Das Europäische Parlament,
- - in Kenntnis der Erklärung des EU-Ratsvorsitzes vom 2. Mai 2007 zur Lage vor der estnischen Botschaft in Moskau,
- - unter Hinweis auf die Erklärung seines Präsidenten Hans-Gert Pöttering zur Lage in Estland und die Aussprache vom 9. Mai 2007 im Plenum,
- - in Kenntnis der zahlreichen Erklärungen des Rates, der Kommission und der Regierungen der Mitgliedstaaten zur Unterstützung Estlands,
- - gestützt auf Artikel 103 Absatz 4 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass Demonstranten in der estnischen Hauptstadt und in Teilen von Nordostestland zwischen dem 26. und 28. April 2007 gegen die von der estnischen Regierung geplante Verlagerung des sowjetischen "Denkmals für die Befreier von Tallinn" aus der Innenstadt von Tallinn auf einen wenige Kilometer entfernten Militärfriedhof protestiert und zwei Nächte lang randaliert haben, wobei zunächst die Polizei angegriffen wurde und es in der Folge in der Innenstadt von Tallinn zu zahlreichen Fällen von Vandalismus kam,
B. in der Erwägung, dass Gewaltanwendung durch die Polizei nur in Extremsituationen beobachtet wurde und der estnische Justizkanzler keinerlei Fehlverhalten in der Arbeit der Polizei festgestellt hat,
C. in der Erwägung, dass die Regierung Estlands der Regierung der Russischen Föderation vorab die Gründe für diesen Beschluss dargelegt und angeboten hat, mit ihr bei der Verlagerung des Denkmals zusammenzuarbeiten, und ausdrücklich darum gebeten hat, dass Vertreter Russlands an den Exhumierungen teilnehmen, was die russischen Behörden aber abgelehnt haben,
D. in der Erwägung, dass die Exhumierungen streng nach internationalen Standards und nach den Normen für ein würdiges Vorgehen erfolgten, sowie in der Erwägung, dass das Denkmal auf dem Militärfriedhof mit einer offiziellen Zeremonie und unter Beteiligung von Vertretern der Anti-Hitler-Koalition neu eingeweiht wurde,
E. in der Erwägung, dass die gewaltsamen Demonstrationen und Angriffe gegen Recht und Ordnung unter aktiver Beteiligung von Kräften von außerhalb Estlands organisiert und durchgeführt wurden,
F. in der Erwägung, dass in Russland hochrangige Vertreter Erklärungen abgegeben haben und die Delegation der Staatsduma in einer offiziellen Erklärung bei ihrem Besuch in Tallinn die estnische Regierung zum Rücktritt aufgefordert hat,
G. in der Erwägung, dass der estnische Ministerpräsident Andrus Ansip erklärt hat, dass diese Vorfälle eine sorgfältig koordinierte und flagrante Einmischung in die inneren Angelegenheiten Estlands darstellen,
H. in der Erwägung, das unmittelbar nach den Krawallen in Tallinn der normale Betrieb der estnischen Botschaft in Moskau sieben Tage lang von feindseligen Demonstranten der regierungsnahen russischen Jugendorganisation "Nashi" blockiert wurde, wobei die estnische Botschafterin und der schwedischen Botschafter tätlich angegriffen wurden, damit gedroht wurde, das Botschaftsgebäude zu zerstören, die estnische Flagge auf dem Gelände der Botschaft niedergerissen und Estland als "faschistisches" Land beschimpft wurde,
I. in der Erwägung, dass im Internet systematische Angriffe, größtenteils von außerhalb von Estland, organisiert wurden, mit denen versucht wurde, die offiziellen Kommunikationskanäle und die Websites estnischer Regierungsstellen lahmzulegen, und dass diese Angriffe von IP-Adressen der russischen Verwaltung kamen; ferner in der Erwägung, dass nach wie vor intensive Propagandaangriffe im Internet kursieren und in SMS-Nachrichten zu bewaffnetem Widerstand und weiterer Gewalt aufgerufen wird,
J. in der Erwägung, dass nur wenige Tage nach den Ereignissen von Tallinn weitreichende Einschränkungen für estnische Exporte nach Russland eingeführt wurden, wobei russische Unternehmen Verträge mit estnischen Firmen aufkündigten, die Energieversorgung Estlands bedroht wurde und die Zugverbindung Estland-St. Petersburg ab Ende Juni 2007 eingestellt wird,
K. in der Erwägung, dass die russischen Behörden, einschließlich der Delegation der Staatsduma, sich bislang leider geweigert haben, mit den estnischen Behörden in einen Dialog zu treten, und es sogar abgelehnt haben, an einer gemeinsamen Pressekonferenz im Außenministerium teilzunehmen,
L. in der Erwägung, dass der Metropolit der Estnisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats, Kornelius, verlautbart hat, dass es keine Gründe für einen Konflikt zwischen den Volksgruppen gibt und dass er keinen Grund sieht, die Ausschreitungen als Konflikt zwischen der estnischsprachigen und der russischsprachigen Bevölkerungsgruppe darzustellen,
M. in der Erwägung, dass die Ereignisse durch Fehlinformationen von Seiten russischer Medien noch weiter angeheizt wurden, was jeweils weitere Proteste auslöste,
