KOM (2005) 91 endg.; Ratsdok. 7645/05
Der Bundesrat hat in seiner 811. Sitzung am 27. Mai 2005 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich das Anliegen der Kommission, die Berücksichtigungsfähigkeit von in einem anderen Mitgliedstaat der EU ergangenen strafrechtlichen Verurteilungen zu erweitern.
Der Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der EU ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren beinhaltet jedoch Regelungen, die für die angestrebte Vereinheitlichung nicht erforderlich sind und mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts nicht in Einklang stehen.
Zu den einzelnen Regelungen bestehen Bedenken. Hierzu weist der Bundesrat indes auf Folgendes hin:
Zu Artikel 2
- 2. Gegen die Definition der "Verurteilung" bestehen durchgreifende Bedenken, soweit darin auch Entscheidungen von Verwaltungsbehörden einbezogen sind. Die Verhängung von Strafen ist nach dem deutschen Grundgesetz den unabhängigen Gerichten vorbehalten; sie rechnet zum Kernbereich der Rechtsprechung im Sinne von Artikel 92 GG. Nur die Gerichte dürfen strafrechtliche Schuld feststellen und den mit der Strafe verbundenen sozialethischen Tadel aussprechen.
Soweit in anderen Ländern Strafgewalt auch von anderen Stellen außerhalb der Gerichte ausgeübt wird, sollte - entsprechend der Regelung in § 54 Abs. 1 BZRG - maßgebliches Kriterium für eine mögliche Berücksichtigung des ausländischen Erkenntnisses in dem inländischen Verfahren sein, dass dieses in richterlicher Unabhängigkeit getroffen worden ist.
Es kann dagegen nicht in Betracht kommen, auch Entscheidungen weisungsabhängiger Verwaltungsbehörden etwa bei der Strafzumessung Strafurteilen in jeder Hinsicht gleichzustellen, wie dies Artikel 3 Abs. 1 des Vorschlags vorsieht.
Zu Artikel 3
- 3. Nach Artikel 3 Abs. 1 des Vorschlags sollen die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, jede in einem anderen Mitgliedstaat verhängte Verurteilung vollständig einer entsprechenden im Inland ergangenen Sanktion gleichzustellen. Dies erscheint nicht vertretbar:
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der strikte Gleichstellungszwang über die im Vorschlag angesprochene Maßnahme Nr. 2 des Programms von Tampere und des Maßnahmeprogramms weit hinausgeht. Denn dort ist nur vorgesehen, dass das Gericht eine in einem anderen Mitgliedstaat ergangene strafrechtliche Entscheidung heranziehen können muss. In Deutschland ist dies teilweise schon nach dem Gesetz (vgl. § 66 Abs. 4 Satz 5, § 176a Abs. 6 Satz 2 StGB), ansonsten nach ständiger Rechtsprechung der Strafgerichte (z.B. BGHSt 43, 79; BayObLGSt 1978, 39) gewährleistet. Es erscheint ausreichend, wenn auf entsprechende Lösungen in den Mitgliedstaaten hingewirkt wird, in denen dies noch nicht der Fall ist.
Ein solcher Gleichstellungszwang geht über das Erforderliche weit hinaus und erscheint geeignet, tief in die Sanktionensysteme der Mitgliedstaaten einzugreifen.
Besonders deutlich wird dies in den Fällen, in denen aus der ausländischen und der im Inland verhängten Strafe eine (nachträgliche) Gesamtstrafe zu bilden wäre. Nach der Rechtsprechung der deutschen Strafgerichte ist die Bildung einer (nachträglichen) Gesamtstrafe wegen des damit verbundenen Eingriffs in die Rechtskraft der ausländischen Verurteilung und deren Vollstreckbarkeit ausgeschlossen (BGHSt 43, 79 m.w.N.). Ungerechtigkeiten gegenüber dem Verurteilten können bisher schon dadurch vermieden werden, dass diesem der so genannte Härteausgleich gewährt wird (BGH a.a.O.). Dies genügt. Hinzu kommt, dass die ohnehin oftmals schwierige (nachträgliche) Gesamtstrafenbildung nicht durch eine zwingende Einbeziehung ausländischer Verurteilungen unnötig befrachtet werden sollte.
Zu Artikel 4
- 4. Buchstabe a erscheint entbehrlich. Dem Anliegen ist schon durch Artikel 3 Abs. 1 ("bei einem neuen wegen einer anderen Tat ") Rechnung getragen.
