Einschüchterung und einer Misshandlung ist in dem Zeitraum unmittelbar nach einer Freiheitsentziehung am größten. Eine Belehrung muss auf den elementaren Grundsatz hinweisen, dass der Beschuldigte das Recht hat, sich zur Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen, ohne dass aus einem Schweigen nachteilige Schlüsse gezogen werden dürfen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in zahlreichen Entscheidungen betont, dass das Recht zu Schweigen ein Kernstück eines fairen Verfahrens im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ist, vgl. EGMR, Urteil vom 5. November 2002 - 48539/99 (Allan/Großbritannien) -, StV 2003, 257; EGMR, Urteil vom 11. Juli 2006 - 54810/00 (Jalloh/Deutschland) -, NJW 2006, S. 3117).
Darüber hinaus ist der Beschuldigte darüber zu informieren, dass er zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen beantragen kann. Der Grundsatz des fairen Verfahrens gemäß Artikel 6 Absatz 1 EMRK bedingt, dass der Beschuldigte nicht zum Objekt des Strafverfahrens gemacht werden darf. Er muss als Subjekt angemessen am Verfahren mitwirken können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 - 2 BvR 2115/01 -, juris Rn. 49 f.; vgl. Schädler in KK-StPO, Artikel 6 EMRK, Rn. 19). Dieser Hinweis dient auch der Ausgewogenheit der Belehrung, weil er die Entscheidung des Beschuldigten, ob er sich zur Sache einlässt, beeinflussen kann.
Die genannten Informationspflichten sind im deutschen Strafverfahrensrecht für die polizeiliche, staatsanwaltschaftliche und richterliche Vernehmung vorgeschrieben (§ 136 Absatz 1 Satz 2 und 3 StPO, § 163a Absatz 3 Satz 2, Absatz 4 Satz 2 StPO). Gemäß § 114b Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 bis 4 StPO ist der Beschuldigte über diese Rechte bei seiner Festnahme schriftlich zu belehren.
- 6. Der Beschuldigte ist im Falle einer Festnahme auch darüber schriftlich zu belehren, dass er einen Angehörigen oder eine Person seines Vertrauens benachrichtigen kann, soweit der Zweck der Untersuchung dadurch nicht gefährdet wird. Das Recht auf Benachrichtigung soll auch verhindern, dass Menschen ohne Kenntnis Dritter spurlos aus der Öffentlichkeit verschwinden. Die Vorschrift dient damit dem Vertrauen der Allgemeinheit in die Rechtsstaatlichkeit der Strafrechtspflege und somit dem öffentlichem Interesse (vgl. Schädler in KK-StPO, Artikel 6 EMRK, Rn. 19).
Ausländische Staatsangehörige sind zusätzlich darüber zu informieren, dass sie die Unterrichtung der konsularischen Vertretung ihres Heimatstaates verlangen können. Diese Verpflichtung ergibt sich aus Artikel 36 Absatz 1 Buchstabe b des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen (WÜK). Zweck der Belehrung nach Artikel 36 Absatz 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK ist es, dass der Einzelne in den Genuss der in Artikel 36 Absatz 1 Buchstabe c WÜK geregelten Unterstützung seines Heimatstaates kommen kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006, 2 BvR 2115/01, juris Rn. 65). Aufgrund ihrer hervorgehobenen Bedeutung wurden diese Verpflichtungen auch in den Artikeln 12 und 13 des Rahmenbeschlussvorschlags des Rates vom 28. April 2004 über bestimmte Verfahrensrechte in Strafverfahren innerhalb der EU aufgenommen. Schließlich ist der Beschuldigte darüber zu belehren, dass er ein Recht auf Zugang zu einem Arzt seiner Wahl hat.
Diese schriftlichen Belehrungspflichten sind im deutschen Strafverfahrensrecht gemäß § 114b Absatz 2 Satz 1 Nummer 5, 6, Satz 3 StPO vorgeschrieben.
Zwar sollen ausweislich der Entschließung des Rates vom 30. November 2009 über einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren (ABl. C 295 vom 4. Dezember 2009, S. 1) die Belehrungspflichten in Zukunft aufgegriffen werden. Es wäre jedoch verfahrensökonomisch, wenn diese Belehrungspflichten bereits jetzt europaweit in einem einheitlichen und umfassenden "Letter of rights" umgesetzt würden.
- 7. Im Übrigen entsprechen die Vorgaben des Richtlinienvorschlags in vielen Punkten bereits der Rechtslage in Deutschland.
