Ein den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsener europäischer Einzelhandel COM (2018) 219 final
Der Bundesrat hat in seiner 968. Sitzung am 8. Juni 2018 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich, dass die Kommission eine Mitteilung zum europäischen Einzelhandel vorgelegt hat. Er stimmt der Kommission zu, dass für die Steigerung der Produktivität der Einzelhandelsbranche Reformen des Regulierungsrahmens zweckdienlich sein können. Dies gilt insbesondere für den stationären, nicht grenzüberschreitenden Einzelhandel.
- 2. In der Mitteilung verweist die Kommission auf Rechtsstaatlichkeitsanforderungen, die sich aus der EU-Dienstleistungsrichtlinie und einem aktuellen Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) für die stadtplanerische Einzelhandels-Standortentwicklung ergeben, darunter auch die Prüfung der Verhältnismäßigkeit und eine angemessene Berücksichtigung von Gemeinwohlzielen.
- 3. Die Kommission stellt zu Recht fest, dass die Regulierung des Einzelhandels vorrangig eine Aufgabe der Mitgliedstaaten bzw. der Regionen ist. Bei aller berechtigten Forderung nach Deregulierung der Branche müssen die Mitgliedstaaten hierbei auch die Möglichkeit haben, Regulierungen aus Gründen des Gemeinwohls und unter Beachtung von Nicht-Diskriminierung und Verhältnismäßigkeit beizubehalten, auch wenn diese Gründe in anderen Mitgliedstaaten anders gewichtet werden. So sind aus Sicht des Bundesrates Regulierungen zum Schutz der Innenstädte ebenso wie die Regulierung der Öffnungszeiten aus Gründen des Allgemeinwohls gerechtfertigt. Der Kommission ist allerdings zuzustimmen, dass insbesondere wirtschaftliche Bedarfsprüfungen nicht Voraussetzung für eine Niederlassung sein dürfen.
- 4. Der Bundesrat betont, dass die stadtplanerische Steuerung des Einzelhandels in Deutschland bereits jetzt gemeinwohlorientierten Zielen dient. Die Stärkung der wohnungsnahen Grundversorgungseinrichtungen zielt insbesondere auf eine fußläufig erreichbare Versorgung der Bevölkerung, die wenig mobilen Menschen entgegenkommt und Verkehr und Emissionen auch im Sinne der internationalen Klimaschutzziele zu vermeiden hilft.
- 5. Der Bundesrat sieht in der praktizierten Steuerung des Einzelhandels in Deutschland auf Basis des Städtebaurechts des Bundes (BauGB, BauNVO) die von der EU betonte Verhältnismäßigkeit in besonderer Weise gewahrt (Abwä-gungsprinzip, planerische Zurückhaltung, Erforderlichkeitsprüfung).
- 6. Das Urteil des EuGH vom 30. Januar 2018 (Rechtssache C-31/16, Visser) gibt angesichts eines zurzeit auf europäischer Ebene verhandelten Richtlinienvorschlags Anlass zur Sorge, dass möglicherweise eine unbestimmte Vielzahl von Bauleitplänen und Raumordnungsplänen der Kommission zu notifizieren sein könnte. Dies wird weder für erforderlich noch für praktikabel gehalten. Die Bundesregierung wird dringend gebeten, sich für eine möglichst rechtssichere Ausnahme von Vorschriften bezüglich der Stadtentwicklung oder Bodennutzung, der Stadtplanung und der Raumordnung von einer solchen Notifizierungspflicht einzusetzen.
- 7. Die Aufforderung der Kommission, den Innenstadt-Einzelhandel flankierend zur standortspezifischen Steuerung auch durch "eine Vielzahl unterschiedlicher Aktionen und Maßnahmen" zu unterstützen, betrachtet der Bundesrat in Deutschland bereits als sehr umfassend umgesetzt durch ein hoch entwickeltes Paket an Instrumenten, zu dem bauliche und organisatorische Maßnahmen der Städtebauförderung und die Aktivierung lokaler Netzwerke und Projekte durch Innenstadtinitiativen und auch durch Immobilien- und Standortgemeinschaften zählen.
- 8. Der Bundesrat teilt nicht die Ansicht der Kommission, dass sich vorhandene Vorschriften nachteilig auf die Produktivität des Einzelhandels auswirken und ein "unverhältnismäßig großes Hindernis für neue Marktteilnehmer" darstellen; vielmehr tragen die standortbezogenen Normen in Deutschland umgekehrt dazu bei, dass der Handel verlässliche und transparente Standortbedingungen vorfindet. Die standortbezogenen Regelungen wirken sich daher positiv auf die Investitions- und Arbeitsplatzsicherheit aus.
- 9. Zu dem in der Mitteilung angesprochenen Thema einer Abschaffung regionaler Angebotsbeschränkungen gibt der Bundesrat zu bedenken, dass mögliche Vorteile für Einzelhändler keine Eingriffe in die Vertragsfreiheit rechtfertigen können. Es muss Lieferanten und Einzelhändlern weiterhin offenstehen, vertraglich zu regeln, ob und zu welchen Konditionen und damit auch aus welchen Niederlassungen Einzelhändler beliefert werden. Ein Eingriff in die Vertragsfreiheit würde keine Deregulierung, sondern eine zusätzliche Regulierung darstellen.