Der Bundesrat hat in seiner 967. Sitzung am 27. April 2018 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt, dass das bestehende EU-Zulassungsverfahren zu einer Vereinheitlichung des Binnenmarktes im Arzneimittelbereich geführt hat. Mit dem vorliegenden Verordnungsvorschlag legt die Kommission eine inhaltlich weitreichende Initiative im Bereich der Arzneimittel- und Medizinproduktebewertung vor. Die Kommission beabsichtigt, mit diesem Vorschlag bindende klinische Bewertungen für weite Bereiche der Arzneimittel und der Medizinprodukte einzuführen. Nach Artikel 5 Nummer 1a) des Verordnungsvorschlags sind alle Arzneimittel von der bindenden Bewertung betroffen, die dem Zulassungsverfahren gemäß der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 unterliegen. Die Kommission gibt in der Begründung an, durch diese verpflichtende einheitliche Bewertung Hindernisse und Verzerrungen beim Marktzugang neuer Gesundheitstechnologien abbauen zu wollen.
- 2. Er unterstützt grundsätzlich das Ziel der vorgeschlagenen Verordnung, die Vielzahl der unterschiedlichen nationalen Medizintechnik-Folgeabschätzungen ("Health Technology Assessments" (HTA)) auf europäischer Ebene zu vereinheitlichen und die bereits bestehende Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Bewertung von Gesundheitstechnologien zu intensivieren.
- 3. Dabei soll bei den klinischen Bewertungen eine Angleichung einzelstaatlicher Verfahren zur Durchführung von Bewertungen und Bewertungsmethoden sowie der angeforderten Daten erfolgen. Schritte zu einer stärkeren Harmonisierung der klinischen Nutzenbewertung von Arzneimitteln auf EU-Ebene könnten den Zugang von Patientinnen und Patienten zu innovativen Arzneimitteln in Europa verbessern und erscheinen auch zur Vermeidung von Doppelarbeit und einer effizienteren Ressourcennutzung sowohl auf Seiten der Behörden und einzelstaatlichen HTA-Stellen als auch auf Seiten der Unternehmen zielführend.
- 4. Gleichwohl sieht der Bundesrat mit der von der Kommission intendierten vollständigen Harmonisierung von HTA-Instrumenten, -Verfahren und -Methoden sowie der in Artikel 8 des Verordnungsvorschlags vorgesehenen verbindlichen gemeinsamen klinischen Bewertung von Arzneimitteln und Medizinprodukten einen Eingriff in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Festlegung und Organisation ihres Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung.
- 5. Bedenken gegen die vollständige Harmonisierung von HTA-Instrumenten, -Verfahren und -Methoden sowie der in Artikel 8 des Verordnungsvorschlags vorgesehenen verbindlichen gemeinsamen klinischen Bewertung aufgrund ihrer Auswirkungen auf die nationalen Gesundheits- und Sozialversicherungssysteme betreffen auch Medizinprodukte. Zudem besteht in Bezug auf Medizinprodukte die Gefahr, dass die verbindliche Nutzenbewertung auf EU-Ebene die Entscheidung für die Entwicklung innovativer neuer Medizintechnikprodukte verzögern oder behindern könnte.
- 6. Der Bundesrat sieht das Begehren der Kommission, die klinische Bewertung für nicht unerhebliche Bereiche der Arzneimittel und der Medizinprodukte mit Bindungswirkung für die Mitgliedstaaten zu vereinheitlichen, auch im Hinblick auf die mitgliedstaatliche Einbindung der klinischen Bewertung von Arzneimitteln in die Preisfindung für das Sozialversicherungsrecht in Deutschland kritisch.
- 7. Das Verfahren der Arzneimittelbewertung hat wesentlichen Einfluss auf die Versorgungsqualität innerhalb der nationalen Krankenversicherungssysteme und auf den entsprechend hierfür aufzubringenden Ressourceneinsatz. Nach Ansicht des Bundesrates fehlt der Kommission eine Gesetzgebungskompetenz (Artikel 168 Absatz 7 Satz 2 AEUV) hinsichtlich der nationalen Mittelzuweisung im Sozialversicherungsrecht. Die im Vorschlag angegebene Ermächtigungsgrundlage - Artikel 114 AEUV - verleiht der EU nur die Kompetenz für Gesetzesvorhaben zur Rechtsangleichung des Binnenmarktes. Die Kompetenz zur Regelung des Binnenmarktes ist nach Auffassung des Bundesrates für die vorliegende Verordnung keine tragfähige Grundlage, weil in Bezug auf die weitreichenden und elementaren Regelungen, die unmittelbare und tiefgreifende Auswirkungen auf die nationalen Gesundheitssysteme hätten, eher Artikel 168 Absatz 4 AEUV für die Qualität und Sicherheit von Arzneimitteln und Medizinprodukten einschlägig wäre.
