Der Bundesrat hat in seiner 819. Sitzung am 10. Februar 2006 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat nimmt den Vorschlag der Kommission für eine Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zu "Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen" zur Kenntnis und sieht darin einen interessanten Diskussionsansatz, wie anzustrebende Fähigkeiten und Fertigkeiten der Bürgerinnen und Bürger der EU beschrieben werden können.
- 2. Der Bundesrat weist darauf hin, dass Empfehlungen auf Grundlage der Artikel 149 und 150 EGV trotz ihres unverbindlichen Charakters nicht zu detaillierten curricularen Vorgaben führen dürfen.
- 3. Der Bundesrat lehnt die Forderung der Kommission, die Mitteilung solle die "Schaffung eines einheitlichen Erwachsenenaus- und -weiterbildungsangebots forcieren", als Verstoß gegen das Harmonisierungsverbot nach Artikel 149/150 EGV ab. Die Empfehlung an die Mitgliedstaaten, die im Anhang aufgelisteten und beschriebenen acht Schlüsselqualifikationen "als Teil ihrer lebenslangen Lernstrategien zu verwenden", kollidiert nach Auffassung des Bundesrates mit dem Gebot der o. g. Vertragsartikel an die EU, bei ihrer Tätigkeit die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Lehrinhalte "strikt" zu beachten: Statt Eins-zu-Eins-Verwendung könnten die empfohlenen Schlüsselqualifikationen allenfalls als Impuls dienen, der bei der mitgliedstaatlichen Festlegung von Lehrinhalten des Bildungssystems mit in Erwägung gezogen werden kann. Die empfohlenen Schlüsselqualifikationen als Kern eines europäischen Einheits-Curriculums anzusehen, lehnt der Bundesrat ab.
- 4. Der Bundesrat macht auf die wachsende Zahl unterschiedlich strukturierter europäischer Referenzrahmen für Qualifikationen aufmerksam; er sieht die Gefahr, dass z.B. aus dem Nebeneinander von drei niveaumäßig gestuften Qualifikationen (Europäischer Qualifikationsrahmen) und acht anderen ungestuften Schlüsselqualifikationen Widersprüche und Unvereinbarkeiten möglich sind die zu Unklarheiten darüber führen können, was die EU denn nun eigentlich empfiehlt.
- 5. Der Bundesrat stellt fest, dass der vorgeschlagene Katalog der Schlüsselqualifikationen einerseits Sachbereiche umfasst (die alten "Kulturtechniken" Lesen, Schreiben, Rechnen - erweitert um Naturwissenschaften, Fremdsprache und Computerkenntnisse) und andererseits fachungebundene mentale Dispositionen ("echte" Schlüsselqualifikationen - z.B. Lernfähigkeit). Obwohl in diesem letzteren Bereich eine Vielzahl von Eigenschaften und Kompetenzen aufgezählt werden, die zu persönlicher Entfaltung, sozialer Integration sowie aktiver Bürgerschaft und Beschäftigung beitragen, erscheint der Katalog erweiterungsbedürftig um weitere ebenfalls wichtige "Schlüsselqualifikationen" z.B. Verantwortungsbewusstsein, Entscheidungsfähigkeit). Insoweit würde der Bundesrat eine deutliche Trennung der "echten" Schlüsselqualifikationen von ihrer situativen Verwendbarkeit sowie eine Ergänzung insbesondere um beschäftigungsrelevante Dispositionen begrüßen. Insgesamt weist der Bundesrat darauf hin, dass es sich bei den aufgelisteten Schlüsselqualifikationen notwendigerweise um einen Katalog handelt, der gegenüber situativen und künftigen Entwicklungen offen bleiben muss.
- 6. Der Bundesrat sieht die jugendpolitische Dimension in dem Empfehlungsvorschlag nicht ausreichend berücksichtigt. Insbesondere weist der Bundesrat auf die nicht formalen Bildungs- und Lernerfahrungen hin, wie z.B. die aktive Bürgerschaft Jugendlicher und die Freiwilligendienste. Der Empfehlungsvorschlag sollte verdeutlichen, dass diese wichtigen sozialen Grundkompetenzen und Kenntnisse die Toleranz und die Integration fördern und somit zur Erlangung wesentlicher Schlüsselkompetenzen beitragen können.
- 7. In Bezug auf die beiden Sprachkompetenzen (muttersprachliche und fremdsprachliche Kompetenz) werden zum Beispiel unbewusstmotorische und reflexive Fähigkeiten in den Vordergrund gestellt, während es bei der mathematischen Kompetenz primär um analytische und anwendungsbezogene Kenntnisse geht letzteres gilt auch für die Computerkompetenz.
- 8. Bei der interpersonellen, interkulturellen und sozialen Kompetenz, der Bürgerkompetenz sowie der unternehmerischen Kompetenz wird ein schwer zu entwirrendes Anspruchspaket von persönlichen Werten (Toleranz, Motivation und Eigenaktivität, Kreativität, Innovation und Risikobereitschaft) bis hin zu praktischem Knowhow (Projektmanagement) gefordert, während bei der kulturellen Kompetenz eine sehr allgemein formulierte "positive Haltung" den verschiedenen Formen des kulturellen Ausdrucks gegenüber im Vordergrund steht.
- 9. Die Vielzahl der angesprochenen, sehr unterschiedlichen und sehr weit gefassten Kompetenzen wird sich alleine durch politische Maßnahmen nicht verwirklichen lassen. Beispielsweise wird die unternehmerische Kompetenz auch sehr stark durch das gesellschaftliche Klima beeinflusst und nicht deduktiv durch staatliche Maßnahmen erreichbar sein.
- 10. Der Bundesrat spricht sich gegen eine separate Berichtspflicht nach vier Jahren im Hinblick auf die in der Empfehlung aufgeführten Schlüsselkompetenzen aus, unterstützt hingegen den Ansatz, den Referenzrahmen als Bezugsdokument für das Peer-Lernen und den Austausch vorbildlicher Verfahren im Rahmen der zweijährigen Fortschrittsberichte über das Arbeitsprogramm "Allgemeine und berufliche Bildung 2010" zu verwenden.
- 11. Den Schwerpunkt des Vorhabens bilden der Empfehlungsteil an die Mitgliedstaaten und der Katalog der Schlüsselqualifikationen. Der Empfehlungsteil bezieht sich auf Vorkehrungen im Bildungssystem und dort auf die Vermittlung der Schlüsselqualifikationen, die schwerpunktmäßig durch entsprechenden Unterricht der Schule und später durch die nichtberufsbezogene Erwachsenenbildung grundgelegt aktualisiert und erweitert werden. Eine Beachtung der Empfehlung hätte vor allem Auswirkungen auf die Lehrpläne und organisatorischen Maßnahmen im Bereich der Schule und nichtberuflichen Weiterbildung.
Daher betrifft das Vorhaben im Schwerpunkt Angelegenheiten der alleinigen Gesetzgebungsbefugnis der Länder. Der Bundesrat fordert daher die Bundesregierung auf seine Stellungnahme gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 EUZBLG maßgeblich zu berücksichtigen und gemäß § 6 Abs. 2 EUZBLG die Verhandlungsführung auf die Länder zu übertragen.