Der Bundesrat hat in seiner 948. Sitzung am 23. September 2016 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich das Ziel der Förderung der Kompetenzen und Grundfertigkeiten und des Zugangs zu Bildungsangeboten. Es ist im Interesse aller Mitgliedstaaten, für Bürgerinnen und Bürger ein hohes Kompetenzniveau zu erreichen. Hierzu kann gegebenenfalls förderlich sein, dass bisherige Angebote auf ihre grundsätzliche Eignung und Passung überprüft und - sofern erforderlich - angepasst werden.
- 2. Der Bundesrat bezweifelt jedoch, dass die sogenannte Kompetenzgarantie das richtige Instrument zur Erreichung der in Ziffer 1 genannten Ziele darstellt dies gilt sowohl in formaler als auch fachlicher Hinsicht. Vor dem Hintergrund der in den Artikeln 165 und 166 AEUV sehr eng gesteckten Kompetenzgrenzen steht der Bundesrat dem Vorschlag der Kommission kritisch gegenüber und plädiert dafür, die "Kompetenzgarantie" grundlegend zu überdenken.
- 3. Der Bundesrat hegt außerdem erhebliche Zweifel, was die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips anbelangt. Gemäß Artikel 5 Absatz 3 EUV wird die EU nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind. Die Kommission hat nach Ansicht des Bundesrates jedoch gerade nicht dargelegt, wieso es den Mitgliedstaaten nicht allein gelingen kann, geeignete Maßnahmen zur Senkung des Anteils von sogenannten Geringqualifizierten zu ergreifen. Zudem weist das Vorhaben überhaupt nur eine geringe europäische Dimension auf, da sich der Empfehlungsvorschlag in erster Linie mit nationalen Fragen und der Umsetzung von Vorgaben durch Behörden der Mitgliedstaaten in nationale Systeme mit nationalen Finanzmitteln befasst. Der Bundesrat verwahrt sich in diesem Zusammenhang gegenüber einer Kontrolle nationaler Bildungspolitiken auf europäischer Ebene.
- 4. Der Bundesrat befürwortet die Förderung des Zugangs zu Bildungsangeboten, allerdings nicht im Sinne einer staatlichen Garantie.
- - Der Begriff der "Garantie" könnte fälschlicherweise den Eindruck eines individuellen Rechtsanspruchs vermitteln und eine Anspruchshaltung gegenüber dem Staat sowie der EU fördern. Auf der europäischen Ebene sollen keine Erwartungen geweckt werden, die auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht einlösbar sind.
- - Auch wenn in der Begründung des Vorschlags ausgeführt wird, dass die Kompetenzgarantie "auf Freiwilligkeit beruht und auf das Engagement und Interesse der betreffenden Personen setzt", wird im restlichen Text der Eindruck erweckt, dass die "Kompetenzgarantie" realisierbar ist, wenn sich die Staaten nur ausreichend darum bemühen. Dem tritt der Bundesrat entschieden entgegen. Der Kompetenzerwerb Einzelner kann nicht von der öffentlichen Hand garantiert werden, da der Erfolg der Aus- und Weiterbildung auch von den betroffenen Personen selbst abhängig ist. Die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsangeboten kann nur auf freiwilliger Basis erfolgen und setzt Motivation, Eigeninitiative sowie entsprechende kognitive Fähigkeiten voraus.
- 5. Die Konzeption der "Kompetenzgarantie" sieht als Ziel das Erreichen eines Mindestniveaus an Lese-, Schreib-, Rechen- und digitalen Kompetenzen und/oder den Erwerb einer Qualifikation auf dem Niveau 4 des Europäischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen (EQR) oder einer gleichwertigen Qualifikation sowie eines breiteren Kompetenzspektrums auf der Grundlage der Empfehlung zu Schlüsselkompetenzen für lebensbegleitendes Lernen vor. Obschon der Bundesrat eine Förderung von Kompetenzen grundsätzlich befürwortet, steht er der oben formulierten Zielsetzung kritisch gegenüber:
- - Die Bezugnahme auf die EQR-Stufe 4 oder eine gleichwertige Qualifikation würde auf die Etablierung eines Mindestbildungsniveaus auf europäischer Ebene durch die "Kompetenzgarantie" hinauslaufen. Die Kompetenzstufen 1 bis 3 des EQR und damit auch des Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) wären nicht mehr relevant. Der Bundesrat spricht sich daher gegen die Vorgabe eines Mindestbildungsniveaus aus, zumal dies zu einer Diskreditierung von Menschen, die dieses Niveau nicht erreicht haben, als "geringqualifiziert" führt. Eine Festlegung auf die EQRStufe 4 hätte zur Folge, dass im Bereich der allgemeinen schulischen Bildung allgemeinbildende Schulabschlüsse zum Teil nicht einmal das gewünschte Mindestbildungsniveau darstellen würden.
