914. Sitzung des Bundesrates am 20. September 2013
A
Der federführende Rechtsausschuss (R), der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik (AS), der Ausschuss für Frauen und Jugend (FJ) und der Wirtschaftsausschuss (Wi) empfehlen dem Bundesrat,
- 1. zu dem Gesetz die Einberufung des Vermittlungsausschusses gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes mit dem Ziel zu verlangen, das Gesetz grundlegend zu überarbeiten.
Begründung:*
* Ziffern 2 bis 26 setzen die Annahme von Ziffer 1 voraus.
- 2. Das Gesetz wird dem Ziel, den Menschenhandel einzudämmen beziehungsweise zu bekämpfen [sowie die erforderliche Überwachung von Prostitutionsstätten zu ermöglichen], nicht gerecht.
- 3. Das Gesetz, das der Umsetzung der Richtlinie 2011/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/Jl des Rates (ABl. L 101 vom 15.4.2011, S. 1) dienen soll, bleibt hinter den Vorgaben der Richtlinie zurück.
- 4. Menschenhandel in jeglicher Form ist eine besonders schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte und der Menschenwürde der Opfer, dem entschieden entgegengetreten werden muss. Das Gesetz hingegen beinhaltet lediglich eine Minimallösung und lässt die Gelegenheit ungenutzt, umfassende gesetzgeberische Maßnahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels zu ergreifen.
- 5. Die strafrechtliche Umsetzung der Richtlinie 2011/36/EU ist unzureichend, so bedürfen insbesondere die Änderungen der Straftatbestände des Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, des Menschenhandels zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft und der Förderung des Menschenhandels der Ergänzung, um dem Schutzzweck der Richtlinie zu entsprechen.
- 6. Im Bereich der Bekämpfung des Menschenhandels wurde der grundsätzlichen Kritik von Fachleuten an den schwer beweisbaren Tatbestandsvoraussetzungen der Menschenhandelsparagrafen, die in der Praxis nur zu wenigen Verurteilungen führen (zum Beispiel: das Opfer "dazu bringen"), nicht Rechnung getragen.
- 7. Aus Sicht der Rechtspraxis und des Opferschutzes bedarf es einer grundlegenden Überarbeitung der Straftatbestände der §§ 232 ff. StGB, um die bisher geringe Zahl der Verurteilungen dem tatsächlichen Ausmaß der Kriminalitätsform des Menschenhandels anzupassen. Insbesondere gilt es, § 233 StGB, der ohnehin zur Umsetzung der Richtlinie überarbeitet werden muss, grundlegend zu reformieren. Eine Reform dieser Vorschrift ist dringend notwendig, um die Anwendung des Tatbestands, der bislang praktisch kaum zur Anwendung kommt, zu vereinfachen und zu erreichen, dass er aus seinem bisherigen Schattendasein heraustritt. Der Gesetzesantrag Niedersachsens (BR-Drucksache 528/13 (PDF) ) bietet hierfür eine Grundlage. In der Begründung des Gesetzentwurfs (BT-Drucksache 17/13706) werden die Mängel und die Kritik unter anderem aus der Strafverfolgungs- und Rechtspraxis zwar benannt, die Prüfung und Erarbeitung einer umfassenderen Regelung auch außerhalb des Strafrechts zur Verbesserung der Bekämpfung des Menschenhandels und zur Besserstellung seiner Opfer aber in unzureichender Weise erst für die nächste Wahlperiode angekündigt.
- 8. Lücken im Bereich der Opferentschädigung werden ebenfalls nicht geschlossen.
- 9. Ferner bedarf die Einführung eines gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrechts für Beraterinnen und Berater weiterer Prüfung.
- 10. Ein weiterer wichtiger Baustein zur effektiven Bekämpfung des Menschenhandels ist die Stärkung der Opfer von Menschenhandel. Diesen Teilaspekt klammert das Gesetz aus.
