Der Bundesrat hat in seiner 906. Sitzung am 1. Februar 2013 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die Mitteilung "Neue Denkansätze für die Bildung" aufgrund der Vielzahl der angekündigten Initiativen und Maßnahmen den Charakter eines faktischen Arbeitsprogramms der Kommission für den Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung für die nächsten Jahre hat. Aufgrund der teilweise stark verdichteten Darstellung ergibt sich erheblicher Klärungsbedarf, so dass für eine fundierte und detaillierte Bewertung der Kommissionsvorschläge deren konkrete Ausgestaltung abzuwarten bleibt.
- 2. Der Bundesrat stellt fest, dass die Kommission die europäische Zusammenarbeit im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung fast nur noch aus dem Blickwinkel der Wachstumsstrategie Europa 2020 betrachtet. Diesen zunehmenden Einsatz des strategischen Rahmens "ET 2020" als einschlägige Grundlage bildungspolitischer Zusammenarbeit sieht der Bundesrat mit großer Sorge. Er bekräftigt vor diesem Hintergrund mit Nachdruck, dass durch die zunehmende Vereinnahmung der EU-Bildungskooperation durch die stärker vergemeinschaftete Beschäftigungspolitik die in den Artikeln 165 und 166 AEUV festgelegten, eng gefassten Unionskompetenzen im Bildungsbereich nicht überschritten werden dürfen.
- 3. Aus Gründen der Kompetenzverteilung im Bildungsbereich weist der Bundesrat daher das Vorgehen der Kommission, "Prioritäten für die Mitgliedstaaten" zu ermitteln und deren Umsetzung in den nationalen Bildungssystemen und -politiken zu fordern, entschieden zurück. So fällt es beispielsweise nicht in die Zuständigkeit der Kommission, festzustellen, dass die Mitgliedstaaten neue Systemreformen auf den Weg bringen müssen, oder Kritik an ausschließlich in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liegenden Aspekten des Bildungswesens wie dem Wiederholen von Klassenstufen oder der leistungsabhängigen Aufteilung von Schülern zu üben. Zudem unterliegen die Gestaltung von Prüfungen, die Erarbeitung und Gestaltung der Lehrpläne sowie die Ausgestaltung der Finanzierung des Bildungswesens alleine der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. In Bezug auf den Hochschulbereich weist der Bundesrat darauf hin, dass die vorgesehene unmittelbare Einflussnahme der Mitgliedstaaten auf die Curricula zu den Themenbereichen Unternehmergeist, digitale Kompetenz und Fremdsprachen aufgrund der Autonomie der Hochschulen nicht umsetzbar ist.
- 4. Der Bundesrat empfiehlt den Kommissionsdienststellen, ein größeres Augenmerk auf die sprachliche Gestaltung und Übersetzung zu richten (z.B. Übersetzung der Modalverben, die teilweise aber bereits im englischen Text einen mit Blick auf die Zuständigkeiten zu hohen Verpflichtungsgrad der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von vorgeschlagenen Maßnahmen suggerieren; Übersetzung von "monitoring" mit "Überwachung"; Übersetzung von "early school leavers" mit "Schulabbrechern").
- 5. Mit größter Sorge nimmt der Bundesrat die im Zuge des Europäischen Semesters von der Kommission angekündigte stärkere Überwachung der Mitgliedstaaten zur Kenntnis, die z.B. auf einer Ausweitung der Analysegrundlage für die verstärkte länderspezifische Ausrichtung und Unterstützung der Mitgliedstaaten im Wege von regelmäßigen "Peer Reviews" fußt und letztendlich zu einer massiven Verschärfung der offenen Methode der Koordinierung führt. Die Überwachung der Mitgliedstaaten bei der Planung und Umsetzung von Maßnahmen, die sich aus den länderspezifischen Empfehlungen ergeben, stellt einen Eingriff in das Kompetenzgefüge der EU-Verträge dar. Der Bundesrat weist das insbesondere in den Begleitunterlagen dargestellte Vorgehen der Kommission, im Hinblick auf die Bildungsperformanz der Mitgliedstaaten implizite Ranglisten zu erstellen, als unzulässig zurück. Vielmehr darf auch künftig die Anwendung der offenen Koordinierungsmethode im Bildungsbereich weder erweitert noch die strikte Beachtung des Harmonisierungsverbots außer Kraft gesetzt werden. Insbesondere dürfen "Peer Reviews" lediglich dem freiwilligen Austausch zwischen Mitgliedstaaten mit dem Ziel des "Voneinanderlernens" dienen.