- 8. Allerdings stößt die in Artikel 3 Absatz 2 und Artikel 4 Absatz 2 des Richtlinienvorschlags enthaltene Vorgabe, wonach die Belehrung mindestens die Informationen über das Recht auf - erforderlichenfalls unentgeltliche - Hinzuziehung eines Rechtsanwalts enthalten muss, in Zusammenhang mit dem als Anhang I beigefügten Muster, das in Abschnitt B Spiegelstrich 6 einen Hinweis auf die Möglichkeit eines unentgeltlichen oder teilweise unentgeltlichen Rechtsbeistandes bei Mittellosigkeit vorsieht, auf Bedenken. Zwar statuiert Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c EMRK das Recht jeder angeklagten Person, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Im deutschen Strafprozess ist eine unentgeltliche Beiordnung eines Verteidigers - auch bei Mittellosigkeit - nicht verwirklicht. Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers verursacht zwar für den Beschuldigten zunächst keine Kosten, weil die Staatskasse in Vorlage tritt. Wird der Beschuldigte jedoch später verurteilt und werden ihm die Verfahrenskosten auferlegt, hat er die Kosten des Pflichtverteidigers nachträglich der Staatskasse zu erstatten. Bei Mittellosigkeit nach Rechtskraft des Urteils kann allerdings eine Niederschlagung der Kosten in Betracht kommen. Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c EMRK steht zwar der Geltendmachung der für einen Pflichtverteidiger verauslagten Gebühren nicht entgegen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. September 2002 - 2 BvR 705/02 -, NJW 2003, S. 196 m. w. N.), gleichwohl sollte insbesondere zum Schutz der beschuldigten oder verdächtigten Personen davon abgesehen werden, den Eindruck zu erwecken, dass bei Mittellosigkeit der Beistand eines Verteidigers unentgeltlich im Sinne vollständiger Kostenfreiheit zu erhalten ist. Auch wenn es sich bei dem in Anhang I beigefügten Formular um ein vorläufiges Muster handelt, sollte klargestellt werden, dass die Belehrung über die Verteidigerwahl im deutschen Strafprozess keine Kostenübernahmepflicht des Staates begründet, auch nicht bei mittellosen Personen.
- 9. Artikel 6 des Richtlinienvorschlags enthält die Verpflichtung zur Belehrung über den Tatvorwurf. Hierbei unterscheidet die Norm jedoch nicht zwischen der richterlichen Belehrung und der Belehrung durch die Strafverfolgungsbehörden (Staatsanwaltschaft bzw. Polizei als deren Ermittlungsorgan).
- 10. Nach der in Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe b vorgesehenen Formulierung soll die Pflicht zur Belehrung über rechtliche Aspekte eines Tatvorwurfs auch schon die Polizei im ersten Zugriff treffen.
- 11. Die im geltenden Recht in § 163a Absatz 4 in Verbindung mit § 136 Absatz 1 Satz 2 bis 4, Absatz 2 und 3 StPO für die erste Vernehmung eines Beschuldigten vorgeschriebene Belehrung unterscheidet sich aus guten Gründen von derjenigen, die ein Staatsanwalt oder Richter nach § 163a Absatz 3 Satz 2 in Verbindung mit § 136 Absatz 1 bzw. nach § 136 Absatz 1 StPO zu erteilen hat. Danach hat zwar auch die Polizei dem Beschuldigten die ihm zur Last gelegte Tat, nicht aber zwingend die hierfür in Betracht kommenden Strafvorschriften zu eröffnen. Damit trägt die Strafprozessordnung dem Umstand Rechnung, dass Polizeibeamte in rechtlich schwierigen Fällen aufgrund ihrer Ausbildung nicht immer die für einen solchen Hinweis erforderlichen Rechtskenntnisse besitzen.
- 12. Soweit dann Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe b vorsieht, dass in der Belehrung auf "Art und rechtliche Einstufung der Straftat" einzugehen ist, ist dies in zweifacher Hinsicht bedenklich. Einerseits ist die rechtliche Einordnung der Straftat dem erkennenden Gericht vorbehalten. Deshalb sieht das deutsche Strafrecht vor, dass bei der Vernehmung durch den Richter ( § 136 Absatz 1 StPO) dem Beschuldigten zu eröffnen ist, welche Tat ihm zur Last gelegt wird und welche Strafvorschriften hierfür in Betracht kommen. Dagegen ist andererseits bei der Vernehmung durch Beamte des Polizeivollzugsdienstes die Angabe der in Betracht gezogenen Strafvorschriften gerade nicht erforderlich (§ 163a Absatz 4 StPO). Dahinter steht die Erkenntnis, dass dem Polizeibeamten die präzise Angabe hierüber in manchen Fällen Schwierigkeiten bereiten kann (vgl. MeyerGoßner, StPO, Kommentar, 51. Aufl., § 163a Rn. 4). Durch Artikel 6 könnte sich künftig eine Verpflichtung hierzu für den Polizeidienst ergeben. Das ist aus Sicht der Länderpolizeien abzulehnen.