- 11. Darüber hinaus lässt das Gesetz den Bereich des Aufenthaltsrechts und den diesbezüglichen Regelungsbedarf völlig unbeachtet. Der Aufenthalt von Opfern von Menschenhandel aus Drittstaaten ist
- 12. [vorrangig] daran gekoppelt, dass sie mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten und gilt nur bis zum Abschluss des Strafverfahrens. Bei fehlender Aussagebereitschaft oder bei geleisteter Zeugenaussage droht nach Abschluss des Strafverfahrens, soweit keine weitergehenden humanitären Gründe vorliegen, die Abschiebung und damit die zwangsweise Rückkehr in die Situation, die sie in den Menschenhandel gedrängt hat beziehungsweise zum Opfer des Menschenhandels hat werden lassen. Ein vom Strafverfahren unabhängiges Aufenthaltsrecht würde den Betroffenen die notwendige Sicherheit geben, sich frühzeitig und aktiv als Opfer von Menschenhandel zu erkennen zu geben, wodurch auch die Ermittlungsarbeit der Strafverfolgungsbehörden erleichtert würde.
- 13. Die Ausgestaltung dieses Aufenthaltsrechts muss den besonderen Erfordernissen der Situation Rechnung tragen, in der sich die Betroffenen befinden. So dürfen etwa aufenthaltsrechtliche Beschränkungen nicht an der Teilnahme an Zeugenschutzprogrammen hindern.
- 14. Das Gesetz kommt der Verpflichtung aus Artikel 19 der Richtlinie 2011/36/EU zur Schaffung einer nationalen Berichterstatterstelle oder der Einführung gleichwertiger Mechanismen, die Ergebnisse der Maßnahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels messen und bewerten, nicht nach.
Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe Menschenhandel als bewährtes Vernetzungsgremium ist dafür nicht geeignet.
- 15. Auch das Ziel, die Situation und den Schutz von Prostituierten ausreichend zu verbessern, kann mit dem vorliegenden Gesetz nicht erreicht werden.
- 16. Das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (Prostitutionsgesetz) hat einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, die Ausbeutung von Prostituierten zu bekämpfen, indem es das Thema aus einem gesellschaftlichen Graubereich geholt hat. Die weitere Regelungsbedürftigkeit der Prostitution ist gleichwohl spätestens seit der Evaluation des Prostitutionsgesetzes deutlich geworden. Neue, auf maximalen Profit ausgerichtete Betriebskonzepte sowie die Öffnung der EU nach Südosteuropa haben die Situation in der Prostitution zusätzlich verschärft.
- 17. Die Regelungen zur Überwachung von Prostitutionsstätten in Artikel 2 des Gesetzes sind in keiner Weise geeignet, die tatsächlichen und rechtlichen Problemstellungen im Zusammenhang mit Prostitution und Menschenhandel zu lösen. Es wird die Chance vertan, ein der Komplexität der Thematik angemessenes, umfassendes Regelwerk, das eine Vielzahl von Rechtsgebieten betrifft, zu schaffen.
- 18. Aus Sicht der Länder reicht es nicht aus, Bordelle als Prostitutionsstätten in den Katalog der "überwachungsbedürftigen Gewerbe" der Gewerbeordnung aufzunehmen.
- 19. Die Einordnung des Betriebs von Prostitutionsstätten als nach der Gewerbeordnung "überwachungsbedürftiges Gewerbe" wäre ein erster, allerdings völlig unzureichender Schritt zur besseren rechtsstaatlichen Kontrolle der Prostitution. Gerade Prostitutionsstätten sind im hoch differenzierten Feld der Prostitution umfassend regelungsbedürftig. Die vorliegende Lösung bleibt deutlich hinter den Regelungserfordernissen und den auf Bundesebene bereits vorliegenden Forderungen der Länder zurück.
- 20. Unzureichend an dem Gesetz ist insbesondere, dass keine Erlaubnispflicht für Bordellbetriebe vorgesehen ist, sondern sie lediglich dem überwachungsbedürftigen Gewerbe zugeordnet und die Auflagen für den Betrieb nicht konkret geregelt werden.
- 21. Notwendig wäre vor allem eine exante Kontrolle der Betriebe in Form einer Erlaubnispflicht, um möglichst frühzeitig gegen Einrichtungen vorgehen zu können, die von Betreiberseite oder vom Betriebskonzept (zum Beispiel Flatrate-Bordelle) her eine Gefahr für das Selbstbestimmungsrecht und die Gesundheit von Prostituierten, die öffentliche Sicherheit oder die Jugend darstellen. Eine entsprechende Erlaubnis hätte überdies eine größere Rechtssicherheit für diejenigen Betriebe zur Folge, die die notwendigen Standards nachweisen können.