- - In den Erwägungsgründen des Empfehlungsvorschlags wird pauschal festgestellt, dass Qualifikationen der allgemeinen oder beruflichen Aus- und Weiterbildung der Sekundarstufe II auf dem Niveau 4 des EQR zunehmend das Qualifikationsniveau darstellen, über das ein Zugang zum Arbeitsmarkt und eine Teilnahme an schulischer und beruflicher Weiterbildung überhaupt erst möglich sind. Der Bundesrat gibt jedoch zu bedenken, dass dies auf Deutschland gerade nicht zutrifft, da hier auch Abschlüsse, die niedrigeren DQR-Stufen zugewiesen sind, den Zugang zum Arbeitsmarkt und beruflicher Weiterbildung ermöglichen.
- - Zudem weist der Bundesrat darauf hin, dass die berufliche und die schulische Ausbildung in Deutschland am Ende der Sekundarstufe II mit unterschiedlichen DQR-Niveaus abschließen können. Dies liegt darin begründet, dass die Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung gerade keine Gleichartigkeit voraussetzt. Aufgrund der nicht konsistent verwendeten Terminologie in dem Vorschlag der Kommission bleibt unklar, ob unter einer mit der EQR-Stufe 4 "gleichwertigen Qualifikation" auch Abschlüsse der Sekundarstufe II fallen. Eine Orientierung an der EQR-Stufe 4 würde jedoch dazu führen, dass Menschen, die den Abschluss einer zweijährigen vollqualifizierenden Ausbildung vorzuweisen haben, als geringqualifiziert diskreditiert würden, da ihre Qualifikation auf der DQR-Stufe 3 zugewiesen ist.
- - Aus Sicht des Bundesrates ist darüber hinaus die Vermengung der Frage der Qualifikationsstufe mit der Thematik der Mindestniveaus an Lese-, Schreib-, Rechen- und digitalen Kompetenzen in der "Kompetenzgarantie" nicht akzeptabel. Hierdurch würde Menschen, die nicht über eine Qualifikation auf der EQR-Stufe 4 oder eine gleichwertige Qualifikation verfügen pauschal ein mangelndes Niveau in den Grund- und digitalen Kompetenzen unterstellt. Grund- und digitale Kompetenzen spiegeln sich im System des EQR, der sich ausschließlich mit Qualifikationen befasst, gerade nicht wider.
- 6. Zudem gibt der Bundesrat zu bedenken, dass zahlreiche in dem Vorschlag genannte Maßnahmen mit einem großen Verwaltungsaufwand verbunden sind, so die Schaffung der Möglichkeit einer Kompetenzüberprüfung oder das Auferlegen von Evaluierungs- und Berichtspflichten. Er erinnert daran, dass der Aufwand einer Maßnahme im Verhältnis zu ihrem Nutzen stehen muss, was er vorliegend bezweifelt.
- 7. Der Bundesrat sieht die Vorgabe kritisch, dass eine oder wenige zentrale Stellen zur Umsetzung der Empfehlung bestimmt werden sollen. Er erinnert daran, dass Entscheidungen über Verwaltungsstrukturen auf nationaler Ebene in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten fallen. Im Hinblick auf die föderale Vielfalt in Deutschland, die unterschiedlichen Zuständigkeiten in der Berufsbildung und den zusätzlichen Verwaltungsaufwand steht der Bundesrat der Etablierung neuer Strukturen kritisch gegenüber und verweist auf die bewährten Strukturen mit Zuständigkeiten bei den bestehenden Institutionen (beispielsweise Kammern und Weiterbildungseinrichtungen).
- 8. Bezüglich der Strukturen auf EU-Ebene stellt der Bundesrat fest, dass die Rolle des beratenden Ausschusses für Berufsausbildung, der in Übereinstimmung mit einschlägigen europäischen Koordinierungsstellen die Kommission bei der Umsetzung der Empfehlung unterstützen soll, in dem Vorschlag unklar bleibt. Auch der Begriff der "Koordinierungsstellen" wird nicht näher erläutert.