- 13. Soweit Artikel 7 Absatz 2 Satz 1 des Richtlinienvorschlags ein generelles, nur nach Maßgabe von Absatz 2 Satz 2 einzuschränkendes Akteneinsichtsrecht des nicht verteidigten Beschuldigten vorsieht, hält der Bundesrat dies für zu weitgehend. § 147 Absatz 7 Satz 1 StPO in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29. Juli 2009 (BGBl. I, S. 2274) räumt dem sich selbst verteidigenden Beschuldigten lediglich einen Anspruch auf Überlassung von Auskünften und Abschriften aus den Akten auf seinen Antrag hin ein, wenn er sich ansonsten nicht angemessen verteidigen könnte. Weitere Voraussetzungen sind, dass der Untersuchungszweck - auch in einem anderen Strafverfahren - nicht gefährdet werden darf und keine schutzwürdigen Interessen Dritter entgegenstehen. Im Übrigen wird sich in derartigen Fällen nicht selten die Bestellung eines Verteidigers nach § 140 Absatz 2 StPO anbieten. Ein generelles Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten wird durch die Rechtsprechung des EGMR nicht gefordert. Es ist auch in Anbetracht der Missbrauchsmöglichkeiten - namentlich mit Blick auf die im Rahmen der schutzwürdigen Interessen Dritter zu berücksichtigenden Aspekte des Opferschutzes - nach wie vor (vgl. BT- Drucksache 016/11644, S. 34) abzulehnen. Der Bundesrat bittet daher die Bundesregierung, bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene sicherzustellen, dass das Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten nicht über den durch § 147 Absatz 7 StPO begrenzten Umfang hinausreicht.
- 14. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass das in Artikel 7 vorgesehene Recht auf unentgeltliche Akteneinsicht so verstanden werden könnte, dass es die Erhebung einer Aktenversendungspauschale - wie sie in Deutschland nach Nr. 9003 Anlage 1 (zu § 3 Absatz 2 GKG) Kostenverzeichnis erhoben wird - ausschließt und auch zur Kostenübernahme für die Rücksendung der Akten zwingt.
Das Akteneinsichtsrecht des § 147 StPO umfasst lediglich die Befugnis des Strafverteidigers, die Akten auf der Geschäftsstelle des Gerichts selbst oder durch autorisierte Personen einzusehen oder aber die Akten bei dem Gericht oder der Staatsanwaltschaft selbst oder durch einen geeigneten Boten abzuholen, um sie in den Geschäftsräumen oder in der Wohnung einzusehen. Demgegenüber stellt die Aktenversendung an den Rechtsanwalt eine vom Gesetz nicht umfasste zusätzliche Leistung des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft dar. Diese ist erfahrungsgemäß mit zusätzlichen Kosten wie Verpackungs- und Transportkosten verbunden, die sich angesichts des Umfangs, in dem in der Praxis Aktenversendungen beantragt werden, zu einer nicht unerheblichen Belastung für die Justizhaushalte summieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. März 1996 - 2 BvR 386/96 -, NJW 1996, S. 2222 f.). Da der Aktenversand im Vergleich zur Einsicht eine zusätzliche Leistung darstellt, muss eine Kostenpflicht des Aktenversands weiterhin ermöglicht werden.
Der Bundesrat erinnert mit Nachdruck daran, dass die praktische Umsetzung der Richtlinie in erster Linie Aufgabe der Ermittlungsbehörden und der Gerichte sein wird, die sonst zu erwartenden finanziellen Mehrbelastungen mithin die Länder treffen werden. Eine spürbare Mehrbelastung der Länderhaushalte kann angesichts der äußerst angespannten Haushaltslage nicht hingenommen werden. Die Rahmenvorgaben sollten so ausgestaltet sein, dass zusätzliche Belastungen für die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte vermieden werden.
Der Bundesrat bittet daher die Bundesregierung dringend, im Rahmen der Verhandlungen auf europäischer Ebene darauf hinzuwirken, dass in der Richtlinie klargestellt wird, dass ein über die Akteneinsicht hinausgehender Aktenversand nicht unentgeltlich gewährt werden muss.
- 15. Nach Artikel 8 Absatz 2 des Richtlinienvorschlags sollen die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass ein Verdächtiger oder Beschuldigter einen wirksamen Rechtsbehelf einlegen kann, wenn er für ihn maßgebliche Informationen nach den Artikeln 3 bis 7 nicht erhält. Abgesehen von der bereits vorhandenen Möglichkeit der Anfechtbarkeit von staatsanwaltschaftlichen oder richterlichen Entscheidungen bei der Versagung von Akteneinsicht, begründet der Verstoß gegen Belehrungspflichten, etwa über die Aussagefreiheit oder die Möglichkeit der Verteidigerkonsultation, im deutschen Strafprozess ein Verwertungsverbot. Der Verstoß ist revisibel, weshalb kein Bedürfnis für eine isolierte Anfechtung besteht.