- 22. Die vorgesehenen Auflagemöglichkeiten sind zu allgemein gefasst und nicht auf die speziellen Erfordernisse und typischen Gefährdungspotenziale des Prostitutionsgewerbes zugeschnitten. Nicht erwähnt werden beispielsweise Mindestanforderungen an gesundheitliche, hygienische oder räumliche Bedingungen, unter denen Prostitution in Einrichtungen ausgeübt werden sollte.
- 23. Neben den Erfordernissen an die Räumlichkeiten der Prostitutionsstätte sind zudem die Erfordernisse an die Person der Betreiberin oder des Betreibers, an die Person der oder des Prostituierten sowie an den Arbeits-, Sicherheits- und Gesundheitsschutz ungeklärt. Dies bedarf einer umfassenden spezialgesetzlichen Lösung.
- 24. Regelungen und Kriterien zur rechtlichen Einordnung von selbständig tätigen Prostituierten, zur Regulierung der Wohnungsprostitution, zu der gewerblichen Vermittlung von Prostitution oder von Veranstaltungen, bei denen sexuelle Dienstleistungen außerhalb von Prostitutionsstätten angeboten werden, fehlen gänzlich.
- 25. Das Problem der Wohnungsprostitution bleibt durch das Gesetz daher ungelöst. Nach den vorliegenden Erkenntnissen wird ein Großteil der Opfer von Menschenhandel nicht in offiziell bekannten Bordellen, sondern in der Wohnungsprostitution aufgefunden. Auf Grund dessen sind unter anderem dringend notwendige Kontrollen zu ermöglichen und ausbeuterische Wohnungsprostitution zu verhindern, um in diesem Bereich wirkungsvoll dem Menschenhandel zu begegnen. Dieses Ziel wird mit dem Gesetz nicht erreicht. Die Wohnungsprostitution wird von den rechtlichen Vorgaben ausgenommen, so dass die Mehrheit der Menschenhandelsopfer in der Prostitution weiterhin unentdeckt bleiben wird. Den Vollzugsbehörden wird es nicht ermöglicht, hier den Menschenhandel wirkungsvoll einzudämmen. Es ist weiterhin möglich, mit der Ausbeutung insbesondere von Frauen außerordentliche Gewinne zu erzielen. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass Prostitutionsstättenbetreiber und -betreiberinnen, bei denen die maximale Gewinnerzielung im Vordergrund steht, erst recht in die Wohnungsprostitution ausweichen werden, wenn dieser Bereich ungeregelt bleibt.
- 26. Aus Sicht des Bundesrates bedarf eine sachgerechte Lösung der vielfältigen Probleme eines umfassenden Ansatzes. Er hält es daher für geboten, zeitnah entsprechende weitergehende gesetzgeberische Schritte zu unternehmen, die alle erforderlichen Lösungselemente bündeln.
B
Im Ausschuss für Innere Angelegenheiten ist eine Empfehlung an den Bundesrat zum Verlangen der Einberufung des Vermittlungsausschusses gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes nicht zustande gekommen.
C
- 27. Der Ausschuss für Innere Angelegenheiten empfiehlt dem Bundesrat, folgende Entschließung zu fassen:
Die Bundesregierung und der Bundestag werden aufgefordert, unmittelbar zu Beginn der neuen Legislaturperiode einen Gesetzentwurf zur grundlegenden Reform der legalen Prostitution sowie zur effektiven Bekämpfung des Menschenhandels und der Zwangsprostitution vorzulegen.
Begründung:
Mit Blick auf die europarechtliche Verpflichtung zur Umsetzung der Richtlinie 2011/36/EU sowie auf die in der Sache benötigte Verbesserung im Kampf gegen den Menschenhandel soll der Gesetzesbeschluss des Deutschen Bundestages (BR-Drucksache 641/13 (PDF) ), der einen Schritt in die richtige Richtung darstellt, sobald wie möglich in Kraft gesetzt werden. Da es jedoch andererseits Kritik und Änderungsbedarf gibt - etwa die gewerberechtliche Verankerung des Prostitutionsgewerbes und eine nur unzureichende strafrechtliche Sanktionierung - soll der weitere Reform- und Regulierungsbedarf bereits jetzt deutlich gemacht werden. Insbesondere soll auf diese Weise verhindert werden, dass die Dringlichkeit des weiteren Reformbedarfs nach der nächsten Bundestagswahl mit dem Hinweis auf die gerade jetzt mit dem vorliegenden Gesetzesbeschluss des Deutschen Bundestages vorgenommenen Änderungen abgestritten oder relativiert wird.