Der Bundesrat möge zu dem Jahresgutachten 2010/11 des Sachverständigenrates gemäß § 6 Absatz 1 SachvRatG und zu dem Jahreswirtschaftsbericht 2011 der Bundesregierung gemäß § 2 Absatz 1 StabG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat teilt die Einschätzung der Bundesregierung, dass der Wirtschaftsaufschwung 2010 sowohl der weltwirtschaftlichen Erholung, als auch dem Wirken konjunkturpolitischer Instrumente und dem flexiblen Einsatz der Kurzarbeit zu verdanken war. Er warnt jedoch davor, dies vorschnell als Signal eines anhaltenden Wirtschaftsaufschwungs zu deuten.
- 2. Aus Sicht des Bundesrates hat sich das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem der Sozialen Marktwirtschaft in der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise bewährt. Der Bundesrat begrüßt daher die Ankündigung der Bundesregierung, die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft international zu stärken. Er verweist darauf, dass eine solche Stärkung nicht nur die von der Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht angeführten offenen Marktbedingungen umfasst, sondern zwingend auch eine internationale Stärkung des Sozialstaatsgedankens beinhalten muss. Dazu gehört, das Paradigma der Selbstregulierung der Wirtschaft, insbesondere der Finanzwirtschaft noch stärker zu überprüfen. Der Bundesrat bedauert in diesem Zusammenhang, dass die Bundesregierung durch das GKV-Finanzierungsgesetz eines der zentralen Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft - die solidarische Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer - ausgehöhlt hat.
- 3. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die nationalen und internationalen Finanzmärkte immer noch starken Unsicherheiten unterworfen sind. Die bisherigen Reformbemühungen zur Stabilisierung des nationalen und internationalen Finanzsystems müssen intensiviert werden. Dazu bedarf es effizienter öffentlicher Kontrollmechanismen für Finanzprodukte und eines wirksamen Regulierungsrahmens. Ein wesentlicher Schritt hierzu ist die Einbeziehung des "grauen Kapitalmarkts" in die Finanzmarktregulierung. Von Bedeutung ist ferner die internationale Einführung einer Steuer auf Finanzmarkttransaktionen. Der Bundesrat begrüßt in diesem Zusammenhang, dass sich das EU-Parlament für eine Finanztransaktionssteuer ausgesprochen hat.
- 4. Angesichts der weiter zunehmenden internationalen Verflechtungen auf den Finanzmärkten und der dort sichtbar gewordenen Probleme und Verwerfungen setzt sich der Bundesrat für eine weitere Regulierung der Finanzmärkte, sowie Koordinierung und Kooperation innerhalb der Europäischen Union ein. Hier muss es insbesondere zu einer stärkeren Abstimmung und Koordination der Wirtschafts- und Finanzpolitiken der Mitgliedstaaten kommen. Finanzprodukte und auch der Regulierungsrahmen müssen so gestaltet werden, dass er sich nicht qua Komplexität der öffentlichen Kontrolle vollkommen entzieht. Nur eine vorsorgende Politik wird Spannungen innerhalb des Euroraumes verhindern können.
Zu einer solchen Politik gehört auch die ergebnisoffene Prüfung neuer Instrumente zur Finanzierung staatlicher Defizite wie der Ausgabe gemeinschaftlicher Euro-Bonds.
Zu einer solchen Prüfung gehört auch die Beantwortung der Frage, ob die Ausgabe von Euro-Bonds ein wirkungsvolles Instrument sein kann, um einen liquiden Markt für Staatsverschuldungen mit tragbaren Zinsen entstehen zu lassen und das Vertrauen in den Euro zu stärken.
- 5. Aus Sicht des Bundesrates gehört zu einer dauerhaften Stabilisierung des Euroraums auch der Abbau von übermäßigen Leistungsbilanzungleichgewichten. Der Bundesrat sieht hier entgegen der Auffassung der Bundesregierung und des Sachverständigenrates auch die Überschussländer in der Pflicht. Zur Stärkung der Binnennachfrage sollte sich die Lohnentwicklung an der Produktivitätssteigerung und der EZB-Zielinflationsrate ausrichten. Ergänzend ist die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns und die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf alle Branchen unerlässlich. Als wichtigen Schritt in diese Richtung mahnt der Bundesrat nun die kurzfristige Einführung des im Rahmen des Vermittlungsverfahrens Hartz IV vereinbarten Mindestlohns im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz für die Zeitarbeitsbranche an.
- 6. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die Sanierung der öffentlichen Haushalte eine wichtige Herausforderung der kommenden Jahre darstellt. Aus Sicht des Bundesrates muss die Haushaltskonsolidierung aber sozial ausgewogen sein und darf nicht zu Lasten einzelner Bevölkerungsgruppen oder einzelner Wirtschaftszweige erfolgen. Diesem Anspruch werden die bisherigen Konsolidierungsbemühungen der Bundesregierung, insbesondere durch das Haushaltsbegleitgesetz 2011, nicht gerecht.
- 7. Der Bundesrat teilt die Auffassung des Sachverständigenrates, dass der Spielraum für Steuersenkungen sehr begrenzt ist. Vielmehr hält er zum Ausbau notwendiger öffentlicher Dienstleistungen, für wichtige Zukunftsinvestitionen in den Bereichen Bildung, Forschung und Klimaschutz sowie zur Herstellung einer größeren Verteilungsgerechtigkeit die Stabilisierung der Einnahmenseite für dringend erforderlich. Davon unabhängig ist der Bundesrat der Auffassung, dass eine haushaltsneutrale Steuervereinfachung anzustreben ist. Die bisherigen Initiativen der Bundesregierung auf diesem Gebiet sind jedoch viel zu zögerlich. Sie führen zu keiner greifbaren Vereinfachung des Steuerrechtes, die gerade aus Sicht mittelständischer Unternehmen geboten ist.