954. Sitzung des Bundesrates am 10. März 2017
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union, der Ausschuss für Innere Angelegenheiten, der Rechtsausschuss und der Wirtschaftsausschuss empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß Artikel 12 Buchstabe b EUV wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass der Richtlinienvorschlag in der vorliegenden Form nicht den Grundsätzen der Subsidiarität nach Artikel 5 Absatz 3 EUV und der Verhältnismäßigkeit nach Artikel 5 Absatz 4 EUV entspricht. Er beinhaltet ein Verfahren, das zu einer präventiven Vereinbarkeitskontrolle von nationalem Recht mit EU-Recht allein durch die Kommission führt. Die in dem Richtlinienvorschlag vorgesehenen Änderungen des bestehenden Notifizierungsverfahrens bedeuten einen erheblichen Eingriff in nationale Hoheitsrechte und sind im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit dem Demokratieprinzip höchst bedenklich.
- 2. Bisher müssen die Mitgliedstaaten neue nationale Vorschriften im Bereich der EU-Dienstleistungsrichtlinie 2006/123/EG (Dienstleistungsrichtlinie) nur nach Maßgabe der Artikel 15 Absatz 7 und Artikel 39 Absatz 5 Unterabsatz 2 notifizieren. Insbesondere hindert das geltende Notifizierungsverfahren die Mitgliedstaaten nicht daran, die betroffene Vorschrift sofort zu verabschieden und in Kraft zu setzen. Der Richtlinienvorschlag sieht indes vor, dass nationale Regelungsentwürfe erst nach Ablauf einer Stillhaltefrist von grundsätzlich drei Monaten erlassen werden können (Artikel 3 Absatz 3 und Artikel 5 Absatz 2 des Richtlinienvorschlags). Ausnahmen, zum Beispiel für dringliche Fälle, Gesetzentwürfe aus der Mitte des Parlaments oder Änderungsanträge von Abgeordneten, fehlen. Die Mitgliedstaaten müssen die zu notifizierenden Regelungsentwürfe nunmehr zwingend im Rahmen einer Vorabkontrolle umfassend begründen und konkrete Belege für die Verhältnismäßigkeit einer Regelung vorlegen (Artikel 3 Absatz 5 des Richtlinienvorschlags). Verstöße gegen die Notifizierungspflicht stellen einen wesentlichen und für den Einzelnen schwerwiegenden Verfahrensfehler dar (Artikel 3 Absatz 4 des Richtlinienvorschlags), der zur Unanwendbarkeit der betroffenen Regelung führt. Hält die Kommission den Entwurf für nicht vereinbar mit der Dienstleistungsrichtlinie, darf sie einen Beschluss (Artikel 7 des Richtlinienvorschlags) erlassen, mit dem sie dem Mitgliedstaat aufgibt, die betroffene Regelung nicht zu erlassen oder aufzuheben.
- 3. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass der Vorschlag bereits im Hinblick auf seine Vereinbarkeit mit dem Demokratieprinzip, das gemäß Artikel 2 Satz 1 EUV zu den elementaren Werten der EU gehört, Bedenken aufwirft. Angesichts des weiten Anwendungsbereichs der vorgeschlagenen Richtlinie wird künftig jede parlamentarische Tätigkeit, die einen Bezug zu Dienstleistungen aufweist, einem Genehmigungsvorbehalt der Kommission unterliegen. Dies bedeutet, dass mit dem Richtlinienvorschlag demokratisch legitimierte Parlamente unter die Kontrolle der Kommission - eines Exekutivorgans - gestellt werden sollen. Die Gesetzgebungskompetenz der Mitgliedstaaten im Dienstleistungsbereich wäre ausgehöhlt.
- 4. Die Subsidiaritätsrüge gemäß Artikel 12 Buchstabe b EUV erfasst auch die Frage der Zuständigkeit der EU - siehe hierzu die Stellungnahmen des Bundesrates vom 9. November 2007, BR-Drucksache 390/07(B) , Ziffer 5, vom 26. März 2010, BR-Drucksache 043/10(B) , Ziffer 2, und vom 16. Dezember 2011, BR-Drucksache 646/11(B) , Ziffer
- 2. Der Grundsatz der Subsidiarität ist ein Kompetenzausübungsprinzip. Gegen das Subsidiaritätsprinzip wird auch dann verstoßen, wenn keine Kompetenz der Union besteht. Daher muss im Rahmen der Subsidiaritätskontrolle zunächst geprüft werden, ob sich der Vorschlag auf eine für das Tätigwerden der EU erforderliche Rechtsgrundlage stützen lässt.