- 9. Der Bundesrat moniert die undifferenzierte Verwendung grundlegender Begriffe im Vorschlag der "Kompetenzgarantie" und die darauf zurückzuführenden begrifflichen Unklarheiten, die durch die deutsche Übersetzung des Textes weiter verstärkt werden. Die Kommission verwendet für den gesamten Text einen breiten Kompetenzbegriff, so soll gemäß Fußnote 3 des Vorschlags der Begriff der "Kompetenzen" (englisch: "skills") auch "Kenntnisse und Fertigkeiten" (englisch: "knowledge and competences") einer Person umfassen. Auch ist die Übersetzung in sich nicht konsistent, zum Beispiel werden die Begriffe "skills" und "competence" abwechselnd mit "Fertigkeiten" oder "Kompetenzen" übersetzt. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die Begrifflichkeiten keineswegs synonym zu gebrauchen sind, und empfiehlt den Kommissionsdienststellen in diesem Zusammenhang, ein größeres Augenmerk auf die sprachliche Gestaltung und Übersetzung zu richten.
- 10. Der Verweis auf "ein maßgeschneidertes und flexibles Lernangebot" legt nahe, dass eine Individualisierung von Bildungsverläufen angestrebt wird, indem Bildungsangebote auf der Grundlage der Bewertung der individuellen Kompetenzen in Lernergebnis-Einheiten eingeteilt und angeboten werden sollen. Der Bundesrat lehnt eine damit verbundene Modularisierung, die dem ganzheitlichen Bildungskonzept in der allgemeinen und beruflichen Bildung in Deutschland widerspricht, ab. Gerade die in der sogenannten Agenda für neue Kompetenzen favorisierte Verknüpfung von praktischer und theoretischer Berufsausbildung, wie sie im dualen Ausbildungssystem Deutschlands besteht, verlangt ein abgestimmtes und verbundenes Lernen, das modularisierten Lerneinheiten widerspricht. Dies schließt jedoch das individuelle Nachholen auch einzelner Bildungsabschnitte nicht aus.
- 11. In der Begründung zur Mitteilung stellt die Kommission fest, dass die erfolgreiche Umsetzung der vorgeschlagenen Empfehlung eine geeignete und angemessene Finanzierung erfordert und dass die Umsetzung auf nationaler Ebene Verwaltungskosten mit sich bringen werde. Der Bundesrat sieht es vor diesem Hintergrund kritisch, dass für die in dem Vorschlag vorgesehenen sehr kostenintensiven Maßnahmen keine Finanzmittel im EU-Haushalt zur Verfügung gestellt werden und dass die enormen finanziellen Mittel, die für eine Kompetenzgarantie notwendig wären, nahezu ausschließlich von den Mitgliedstaaten selbst aufgebracht werden müssten. Die von der Kommission vorgeschlagene Verwendung der Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) ist aufgrund der bereits abgeschlossenen Programmierung für den Zeitraum 2014 bis 2020 abzulehnen.
- 12. Zudem soll die Kommission nach dem Vorschlag aufgefordert werden, die Nutzung europäischer Finanzierungsprogramme, insbesondere über das Programm "Erasmus+", zu unterstützen. Der Bundesrat erinnert daran, dass der Hauptzweck des Programms "Erasmus+" in der Mobilitätsförderung bestehen sollte. Der Bundesrat weist erneut darauf hin, dass er den besonderen Mehrwert des Programms darin sieht, dass es junge Menschen aus unterschiedlichen Staaten zusammenbringt und für diese Völkerverständigung und europäische Zusammenarbeit unmittelbar erfahrbar macht (vergleiche auch Ziffer 22 der Stellungnahme vom 29. Januar 2016, BR-Drucksache 510/15(B) ). Unbeschadet der Bedeutung der Förderung von Kompetenzen darf auch die Förderung persönlicher Begegnungen insbesondere im schulischen Bereich im Rahmen von "Erasmus+" nicht aus dem Blick geraten. Gerade die Zahl der reinen Schulpartnerschaften ist durch die geänderte Förderstruktur dramatisch zurückgegangen. Vor diesem Hintergrund sind dringend Umsteuerungen bei der Programmdurchführung angezeigt, um der strukturellen Benachteiligung des schulischen Bereichs im Programm "Erasmus+" entgegenzuwirken. Neue Prioritätensetzungen der Kommission dürfen nicht zu einer Einschränkung des Spielraums der Schulpartnerschaften führen (vergleiche auch Ziffer 41 der Stellungnahme vom 10. Juli 2015, BR-Drucksache 212/15(B) ).
