838. Sitzung des Bundesrates am 9. November 2007
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union empfiehlt dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat nimmt den Bericht der Kommission "Bessere Rechtsetzung 2006" zur Kenntnis.
- 2. Der Bundesrat stellt fest, dass entgegen der Forderung des Bundesrates vom 3. November 2006 (BR-Drucksache 434/06(B) ) dem Bericht erneut ein ausführliches Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen lediglich in englischer Sprache beigefügt ist. In diesem Dokument werden verschiedene Einzelfälle dargestellt inwieweit die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit Auswirkungen auf die Rechtsetzungstätigkeit auf EU-Ebene hatte. Das Dokument enthält damit wichtige Informationen über die Reichweite beider Grundsätze in der Praxis, die für den Bundesrat einen besonderen Stellenwert besitzen. Nach Auffassung des Bundesrates ist es nicht länger hinnehmbar, dass die Kommission die Entscheidung über die Übersetzung eines Dokuments schematisch allein aufgrund rein formaler Kriterien trifft ohne die Bedeutung der Papiere in Betracht zu ziehen. Der Bundesrat sieht darin eine Beeinträchtigung der politischen Debatte in den Gremien der Mitgliedstaaten und der Regionen sowie in der Öffentlichkeit. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung in diesem Sinne auf die Kommission einzuwirken, damit die politisch wichtigen Dokumente zukünftig rechtzeitig und vollständig in allen EU-Amtssprachen und damit auch in deutscher Sprache vorliegen.
Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit
- 3. Der Bundesrat stellt fest, dass die Kommission im Rahmen ihrer Berichterstattung entsprechend Nummer 9 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit in den letzten Jahren dazu übergangen ist, den Schwerpunkt einseitig auf die Darstellung der Entwicklungen und Fortschritte der EU-Initiativen und Maßnahmen zur "Besseren Rechtsetzung" zu setzen.
Im Gegensatz zu zahlreichen weiteren Berichten, Konsultationspapieren und konkreten Rechtsetzungsvorschlägen der Kommission im Bereich der "Besseren Rechtsetzung" fehlt es in dem für den Bundesrat besonders wichtigen Bereich der Wahrung des Subsidiaritätsgrundsatzes an zusätzlichen Erkenntnisquellen auf EU-Ebene. Dem Bericht der Kommission nach Artikel 9 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit kommt damit grundlegende Bedeutung zu. Die vorliegende Fassung des Berichts wird diesem Anspruch weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht gerecht. Die Kommission kommt damit ihrer primärrechtlich verankerten Verpflichtung nicht hinreichend nach, jährlich über die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips substantiell zu berichten. Der Bundesrat ersucht die Kommission daher, im kommenden 15. Bericht der Darstellung der Entwicklungen und Fortschritte in diesem Bereich deutlich breiteren Raum als bisher einzuräumen. Der Bundesrat erwartet, dass dabei zukünftig auch auf die Stellungnahmen der nationalen Parlamente zu den Konsultationspapieren angemessen eingegangen wird.
- 4. Der Bundesrat begrüßt, dass die Rolle der nationalen Parlamente bei der Subsidiaritätsprüfung durch die im EU-Reformvertrag vorgesehenen neuen Verfahrensrechte in Form der Subsidiaritätsrüge und Subsidiaritätsklage deutlich gestärkt wird. Der Bundesrat sieht in diesen neuen Rechten kein Instrument zur Verhinderung des fortzusetzenden Integrationsprozesses auf EU-Ebene, sondern vielmehr einen wichtigen Bestandteil des europäischen Willensbildungsprozesses.
Die Kommission wird dadurch allerdings stärker als bisher bei der Erarbeitung von Rechtsetzungsvorschlägen zu bedenken haben, wie weit europäische Zuständigkeiten reichen und ab welchem Punkt auf die Entscheidungen der zuständigen Organe der Mitgliedstaaten vertraut werden kann.