- 6. Der Bundesrat begrüßt die ausdrückliche Anerkennung der erfolgreichen dualen Ausbildung in Deutschland als "Ausbildungssystem von Weltrang", dem es durch seine Struktur und praktische Ausrichtung zudem gelingt, im europaweiten Vergleich die höchste Jugendbeschäftigungsquote zu erreichen. Hieraus wird zudem deutlich, dass der Arbeitsmarkt offenbar nicht nur, wie von der Kommission behauptet, hoch qualifizierte, im Regelfall tertiär ausgebildete Arbeitskräfte benötigt. Vielmehr ist er auch auf Fachkräfte angewiesen, die in ihrem konkreten Fachbereich über umfassende Kenntnisse, Fähigkeiten und Expertise verfügen. Gleichzeitig ist es vor diesem Hintergrund unverständlich, dass die Kommission betreffend den Anteil der 30- bis 40-Jährigen mit einem Hochschul- oder gleichwertigen Abschluss weiterhin in Anzeigern oder Länderanalysen die Einbeziehung der ISCED 4-Abschlüsse durch Deutschland ignoriert oder bestenfalls in einer Fußnote erwähnt. Damit setzt sich die Kommission in Widerspruch zu den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 17. Juni 2010, in welchen explizit festgehalten wurde, dass auch Abschlüsse, die Hochschulabschlüssen gleichwertig sind, berücksichtigt werden und es Sache der Mitgliedstaaten ist, quantitative Ziele im Bildungsbereich festzulegen.
- 7. Der Bundesrat hält die Klarstellung für erforderlich, dass nicht nur bei der Entwicklung hochwertiger dualer Berufsbildungssysteme länderspezifische Gegebenheiten und Bedarfe zu berücksichtigen sind, sondern dies auch für alle anderen Schwerpunkte der Mitgliedstaaten, insbesondere den Punkt "Entwicklung von Qualifikationen auf der Basis von Kurzzeitstudiengängen", gelten muss.
- 8. Bezüglich der Feststellung einer niedrigen Teilnahmequote am lebenslangen Lernen bekräftigt der Bundesrat erneut, dass diese Quoten aus der ungeeigneten Fassung des Indikators herrühren (vergleiche zuletzt BR-Drucksache 026/09(B) ). Die indikatorinduzierten niedrigen Beteiligungswerte ergeben zumindest für Deutschland kein adäquates Bild der tatsächlichen Beteiligung am lebenslangen Lernen. Auf den europaweiten Adult Education Survey (AES), an dem sich auch Deutschland beteiligt, wird ausdrücklich hingewiesen.
- 9. Hinsichtlich des Kommissionsvorschlags eines europäischen Durchschnittsbezugswerts für Fremdsprachen, der in der einschlägigen Begleitunterlage, jedoch nicht in der Mitteilung selbst, näher ausgeführt wird, bekräftigt der Bundesrat mit Blick auf die geplante zweite Erhebungsrunde seine Ablehnung einer Beteiligung der Länder in der Bundesrepublik Deutschland insbesondere wegen des erheblichen organisatorischen, administrativen, zeitlichen und finanziellen Aufwands für die Testung (vergleiche BR-Drucksachen 653/05(B) , 653/05(B) (2) und 268/07(B) ). Im Übrigen hält der Bundesrat insbesondere den vorgeschlagenen europäischen Durchschnittsbezugswert, wonach bis zum Jahr 2020 mindestens 75 Prozent aller Schülerinnen und Schüler in der unteren Sekundarstufe mindestens zwei Fremdsprachen lernen sollen, mit Blick auf den aktuellen Wert von 61 Prozent für sehr ambitioniert.