N. in der Erwägung, dass nur ein geringer Teil der russischstämmigen Bevölkerung an den Demonstrationen und den Plünderungen teilgenommen hat, dass die zahlreichen Polizisten russischer Abstammung ihre Aufgaben ausgezeichnet wahrgenommen haben, sowie in der Erwägung, dass die große Mehrheit aller Befragten das Verhalten der estnischen Regierung gebilligt hat,
O. in der Erwägung, dass Estland als unabhängiger Mitgliedstaat der Europäischen Union und der NATO das souveräne Recht hat, seine tragische jüngste Vergangenheit zu überdenken, die mit dem Verlust der Unabhängigkeit infolge des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 anfing und erst 1991 endete,
P. in der Erwägung, dass die sowjetische Besetzung und Annexion der baltischen Staaten von den westlichen Demokratien nie als rechtmäßig anerkannt wurde,
Q. in der Erwägung, dass es in seiner Entschließung vom 12. Mai 2005 zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa am 8. Mai 19451 zu der Schlussfolgerung gelangte, dass "das Ende des Zweiten Weltkriegs für einige Nationen eine erneute Diktatur, diesmal durch die stalinistische Sowjetunion, bedeutete", und die Länder Mittel- und Osteuropas dazu beglückwünschte, "nach so vielen Jahrzehnten unter sowjetischer Herrschaft und Besatzung" endlich frei geworden zu sein,
R. in der Erwägung, dass die Russische Föderation als Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion als einziger Staat immer noch leugnet, dass die baltischen Staaten der Sowjetunion unrechtmäßig einverleibt wurden,
- 1. erklärt seine Solidarität mit der demokratisch gewählten Regierung Estlands und unterstützt sie in ihren Bemühungen, für alle Einwohner Estlands Ordnung und Stabilität sowie Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten;
- 2. ist der Auffassung, dass die gegen einen der kleinsten EU-Mitgliedstaaten gerichteten Angriffe einen Testfall für die Solidarität der Europäischen Union darstellen;
- 3. hält die diversen Versuche der russischen Behörden, sich in die inneren Angelegenheiten Estlands einzumischen, für unzulässig;
- 4. ist alarmiert über die unzureichende Absicherung der estnischen Botschaft in Moskau durch die russischen Behörden und über die tätlichen Angriffe der "Nashi"-Demonstranten auf den estnischen Botschafter; fordert die russische Regierung auf, das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen von 1961 uneingeschränkt zu respektieren;
- 5. verurteilt die Versuche Russlands, als Mittel der Außenpolitik wirtschaftlichen Druck auf Estland auszuüben, und fordert die russische Regierung auf, die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Staaten wieder zu normalisieren;
- 6. erinnert die russische Regierung daran, dass die willkürlich offen feindselige Rhetorik der russischen Behörden gegenüber Estland in scharfem Kontrast zu den Grundsätzen des internationalen Verhaltenskodex stehen und Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland insgesamt haben werden;
- 7. fordert die Kommission und alle Mitgliedstaaten auf, an der Untersuchung der Internetangriffe auf estnische Webseiten mitzuwirken und eine Studie vorzulegen, die sich damit befasst, wie auf EU-Ebene mit derartigen Übergriffen und Drohungen umgegangen werden kann, und fordert Russland auf, diese Untersuchungen in vollem Umfang zu unterstützen;
- 8. fordert die russische Regierung auf, mit den mittel- und osteuropäischen Demokratien einen offenen und unvoreingenommenen Dialog über die Geschichte des 20. Jahrhunderts und über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufzunehmen und dabei auch die damals im Namen des totalitären Kommunismus verübten Verbrechen anzusprechen;
- 9. begrüßt den Appell des estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves, der erklärte, dass die Menschen, die in der Zeit der Sowjetunion nach Estland kamen und jetzt in der Republik Estland leben, sowie ihre Kinder und Enkelkinder ausnahmslos estnische Mitbürger seien, und dass alle Esten ihre eigene, sehr schmerzvolle, historische Lebenserfahrung mit drei aufeinander folgenden Besatzungsmächten im letzten Jahrhundert haben, und dass jeder deshalb auch Verständnis für die Tragödien anderer Menschen aufbringen müsse, und der alle Betroffenen daran erinnerte, dass deshalb der Dialog zwischen den verschiedenen Volksgruppen in Estland verbessert werden müsse, um die zwischen ihnen bestehende Kluft zu überwinden und auch fürderhin neue Möglichkeiten insbesondere für die Integration der russischsprachigen Mitbürger zu schaffen;
- 10. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, der Regierung und dem Parlament Estlands sowie der Regierung und dem Parlament der Russischen Föderation zu übermitteln.
- 1 ABl. C 92 E vom 20.4.2006, S. 392.