- 5. Der Bundesrat teilt in diesem Zusammenhang nicht die Auffassung der Kommission, wonach die Frage der Zuständigkeit der EU nicht von der Subsidiaritätsrüge erfasst sei. Vielmehr schließt die Subsidiaritätsprüfung auch eine Prüfung der Zuständigkeit der EU mit ein. Der Grundsatz der Subsidiarität ist ein Kompetenzausübungsprinzip. Gegen das Subsidiaritätsprinzip wird auch dann verstoßen, wenn keine Kompetenz der Union besteht. Daher muss im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung zunächst die Frage der Rechtsgrundlage geprüft werden. Außerdem wäre es widersprüchlich, wenn die nationalen Parlamente zwar Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip, nicht aber den noch schwerer wiegenden Eingriff, den ein Handeln der EU ohne Zuständigkeit darstellt rügen könnten.
- 6. Unabhängig davon begrüßt der Bundesrat die Bemühungen der Kommission zu einem Ausbau der eigenen Subsidiaritätsprüfung. Erste positive Auswirkungen sieht der Bundesrat in der abnehmenden Zahl von Kommissionsvorschlägen in den letzten Jahren, die Anlass für die Erhebung von Subsidiaritätsbedenken gegeben haben.
- 7. Allerdings ist der Bundesrat der Auffassung, dass der von der Kommission erarbeitete "Fragen- und Anweisungskatalog", der als Annex 3 dem Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zum 14. Bericht "Bessere Rechtsetzung 2006" beigefügt ist, nach wie vor in weiten Teilen offen lässt, in welcher Weise die Kommission bei der Ausarbeitung eines konkreten Rechtsetzungsvorschlags dem Subsidiaritätsgedanken gerecht geworden ist. Der Bundesrat bittet die Kommission daher, die internen Vorgaben, die den Dienststellen der Kommission durch den Prüfkatalog gemacht werden, weiter zu konkretisieren und den Katalog entsprechend zu überarbeiten. So sind etwa hinsichtlich der Frage nach der ausreichenden mitgliedstaatlichen Möglichkeit der Zielerreichung ausdrücklich die folgenden Aspekte zu thematisieren:
- - Würden alleinige Maßnahmen der Mitgliedstaaten zu nicht hinnehmbaren Wettbewerbsverzerrungen führen?
- - Können etwaige Probleme einzelner Mitgliedstaaten durch gezielte Hilfen aus bestehenden Programmen behoben werden?
- - Können die Ziele durch Zusammenarbeit einzelner Mitgliedstaaten erreicht werden?
Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit wird die Kommission aufgefordert, folgende Aspekte zu berücksichtigen:
- - Kommen auch andere Maßnahmen als der Erlass eines Rechtsaktes in Betracht (Maßnahmen im Rahmen der Ko- und Selbstregulierung)?
- - Nimmt die geplante Maßnahme auf die besonderen Verhältnisse in den einzelnen Mitgliedstaaten hinreichend Rücksicht (zum Beispiel hinsichtlich der Struktur der Rechtssysteme)?
- - Könnte die Geltungsdauer der in Betracht gezogenen Maßnahme beschränkt werden?
- 8. Der Bundesrat bekräftigt seine Stellungnahme vom 12. Oktober 2007 (BR-Drucksache 569/07(B) ), in welcher er die seit September 2006 praktizierte direkte Einbindung der nationalen Parlamente in die europäische Politikgestaltung durch die Kommission ausdrücklich begrüßt. Der Bundesrat unterstützt die Kommission in ihrer Auffassung, dass die nationalen Parlamente wesentlich dazu beitragen können, den Prozess der Politikgestaltung in der EU zu verbessern. Auch nach Inkrafttreten des EU-Reformvertrags bleibt es erforderlich, dass die nationalen Parlamente weiterhin zu allen Vorschlägen und Konsultationspapieren nicht nur hinsichtlich der Frage des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, sondern umfassend gegenüber der Kommission Stellung beziehen können. Der Bundesrat ersucht die Kommission daher ihre jetzige Praxis ungeachtet der förmlichen Rechte der nationalen Parlamente nach dem EU-Reformvertrag fortzuführen.
