Der Bundesrat hat in seiner 956. Sitzung am 31. März 2017 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
Zur Vorlage allgemein
- 1. Der Bundesrat teilt die Einschätzung der Kommission, dass ungerechtfertigte bürokratische Hürden, die den freien Dienstleistungsverkehr behindern, weiter abgebaut werden sollten.
- 2. Er lehnt den Richtlinienvorschlag ab, da das darin beinhaltete Verfahren zu einer präventiven Vereinbarkeitskontrolle von nationalem Recht mit EU-Recht allein durch die Kommission führt. Die in dem Richtlinienvorschlag vorgesehenen Änderungen des bestehenden Notifizierungsverfahrens bedeuten einen erheblichen Eingriff in nationale Hoheitsrechte und in die nationalen Gesetzgebungskompetenzen.
- 3. Der Vorschlag steht nicht mit den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit nach Artikel 5 Absätze 3 und 4 EUV im Einklang. Der Bundesrat verweist in diesem Zusammenhang auf seine Subsidiaritätsstellungnahme vom 10. März 2017 (BR-Drucksache 6/17(B)).
Dies betrifft beispielsweise die Regelungen in Artikel 3 des Richtlinienvorschlags, wonach die in Artikel 4 des Richtlinienvorschlags definierten neu geplanten Genehmigungsverfahren und Anforderungen bereits im Entwurfsstadium drei Monate vor Inkrafttreten der Kommission zur Notifizierung und den anderen Mitgliedstaaten zur Konsultation vorgelegt werden müssen. Änderungen, die sich im parlamentarischen Beratungsverfahren ergeben, sollen ebenfalls der Vorabnotifizierung unterliegen.
- 4. Der Bundesrat stellt fest, dass eine solche Regelung faktisch zum Erliegen von Reformvorhaben führen könnte und kaum mit dem in Artikel 2 Satz 1 EUV formulierten Demokratieprinzip vereinbar ist.
- 5. Er rügt die fehlende Kompetenz der EU für den Richtlinienvorschlag. Dieser stützt sich auf Artikel 53 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 62 AEUV sowie auf Artikel 114 AEUV. Der präventive Prüfvorbehalt der Kommission geht über eine koordinierende Tätigkeit gemäß Artikel 53 Absatz 2 AEUV jedoch deutlich hinaus. Ein auf Grundlage von Artikel 114 AEUV erlassener Rechtsakt muss tatsächlich zur Beseitigung bestehender Hemmnisse bei der Verwirklichung des Binnenmarktes beitragen oder spürbare Wettbewerbsverzerrungen beseitigen (vergleiche EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2000, Rechtssache C-376/98, Bundesrepublik Deutschland gegen Europäisches Parlament und Rat der EU) . Vorliegend ist dies weder dargetan noch ersichtlich. Der Vorschlag beschränkt sich auf die schlichte Feststellung, dass eine "heterogene Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften verhindert und eine Angleichung der nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften im Hinblick auf die von der Dienstleistungsrichtlinie erfassten Dienstleistungen gefördert" werde. Dazu ermächtigt Artikel 114 AEUV nicht.
- 6. Mit dem Richtlinienvorschlag ist ein wesensverändernder Eingriff in das vertraglich geordnete Verhältnis der europäischen Institutionen untereinander verbunden. Der AEUV enthält ausdifferenzierte Regelungen zum Vertragsverletzungsverfahren, die im Ergebnis und auch lediglich inzident eine verbindliche nachträgliche "Normkontrolle" durch den Europäischen Gerichtshof ermöglichen. Der Kommission kommt dabei gemäß Artikel 258 AEUV lediglich eine einleitende Funktion zu. Der Bundesrat betont, dass grundlegende Modifikationen dieses Verhältnisses nicht im Wege einer Richtlinie bewirkt werden können, sondern eine Änderung des AEUV erfordern.
- 7. Er hält die vorgesehene Befugnis der Kommission, durch Beschluss die Unvereinbarkeit einer nationalen Regelung ohne vorherige Anrufung des EuGH feststellen zu können und dem Mitgliedstaat aufzuerlegen, vom Erlass der fraglichen Maßnahme Abstand zu nehmen bzw. sie aufheben zu lassen, für nicht akzeptabel und lehnt diese daher ab. Faktisch führt das geplante Verfahren ansonsten zu einer Beweislastumkehr zulasten des Mitgliedstaates, da dieser in der Folge gegen den Beschluss der Kommission selbst ein Verfahren vor dem EuGH anstoßen müsste. Es existieren bereits Verfahren zur verbindlichen Überprüfung nationaler Rechtsetzung auf ihre Vereinbarkeit mit dem EU-Recht (Vertragsverletzungsverfahren); der Bundesrat sieht daher keinen weiteren Handlungsbedarf.