- 10. Der Entwicklung eines Kompetenzrahmens für Lehrkräfte begegnet der Bundesrat auf Grund der alleinigen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten mit Zurückhaltung. Er erinnert an die deutschen Standards für die Lehrerbildung (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16. Dezember 2004), die als bewährtes Verfahren von den Ländern in der Bundesrepublik Deutschland in einen vertieften Informations- und Meinungsaustausch der Mitgliedstaaten eingebracht werden könnten (vergleiche BR-Drucksache 341/10(B) ). Gleichzeitig verweist der Bundesrat auf die zweiphasige Lehrerausbildung in Deutschland, der es insbesondere durch den bis zu zwei Jahre dauernden Vorbereitungsdienst an Schulen gelingt, durch eng angeleitetes, zunehmend selbstständiges Unterrichten angehende Lehrkräfte praxisnah auf ihren Beruf vorzubereiten, sodass etwa die Quote derjenigen, die nach wenigen Jahren aus dem Beruf ausscheiden, in Deutschland überaus niedrig ist. Der Bundesrat weist im Übrigen auf die fehlerhafte Überblicksdarstellung des sich mit Lehrkräften befassenden Begleitdokuments hin, das für Deutschland den Vorbereitungsdienst als zentralen, in die Berufspraxis einführenden Ausbildungsabschnitt nicht berücksichtigt.
- 11. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich die angestrebte Schaffung größerer Kohärenz zwischen den vielfältigen europäischen Instrumenten wie dem Europäischen Qualifikationsrahmen, dem Europass, den europäischen Leistungspunktesystemen ECTS und ECVET sowie der mehrsprachigen europäischen Klassifikation der Qualifikationen, Kompetenzen und Berufe (ESCO). Er weist aber darauf hin, dass beispielsweise der Europäische Qualifikationsrahmen keinen Anspruch auf Anerkennung generiert, und warnt vor diesem Hintergrund vor einer Vermischung von Anerkennungs- und Transparenzinstrumenten, wie sie die von der Kommission angestrebte "problemlose grenzüberschreitende Anerkennung von Kompetenzen und Qualifikationen" nahelegt. Der Bundesrat bezweifelt in diesem Zusammenhang, dass die Schaffung eines neuen "Europäischen Raums der Kompetenzen und Qualifikationen" mit einem Mehrwert verbunden ist, und verweist auf den bereits existierenden "Europäischen Raum für Bildung und Ausbildung".
- 12. Der Bundesrat stellt fest, dass die Darstellung der Zielsetzungen der Bologna-Pathfinder-Group in ihrer Verkürzung nicht zutreffend ist. Ziel ist nicht die Gleichbehandlung aller Absolventen unabhängig davon, wo sie ihren Hochschulabschluss erworben haben, indem der Schwerpunkt von der derzeitigen Anerkennung einzelner Abschlüsse auf ein Konzept verlagert wird, das sich auf Vertrauen in das System stützt, in dem der Abschluss erworben wurde, vielmehr sollen die Möglichkeiten einer schnelleren Anerkennung auf der Basis von Erfahrungen in einzelnen Ländern mit dem Ziel ausgewertet und erprobt werden, mögliche Wege einer "automatischen Anerkennung" aufzuzeigen, ohne dass diese bereits auf den hier aufgezeigten Lösungsweg festgelegt sind.
- 13. Bezüglich der in Aussicht genommenen Entwicklung eines evidenzbasierten Rahmens zur Analyse der Effizienz öffentlicher Ausgaben für hochwertige allgemeine und berufliche Bildung stellt der Bundesrat fest, dass verlässliche Erkenntnisse hierzu aufgrund der Komplexität des Gegenstands, der Breite der einzubeziehenden Parameter und der sehr unterschiedlichen Situation in den Regionen und Mitgliedstaaten in der EU bislang kaum zu gewinnen waren.