Allerdings ist nach Auffassung des Bundesrates die Art und Weise, wie die Kommission in der überwiegenden Zahl der Fälle zu den Beiträgen des Bundesrates Stellung nimmt, verbesserungsbedürftig. Nur selten geht die Kommission auf die von ihm vorgetragenen Argumente ein. Vielmehr werden in der Antwort der Kommission lediglich die im Kommissionsvorschlag bereits enthaltenen Ausführungen wiederholt. Damit bleibt im Unklaren, inwieweit die Kommission die Anregungen des Bundesrates im Rahmen des weiteren Willensbildungsprozesses tatsächlich berücksichtigt hat. Der Bundesrat bittet die Kommission daher, bei der Befassung mit seinen Stellungnahmen der mit Einbindung der nationalen Parlamente bezweckten größeren Transparenz bei der europäischen Politikgestaltung noch stärker als bisher Rechnung zu tragen.
- 9. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist für die Überwachung der Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zuständig. Die praktische Wirksamkeit der neuen Mechanismen zur Stärkung dieser Grundsätze im EU-Reformvertrag wird wesentlich vom Umfang der richterlichen Kontrolle des Subsidiaritätsgrundsatzes abhängen. Insofern wäre eine intensive materielle Prüfung durch den EuGH sehr hilfreich.
Ergänzend zu den bisherigen Bemühungen des Rates, des Europäischen Parlaments und der Kommission um eine verstärkte Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips im EU-Rechtsetzungsverfahren ist der EuGH auch bereits vor Inkrafttreten des Reformvertrags aufgerufen, dem Vorbringen von Verfahrensbeteiligten betreffend die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips bei seiner Entscheidungsfindung Beachtung zu schenken.
Bessere Rechtsetzung
- 10. Hinsichtlich des Berichts der Kommission über den Stand und Fortschritte bei den einzelnen Maßnahmen zur besseren Rechtsetzung auf EU-Ebene bekräftigt der Bundesrat seine früheren Beschlüsse zu dieser Initiative - Stellungnahmen vom 8. Juli 2005, BR-Drucksache 286/05(B) , vom 10. März 2006, BRDrucksache 817/05(B) , und vom 16. Februar 2007, BR-Drucksache 871/06(Beschluss) . Der Bundesrat betont insbesondere, dass die Kommission zu einer weitaus stärkeren und spürbaren Rechtsbereinigung als bisher kommen muss. Die hierzu bislang von der Kommission vorgelegten Vorschläge bleiben weit hinter den eigenen Ankündigungen und den berechtigten Erwartungen der Mitgliedstaaten zurück. Der Bundesrat fordert die Kommission daher auf, den Arbeiten zur Rechtsvereinfachung und -bereinigung Vorrang einzuräumen.
Nötigenfalls sollten durch Umschichtung von vorhandenen Ressourcen und weiteren organisatorischen Maßnahmen innerhalb der Kommission die hierzu erforderlichen Voraussetzungen geschaffen werden.
- 11. Darüber hinaus begrüßt der Bundesrat, dass die Kommission sich verpflichtet hat die Transparenz und die Rechenschaftspflicht für ihre Sachverständigengruppen zu erhöhen und eine Bestandsaufnahme der vorhandenen Fälle von EU-Selbstregulierung und Koregulierung zu erstellen. Daneben sieht der Bundesrat in der Einrichtung eines öffentlichen Registers für alle Interessensvertreter, die Einfluss auf Entscheidungen der EU-Organe nehmen wollen, einen weiteren wichtigen Beitrag für mehr Transparenz im Rechtsetzungsverfahren auf EU-Ebene. Mit einer Eintragungspflicht für alle "Lobbying-Organisationen" kann zudem sichergestellt werden, dass sich die Kommission und die Öffentlichkeit umfassend und verlässlich darüber informieren können, wer hinter den vertretenen Positionen und dargelegten Interessen tatsächlich steht.
- 12. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.