- 8. Es bestehen - wie bereits dargelegt - auch erhebliche Zweifel an der Verhältnismäßigkeit des Vorschlags. Die Vorschläge reichen weit über das erforderliche Maß von Prüfkompetenzen der Kommission hinaus. Es bestehen bereits ausreichende Instrumente der Kommission zur Überprüfung nationaler Rechtsetzung (wie zum Beispiel das Vertragsverletzungsverfahren) mit spürbaren Sanktionsmöglichkeiten, die bei Verletzung von EU-Recht angewandt werden können.
- 9. Ungeachtet dessen sieht der Bundesrat erheblichen Nachbesserungsbedarf hinsichtlich des weitreichenden Anwendungsbereichs der vorgeschlagenen Richtlinie. Der Anwendungsbereich sollte ausschließlich auf gesetzliche Neuregelungen beschränkt werden. Eine darüber hinausgehende Notifizierung ist nicht erforderlich, da zum Beispiel Verwaltungsvorschriften ohnehin Ausfluss der gesetzlichen Regelungen sind. Im Übrigen würden diese Notifizierungen zu einem deutlich erhöhten Verwaltungsaufwand ohne ersichtlichen Mehrwert führen.
- 10. Der Bundesrat gibt zu bedenken, dass das vorgeschlagene Notifizierungsverfahren zu einer kaum kalkulierbaren Verzögerung von Rechtsetzungsverfahren führen kann.
Die Konsultationsfrist wird nach Unterrichtung des notifizierenden Mitgliedstaats durch die Kommission über das Vorliegen der vollständigen Unterlagen in Lauf gesetzt. Der Kommission selbst ist für die Prüfung der Vollständigkeit der Unterlagen und der Unterrichtung keine Frist gesetzt. Damit hat es die Kommission in der Hand, die Frist für den Konsultationszeitraum festzulegen. Für die Kommission sollte ebenfalls eine Frist bestehen.
Zu den im Rahmen der Notifizierung zu übermittelnden Unterlagen gehören auch konkrete Belege, die die Argumente der Mitgliedstaaten zur Vereinbarkeit der notifizierten Maßnahmentwürfe mit der Dienstleistungsrichtlinie erhärten. Die Anforderungen der Kommission an derartige Belege dürfen nicht überspannt werden. Insbesondere darf die Frage, ob die Belege die Argumente erhärten, keine Frage der Vollständigkeit der Unterlagen sein, sondern wäre von der Kommission und gegebenenfalls den übrigen Mitgliedstaaten im Rahmen der Konsultation zu erörtern.
Zu den einzelnen Vorschriften
- 11. Der Bundesrat hält die in Artikel 3 Absatz 4 des Richtlinienvorschlags enthaltene Rechtsfolge für bedenklich. Sie kann dazu führen, dass an sich europarechtskonforme Regelungen nicht angewandt werden dürfen, bei denen lediglich der Notifizierungspflicht nicht Genüge getan worden ist.
- 12. Nach Auffassung des Bundesrates bewirkt die in Artikel 3 Absatz 5 des Richtlinienvorschlags vorgesehene Pflicht der Mitgliedstaaten, konkrete Belege für die Verhältnismäßigkeit ihrer Regelungsentwürfe vorzulegen, eine unangemessene Steigerung des Verwaltungsaufwands. Eine nachvollziehbare Darlegung der Kommission, weshalb die Vorlage von Belegen geboten ist, fehlt.
- 13. Er spricht sich dafür aus, Artikel 4 des Richtlinienvorschlags zu überarbeiten. Die Verweise auf bestimmte Regelungen der EU-Dienstleistungsrichtlinie, die bisher schon zu Unklarheiten geführt haben, beseitigen diese Unklarheiten nicht hinreichend.
- 14. Der Bundesrat weist darauf hin, dass auch den Kommunen in Deutschland Befugnisse zur Festlegung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften zustehen, die in den Anwendungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie fallen. Diese Regelungen sind selten und örtlich begrenzt. Es ist davon auszugehen, dass die Vorgaben der EU-Dienstleistungsrichtlinie von den Kommunen eingehalten werden. Vor dem Hintergrund, dass das Notifizierungsverfahren sehr aufwändig ist, die Relevanz der betreffenden lokalen Regelungen für den Binnenmarkt regelmäßig als gering einzuschätzen ist, die zur Rechtsetzung auf kommunaler Ebene und auf Ebene der Selbstverwaltungskörperschaften berufenen Organe (Vertretungen/Räte) teilweise nur selten tagen und es auch aus diesem Grunde fraglich erscheint, ob diesen Einheiten immer eine zeitnahe und sachgerechte Führung der Konsultationen möglich sein wird, ist es nicht angemessen, sie der Notifizierungspflicht zu unterwerfen. Es ist nicht erkennbar, dass das aufwändige Notifizierungsverfahren zu einer Verbesserung der Rechtsetzung durch die Kommunen führen wird, es verursacht vielmehr einen zusätzlichen Verwaltungsaufwand. Nicht unberücksichtigt gelassen werden darf, dass es Aufgabe der Kommunalaufsicht ist, die Übereinstimmung von kommunalem Satzungsrecht mit der Dienstleistungsrichtlinie sicherzustellen. Daher hält es der Bundesrat für erforderlich, Regelungen der Kommunen und Selbstverwaltungskörperschaften vom Anwendungsbereich der Richtlinie (Artikel 4 des Richtlinienvorschlags) auszunehmen.
