Der Bundesrat hat in seiner 885. Sitzung am 8. Juli 2011 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission im Rahmen ihrer Initiative zum Schutz der finanziellen Interessen der EU gründlich analysieren will, auf welche Weise die Strukturen der EU verstärkt werden müssen, damit sie strafrechtliche Ermittlungen durchführen kann.
Er nimmt ferner zur Kenntnis, dass unter die "verstärkten Strukturen" aus Sicht der Kommission auch die Schaffung einer spezialisierten europäischen Strafverfolgungsbehörde wie der Europäischen Staatsanwaltschaft fällt, die gemeinsame Vorschriften zur Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der EU gerichteten Betrugsdelikten und sonstigen Straftaten konsequent und einheitlich anwenden kann.
- 2. Der Bundesrat weist darauf hin, dass es zwar in Artikel 86 AEUV eine Grundlage für eine Europäische Staatsanwaltschaft gibt. Gleichwohl ist deren in der Mitteilung erwogene Einrichtung, insbesondere mit Blick auf die Subsidiarität und die Verhältnismäßigkeit, genau zu prüfen.
- - Bislang ist die Notwendigkeit einer Europäischen Staatsanwaltschaft nicht hinreichend belegt. - Der Bundesrat weist ferner darauf hin, dass die unmittelbare Kommunikation der Strafverfolgungsbehörden im Schengen-Raum einen Fortschritt darstellt, zu dem ein zentrales Institut wie die Europäische Staatsanwaltschaft in einem Spannungsverhältnis steht.
- - Der Bundesrat erkennt an, dass unbeschadet der unmittelbaren Kontakte Koordinierungsbedarf bestehen kann. Dem wird jedoch bisher schon Rechnung getragen durch die Kontaktstellen im Europäischen Justiziellen Netz (EJN) und durch EUROJUST, das erst 2009 mit neuen Befugnissen ausgestattet wurde.
- - Schließlich weist der Bundesrat darauf hin, dass die Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft die Klärung diverser Fragen im Vorfeld voraussetzt:
So bedarf etwa genauerer Analyse, wer die Fachaufsicht und die parlamentarische Verantwortlichkeit hinsichtlich der Europäischen Staatsanwaltschaft ausüben soll; die Kommission wird dafür nicht in Betracht kommen.
Da ein wesentlicher Teil der staatsanwaltlichen Arbeit der richterlichen Kontrolle unterliegt, etwa bei Durchsuchungen, Haftbefehlen oder Beweisbeschlüssen, müssten auch hierfür entsprechende Lösungen angeboten werden.
Die derzeitige Praxis kann ferner dazu führen, dass sich ein Beschuldigter in mehreren Mitgliedstaaten auf der Grundlage verschiedener Verfahrensordnungen verteidigen muss. Wie eine effektive Verteidigung in diesem Umfeld gestaltet werden soll, wäre ebenfalls vorab zu klären.
- 3. Der Bundesrat nimmt ferner zur Kenntnis, dass im Rahmen der Initiative zum Schutz der finanziellen Interessen auch zentrale Straftatbestände wie Veruntreuung und Machtmissbrauch definiert werden sollen und zudem die Frage einer Angleichung der Bestimmungen über die gerichtliche Zuständigkeit und über die Verjährung näher geprüft werden soll.
Er nimmt zur Kenntnis, dass der angekündigte Vorschlag der Kommission zudem Bestimmungen über die Beihilfe und die Anstiftung zu derartigen Delikten, den Versuch ihrer Begehung sowie über Vorsatz und Fahrlässigkeit einschließen sowie Bestimmungen über die strafrechtliche Verantwortlichkeit von ernannten oder gewählten Amtsträgern und juristischen Personen enthalten könnte, soweit dies für den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union relevant wäre.
- 4. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die in der Mitteilung in Erwägung gezogenen Maßnahmen sehr weit gehende Auswirkungen auf die nationalen Strafrechtssysteme haben können und die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit deshalb besonders strikt zu beachten sind.
- - Soweit die Kommission Maßnahmen auf die Rechtsvorschriften zur Bekämpfung und Verhütung von gegen die finanziellen Interessen der EU gerichteten Betrugsdelikten (Artikel 310 Absatz 6 und Artikel 325 Absatz 4 AEUV) zu stützen gedenkt, bittet der Bundesrat, für eine strikte Begrenzung des Anwendungsbereichs der Maßnahmen auf entsprechende Straftaten Sorge zu tragen.
- - Der Bundesrat weist ferner darauf hin, dass die Mitteilung offen lässt, ob an die Schaffung unmittelbar anwendbarer gemeinschaftsrechtlicher Straftatbestände gedacht ist oder an Maßnahmen einer Harmonisierung des nationalen Strafrechts der Mitgliedstaaten. Mit der Wahl zwischen diesen beiden Möglichkeiten sind unterschiedlich intensive Wirkungen auf die bestehenden Strafrechtssysteme der Mitgliedstaaten verbunden. Der Bundesrat bittet darum, die jeweiligen Auswirkungen bei der Wahl der Vorgehensweise zu berücksichtigen.
- - Der Bundesrat gibt zudem zu bedenken, dass sowohl Maßnahmen der strafrechtlichen Gesetzgebung als auch der justiziellen Anwendung strafrechtlicher Normen in Deutschland noch weitergehenden verfassungsrechtlichen Beschränkungen unterliegen, als sie in der Mitteilung der Kommission in diesem Zusammenhang aufgeführt werden, insbesondere dem Schuldprinzip, das mit einem sozialethischen Unwerturteil verbundene Sanktionen nur in dem Maß zulässt, in dem die begangene Tat dem Beschuldigten persönlich vorwerfbar ist.
Er weist darauf hin, dass das Schuldprinzip in Deutschland der strafrechtlichen Verantwortlichkeit juristischer Personen Grenzen setzt und auch wichtige Vorgaben für etwaige Vorschriften zu Vorsatz und Fahrlässigkeit, zur Strafbarkeit des Versuchs sowie zur Strafbarkeit von Anstiftung und Beihilfe zu einer Tat bedingt.
- 5. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.