- 14. Angesichts der Ausrichtung der Mitteilung auf den Beitrag von Bildung für Wachstum und Beschäftigung bekräftigt der Bundesrat seine kritische Haltung gegenüber dieser einseitigen Auffassung, die dem in Deutschland geltenden ganzheitlichen Bildungsanspruch nicht gerecht wird. Der Bundesrat weist zum wiederholten Male darauf hin, dass Bildung der Entfaltung der Gesamtpersönlichkeit, der Erziehung zur Verantwortung und der Wertevermittlung und -reflexion dient. Eine Verkürzung auf reine Nützlichkeitsaspekte ist für den Arbeitsmarkt, auch im Interesse der Zielsetzungen der vorliegenden Mitteilung, nicht zielführend. Auch die frühe Bildungsphase darf nicht darauf reduziert werden, frühes Schulversagen und dessen negative Folgen zu vermeiden, sondern hat vielmehr das Kind, seine individuelle Entwicklung und seine Bedürfnisse sowie die frühe Stärkung seiner Kompetenzen im Blick.
- 15. Der Bundesrat sieht zwar wie die Kommission die Förderung von unternehmerischem Denken als wichtigen Bestandteil des Erziehungsauftrags. Er kann aber die Herausstellung dieses einzelnen Elements als prioritär für die Umsetzung der Europa-2020-Strategie oder gar die Gestaltung der nationalen Bildungspolitiken nicht nachvollziehen. Der Bundesrat bekräftigt seine Zurückweisung der Kommissionsforderung, dass alle jungen Menschen mindestens eine unternehmerische Erfahrung gesammelt haben sollen, bevor sie die Pflichtschulzeit beenden (vergleiche BR-Drucksache 149/06(B) ). Den für das Jahr 2013 angekündigten strategischen Leitlinien zur Unterstützung der qualitativen Verbesserung und EU-weiten Verbreitung unternehmerischer Bildungsangebote in allen Bildungsbereichen begegnet der Bundesrat mit großer Zurückhaltung. Er betont, dass diese wie auch der geplante Orientierungsrahmen einschließlich der Entwicklung von Instrumenten zur Überwachung der Fortschritte allenfalls den Charakter einer unverbindlichen Anregung haben können.
- 16. Er erkennt an, dass frei zugängliche Lehr- und Lernmaterialien eine gewinnbringende Ergänzung zu herkömmlichen Materialien darstellen können. Gleichzeitig warnt er aber mit Blick auf die grundlegenden Veränderungen im Bildungswesen, die sich die Kommission von einem vermehrten Einsatz freier digitaler Materialien erhofft, vor überzogenen Erwartungen. Insbesondere bleibt zu klären, wie die Qualität der Inhalte von frei zugänglichen Lehr- und Lernmaterialien in sinnvoller Weise kontinuierlich und umfassend gesichert werden kann, sodass deren Einsatz im Unterricht zu einem Mehrwert führt. Vertiefter Klärungsbedarf besteht zudem hinsichtlich der angekündigten europäischen Initiative zur Öffnung der Bildung durch eine verstärkte Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien sowie frei zugänglichen digitalen Lehr- und Lernmaterialien.
- 17. Der Bundesrat stellt fest, dass die Erkenntnisquelle für viele Aussagen und Beobachtungen der Kommission sowie für die daraus gezogenen Schlussfolgerungen, insbesondere auch Handlungsaufforderungen an die Mitgliedstaaten, unklar bleibt. Einige der verwendeten Daten können zudem mit Blick auf die Erhebungsmethode nicht überzeugen, etwa die allein auf einer Selbsteinschätzung beruhende Statistik zur Vermittlung unternehmerischer Kompetenzen in den Bildungssystemen der Mitgliedstaaten. Vor diesem Hintergrund mahnt er zu mehr Transparenz hinsichtlich der verwendeten Datenquellen und zu größerer Vorsicht bei der Interpretation von Daten als Grundlage für Handlungsempfehlungen, insbesondere dann, wenn Zweifel an ihrer Belastbarkeit bestehen.
- 18. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.