- 5. Ausweislich des Richtlinienvorschlags stützt sich dieser auf Artikel 53 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 62 AEUV und auf die Binnenmarktkompetenz des Artikels 114 AEUV. Artikel 53 Absatz 1 AEUV ermöglicht jedoch lediglich den Erlass von Richtlinien für die gegenseitige Anerkennung von Zeugnissen sowie zur "Koordinierung" mitgliedstaatlicher Vorschriften. Ein präventiver Prüfvorbehalt sämtlicher dienstleistungsbezogener Regelungen geht über eine reine koordinierende Tätigkeit im Zusammenhang mit der gegenseitigen Anerkennung von Zeugnissen jedoch deutlich hinaus. Ebensowenig ließe sich der Vorschlag auf Artikel 114 AEUV stützen: Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verleiht Artikel 114 AEUV dem Unionsgesetzgeber keine allgemeine Kompetenz zur Regelung des Binnenmarkts. Ein auf Grundlage von Artikel 114 AEUV erlassener Rechtsakt muss vielmehr tatsächlich zur Beseitigung bestehender Hemmnisse bei der Verwirklichung des Binnenmarktes beitragen oder spürbare Wettbewerbsverzerrungen beseitigen (vergleiche EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2000, Rechtssache C-376/98, Bundesrepublik Deutschland gegen Europäisches Parlament und Rat der EU) . Vorliegend ist weder dargetan noch ersichtlich, welche konkret drohenden mitgliedstaatlichen Maßnahmen einen derart gravierenden Eingriff in die Regelungskompetenz des nationalen Gesetzgebers rechtfertigen. Der Vorschlag beschränkt sich auf die schlichte Feststellung, dass eine "heterogene Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften verhindert und eine Angleichung der nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften im Hinblick auf die von der Dienstleistungsrichtlinie erfassten Dienstleistungen gefördert" werde. Dazu ermächtigt Artikel 114 AEUV nicht.
- 6. Mit der Zuweisung der Entscheidung über die Vereinbarkeit eines Maßnahmenentwurfs mit der Dienstleistungsrichtlinie an die Kommission ist darüber hinaus ein wesensverändernder Eingriff in das vertraglich geordnete Verhältnis der europäischen Institutionen untereinander verbunden. Der AEUV enthält ausdifferenzierte Regelungen zum Vertragsverletzungsverfahren, die im Ergebnis und auch lediglich inzident eine verbindliche nachträgliche "Normkontrolle" durch den EuGH ermöglichen. Dabei kann die Kommission gemäß Artikel 258 AEUV gegen einen Mitgliedstaat, wenn dieser ihrer Auffassung nach gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat, ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten, in dem letztlich der EuGH über die Einhaltung von EU-Recht entscheidet. Für grundlegende Änderungen dieses Verhältnisses, wie der Richtlinienvorschlag sie vorsieht, ist eine Vertragsänderung erforderlich.
- 7. Darüber hinaus steht der Vorschlag auch nicht im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Nach Artikel 5 Absatz 4 EUV dürfen Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinausgehen. Sie müssen insbesondere erforderlich und angemessen sein.
- 8. Ziel des Richtlinienvorschlags ist eine effektivere Überprüfung der mitgliedstaatlichen Rechtsetzung im Bereich der EU-Dienstleistungsrichtlinie und deren bessere Durchsetzung. Es existieren jedoch bereits Verfahren zur verbindlichen Überprüfung nationaler Rechtsetzung auf ihre Vereinbarkeit mit dem EU-Recht (Vertragsverletzungsverfahren). Warum hier Handlungsbedarf besteht, wird von der Kommission nicht nachvollziehbar begründet. Auch legt die Kommission nicht hinreichend dar, weshalb das bestehende Notifizierungsregime verschärft werden muss. Belastbare Belege für die von der Kommission behauptete Ineffizienz des bestehenden Notifizierungsverfahrens fehlen.
- 9. Die Maßnahme greift mit der Hemmung der nationalen Gesetzgebungsverfahren, der Auferlegung erheblicher Nachweispflichten und der Einführung eines Genehmigungsvorbehalts der Kommission für nationale Regelungen erheblich in die Souveränität der Mitgliedstaaten ein. Insbesondere vor diesem Hintergrund erachtet der Bundesrat sie auch für unangemessen.
- 10. Abschließend werden die vorgeschlagenen Änderungen auf der Ebene der Mitgliedstaaten zu einem deutlich erhöhten Verwaltungsaufwand führen, ohne einen Mehrwert zu bieten. Dass die damit verbundenen Kosten durch Einsparungen bei den Kosten für Vertragsverletzungsverfahren ausgeglichen würden, wird lediglich behauptet.