- 15. Der Bundesrat widerspricht mit Nachdruck dem in Artikel 7 des Richtlinienvorschlags vorgesehenen Genehmigungsvorbehalt der Kommission. Dieser würde unangemessen in die Souveränität der Mitgliedstaaten eingreifen.
- 16. Der Bundesrat hat erhebliche Vorbehalte gegen die vorgesehene Benennung nur einer Behörde pro Mitgliedstaat, die für die Durchführung des Notifizierungsverfahrens verantwortlich sein soll. Aus dem Richtlinienvorschlag ergeben sich die Notwendigkeit und der Zweck dieser Regelung nicht.
- 17. Welche konkreten Aufgaben und Befugnisse diese Behörden haben sollen, ist unklar. Der Regelungsvorschlag übersieht dabei die föderale Ordnung der Bundesrepublik.
Sowohl dem Bund als auch den Ländern stehen jeweils originäre Rechtsetzungsbefugnisse zu. Daneben treten die Gemeinden, denen ebenfalls Rechtsetzungsbefugnisse zustehen. Auch die beruflichen Selbstverwaltungskörperschaften sind bei rechtsetzender Tätigkeit potenziell betroffen. Die Durchführung des Notifizierungsverfahrens muss weiterhin in der Zuständigkeit der rechtsetzenden Stellen liegen.
Der Bundesrat ist der Auffassung, dass es mit der Eigenstaatlichkeit der Länder kaum vereinbar ist, wenn sie im Rahmen der Rechtsetzung eine Behörde, die nicht zu ihrem Bereich gehört, beteiligen müssen. Insbesondere wäre es mit dem bundesstaatlichen Gefüge unverträglich, wenn einer solchen Behörde auch Aufsichts- und Weisungsbefugnisse zukämen.
- 18. Er empfiehlt in Abänderung der Bestimmungen in Artikel 9 des Richtlinienvorschlags zur Berücksichtigung der föderalen Struktur Deutschlands, die Einrichtung zuständiger Behörden für das Notifizierungsverfahren auf regionaler Ebene zuzulassen.
- 19. Der Bundesrat hat Bedenken, ob die den Mitgliedstaaten gesetzte Frist zur Umsetzung der Richtlinie von einem Jahr ausreichend ist, um die Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die erforderlich sind, um der Richtlinie nachzukommen. Vor Erlass derartiger Regelungen bedarf es intensiver Prüfung des Umsetzungsbedarfs und der Abwägung von Regelungsoptionen. Nur ein hinreichend bemessener Umsetzungszeitraum ermöglicht es den Mitgliedstaaten, ihren Anteil zum Gelingen des Notifizierungsverfahrens beizutragen.
- 20. Darüber hinaus befürchtet der Bundesrat, dass die vorgeschlagenen Änderungen auf der Ebene der Mitgliedstaaten zu einem deutlich erhöhten Verwaltungsaufwand führen, ohne einen Mehrwert zu bieten. Dass die damit verbundenen Kosten durch Einsparungen bei den Kosten für Vertragsverletzungsverfahren ausgeglichen würden, wird lediglich behauptet.
- 21. Insgesamt geht der Vorschlag der Kommission nach seiner Überzeugung über das gebotene Maß bei Weitem hinaus. Die Neuregelungen im Bereich des Notifizierungsverfahrens sollten sich nach Auffassung des Bundesrates auf die präzise Vorgabe der notifizierungspflichtigen Vorschriften sowie die Vereinheitlichung der bestehenden Verfahrensvorschriften beschränken. Sofern die Kommission Vollzugsdefizite der Mitgliedstaaten im bestehenden Notifizierungsverfahren wahrnimmt, regt er an, dass sie zunächst im Rahmen von unverbindlichen Leitlinien eine Anleitung zu Artikel 15 Absatz 7 und Artikel 39 Absatz 5 der Dienstleistungsrichtlinie erlässt.
Direktzuleitung an die Kommission
- 22. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.
*) Erster Beschluss des Bundesrates vom 10.03.17, BR-Drucksache 6/17(B)