Artikel 4 Buchstabe b des Vorschlags stößt ebenfalls auf Bedenken. Mit der Prüfung der Verjährungsfrage wäre notwendigerweise eine inhaltliche Kontrolle des rechtskräftigen ausländischen Urteils verbunden. Dass die Verfolgung der Tat unter Umständen nach innerstaatlichem Recht verjährt wäre, kann die grundsätzliche Verwertbarkeit der Verurteilung nicht in Frage stellen. Dies gilt umso mehr, als nach deutschem Recht auch (nicht abgeurteilte) verjährte Taten bei der Strafzumessung herangezogen werden können (vgl. z.B. BGHSt 41, 310). Für die ausländische Verurteilung sollten daher ausschließlich die dortigen Verjährungsfristen gelten. Die im Vorschlag erwähnten Vorbilder in anderen Rechtsakten sind auf die hier gegenständliche Lage nicht ohne Weiteres übertragbar.
Gleiches gilt für den zwingenden Nichtberücksichtigungsgrund der Amnestie gemäß Artikel 4 Buchstabe c des Vorschlags. Eine gewährte Amnestie schließt nach deutschem Rechtsverständnis keineswegs aus, eine (einschlägige) frühere Verurteilung bei der Aburteilung der neuen Tat strafschärfend zu berücksichtigen. Durch die Amnestie wird weder das Urteil noch die Schuld des Täters beseitigt.
Zu Artikel 5
- 5. Soweit Artikel 5 des Vorschlags zu einer Berücksichtigung ausländischer Verurteilungen als Straftat verpflichten soll, und zwar unabhängig davon, ob diese nach inländischem Recht überhaupt strafbar ist, wenn nur die der Verurteilung zu Grunde liegende Tat einer der in Unterabsatz 2 aufgezählten Deliktskategorien zugeordnet werden kann, erscheint dies problematisch.
Dies zeigt sich etwa im Bereich des Verkehrsrechts. Im Hinblick darauf, dass in Deutschland die straßenverkehrsrechtlichen Ahndungsnormen ganz überwiegend als Ordnungswidrigkeiten ausgestaltet sind, wären schwerwiegende Verwerfungen zu befürchten. Beispielsweise würde es den Schuldgrundsatz sowie den Grundsatz der Gleichbehandlung mit anderen Rechtsunterworfenen verletzen, wenn der Richter eine ausländische Verurteilung wegen einer dortigen Verkehrsstraftat als Verurteilung wegen einer Straftat verwerten müsste, wenn die Tat nach deutschem Recht lediglich eine Ordnungswidrigkeit darstellen würde oder gar nicht geahndet werden könnte. Durch Artikel 5 Abs. 2 des Vorschlags werden diese Bedenken nicht aufgefangen. Vorgeschlagen wird, den Umstand, dass die Tat nach innerstaatlichem Recht keine Straftat ist, in Artikel 4 als zwingenden Grund für die Nichtberücksichtigung auszugestalten.
Zudem ist die dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl entlehnte und nicht unerheblich ausgeweitete Liste - wie der Bundesrat bereits mehrfach beanstandet hat - wenig präzise und kaum fassbar.
Zu Artikel 6
- 6. Gegen Artikel 6 Abs. 1 bestehen keine Bedenken, soweit die Eintragung auch weiterhin nur unter den Voraussetzungen des § 54 BZRG erfolgt, insbesondere gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 2 BZRG nur dann, wenn der der Verurteilung zugrunde liegende Sachverhalt auch nach deutschem Recht eine Strafe oder eine Maßregel nach sich gezogen hätte, und es bei der Möglichkeit des § 56 Abs. 1 S. 2 BZRG verbleibt, dem deutschen Recht unbekannte Rechtsfolgen zu "übersetzen". Nach hiesigem Verständnis steht Artikel 6 Abs. 1 dem nicht zwingend entgegen, gegebenenfalls wäre eine Klarstellung sinnvoll.
Artikel 6 Abs. 2 steht mit dem in § 56 Abs. 1 S. 1 BZRG normierten Gleichbehandlungsgrundsatz im Einklang, so dass insoweit keine Einwände bestehen.
Problematisch ist schließlich die in Artikel 6 Abs. 3 des Vorschlags vorgesehene Regelung. Nach geltender Rechtslage richtet sich die Frage der Tilgung im Bundeszentralregister eingetragener ausländischer Verurteilungen ausschließlich nach deutschem Recht (§ 56 Abs. 1 Satz 1 BZRG). Eine Änderung im Sinne des Artikels 6 Abs. 3 des Vorschlags wäre schon aus praktischen Erwägungen heraus nicht wünschenswert, weil sie die deutschen Gerichte in Zweifelsfällen mit der Ermittlung und Anwendung ausländischen Registerrechts belasten würde. Es ist aber auch kein grundsätzliches Bedürfnis für eine registerrechtliche "Meistbegünstigungsklausel" zu erkennen, die es im Übrigen im materiellen Strafrecht, dem das Registerrecht sozusagen "zuarbeitet", so auch nicht gibt.