- 8. Daneben sieht er auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt, da sich der Vorschlag nicht mit den nationalen Besonderheiten wie etwa der Nut-zenbewertung in Deutschland und ihrer unmittelbaren Einbindung in das nationale Krankenversicherungsrecht auseinandersetzt. Die methodisch unterschiedlichen Konzepte der Arzneimittelbewertungen in den einzelnen Mitgliedstaaten sind nicht nur berechtigt, sondern für das Funktionieren des Gesundheitssystems und einer effizienten und effektiven Arzneimittelversorgung in den Mitgliedstaaten sogar geboten.
- 9. Der Bundesrat befürchtet, dass der Marktzugang für Arzneimittel durch diese verpflichtende vorgelagerte EU-Bewertung in einzelnen Mitgliedstaaten wie etwa in Deutschland nicht nur nicht erleichtert, sondern eher sogar erschwert wird. Derzeit sind in Deutschland Arzneimittel zeitgleich mit ihrer Zulassung verkehrsfähig und auch nach dem Recht der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zunächst uneingeschränkt erstattungsfähig. Die Nutzenbewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses führt lediglich zu der nachgelagerten Preisvereinbarung zwischen Pharmaunternehmen und dem GKV-Spitzenverband.
- 10. Der Bundesrat weist auf bestehende Bedenken des Gemeinsamen Bundesausschusses hin, dass die Versorgungssteuerung von Arzneimitteln mittelbar auf die EU-Ebene verlagert werde und die hohe Qualität der Versorgung leide. Der Gemeinsame Bundesausschuss ist das oberste Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Krankenhäusern und Krankenkassen in Deutschland. Auch im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigungen, die in Deutschland die ambulante vertragsärztliche Versorgung sicherstellen, ist die Befürchtung einer Niveauabsenkung in der Nutzenbewertung kommuniziert worden.
- 11. Der Bundesrat steht jedoch einer Vertiefung einer weitergehenden freiwilligen Zusammenarbeit im Bereich der Gesundheitstechnologien grundsätzlich positiv gegenüber. Durch eine europäische Kooperation im Bereich des HTA können Synergieeffekte erreicht werden. Zur gemeinsamen Bewertung medizinischer Erkenntnisse sollten bereits bestehende Netzwerke ausgearbeitet und integriert werden.
- 12. Er spricht sich deshalb dafür aus, dass die angestrebten Ziele der vorgeschlagenen Verordnung auch über erweiterte Verfahren der freiwilligen Kooperation der Mitgliedstaaten erreicht werden sollen.
- 13. Allerdings gibt der Bundesrat zu bedenken, dass eine weitergehende freiwillige Zusammenarbeit tatsächlich zu einer Entbürokratisierung führen und keine weiteren (Doppel-)Strukturen auf EU-Ebene aufbauen sollte, die zusätzlichen Verwaltungsaufwand in Deutschland auf Ebene des Bundes und gegebenenfalls auch der Länder nach sich führen könnten. Es wäre infolgedessen auch mit negativen Auswirkungen auf deutsche Unternehmen und Standorte der Gesundheitswirtschaft zu rechnen.
- 14. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, in den weiteren Verhandlungen besonders darauf hinzuwirken, dass im weiteren Verfahren eine geeignete und transparente Methodik für die Bewertung von Medizinprodukten, medizinischen und chirurgischen Verfahren, Maßnahmen zur Prävention von Krankheiten oder in der Gesundheitsversorgung angewandten Diagnose- und Behandlungsverfahren vorgelegt wird. Insbesondere sind konkrete Informationen zur Durchführung entsprechender (klinischer) Studien, die eine hohe Evidenz gewährleisten, zu entwickeln.
- 15. Er bittet die Bundesregierung ferner, bei der Zusammenstellung der vorgesehenen Koordinierungsgruppe gemäß Artikel 3 des Verordnungsvorschlags dafür Sorge zu tragen, dass eine ausreichende Zahl von Vertreterinnen und Vertreter mit expliziter Expertise im Bereich Medizinprodukte als Mitglieder benannt wird.
- 16. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.