- 13. Der Bundesrat sieht kritisch, dass die Kommission in der Begründung ihres Vorschlags das Europäische Semester als Maßnahme zur Unterstützung der Steigerung des Kompetenzniveaus in Europa aufführt, dient dieses doch vielmehr der Koordinierung der Wirtschafts- und Fiskalpolitik der Mitgliedstaaten und nicht des Kompetenzniveaus von Einzelpersonen.
- 14. Der Bundesrat begrüßt mit Nachdruck, dass die slowakische Ratspräsidentschaft die Federführung für die Verhandlungen des Empfehlungsvorschlags dem Bildungsministerrat zugewiesen hat. Dass die vorgeschlagene Empfehlung, die sich weitgehend mit Bildungsfragen befasst, federführend in der Generaldirektion für Beschäftigung, Soziales und Integration entworfen wurde, sieht der Bundesrat kritisch. Die angestrebte "Kompetenzgarantie" orientiert folglich Bildungsfragen an rein ökonomischen Aspekten und stellt gerade nicht auf das Grundrecht einer guten und angemessenen Bildung für alle ab. Der Einzelne und seine Kompetenzen werden dabei nur als "Humankapital" angesehen, was weder dem Eigenwert noch der Aufgabe von Bildung gerecht wird. Im Gegensatz zu dieser Ausrichtung an der Wirtschaft findet die Notwendigkeit der Unterstützung durch die und Mitwirkung der Wirtschaft bei der Umsetzung der Garantie im Text kaum Niederschlag.
- 15. Die Mitgliedstaaten sollen gemäß dem Vorschlag binnen eines Jahres nach Annahme der Empfehlung einen Aktionsplan für deren Umsetzung vorlegen. Der Bundesrat sieht diese zeitliche Vorgabe als nicht realistisch an.
- 16. Den Mitgliedstaaten soll in Ziffer 4 der vorgeschlagenen Empfehlung empfohlen werden, die im Einklang mit der Empfehlung des Rates zur Validierung nichtformalen und informellen Lernens festgelegten Validierungsregelungen auf geringqualifizierte Erwachsene anzuwenden, um vorhandene Kompetenzen zu zertifizieren. Der Bundesrat bekräftigt in diesem Zusammenhang die in seiner Stellungnahme vom 12. Oktober 2012, BR-Drucksache 535/12(B) , zum Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Validierung der Ergebnisse nichtformalen und informellen Lernens formulierte Haltung und erinnert daran, dass er aufgrund der eng gefassten Unionskompetenzen im Bildungsbereich Vorgaben von europäischer Ebene zur Validierung mit dem Ziel der Anerkennung ablehnt.
- 17. Die Kommission wird in dem Empfehlungsvorschlag aufgefordert, den Einsatz von Kompetenz-Referenzrahmen für Lese-, Schreib-, Rechen- und digitale Kompetenzen und von Bewertungsinstrumenten zu fördern. Wie der Bundesrat in Ziffer 12 seiner Stellungnahme vom 16. Oktober 2015 - BR-Drucksache 386/15(B) - bereits geäußert hat, hegt er Zweifel hinsichtlich des Mehrwerts derartiger Rahmen. Auch dass die Kommission den europäischen Referenzrahmen für digitale Kompetenzen der Bürgerinnen und Bürger als Grundlage für die Entwicklung von Bewertungsinstrumenten zur Ermittlung von Kompetenzdefiziten und zur Konzipierung von maßgeschneiderten Berufsbildungsmaßnahmen nutzen will, sieht der Bundesrat mit Zurückhaltung. Er weist darauf hin, dass der Rahmen vollkommen neu und sein Mehrwert nicht erwiesen ist, und sieht eine Entwicklung von Bewertungsinstrumenten auf dieser Grundlage kritisch.
- 18. Bezüglich der Aufforderung an die Mitgliedstaaten zur Ermittlung vorrangiger Zielgruppen für die Umsetzung der Kompetenzgarantie auf nationaler Ebene weist der Bundesrat darauf hin, dass eine pauschale Bestimmung sich schwierig gestaltet und hierbei eine Stigmatisierung bestimmter Gruppen droht.
- 19. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.