Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung des Europäischen Parlaments vom 22. Oktober 2008 zu den Herausforderungen für Tarifverträge in der EU (2008/2085(INI))

Zugeleitet mit Schreiben des Generalsekretärs des Europäischen Parlaments - 319818 - vom 17. November 2008.

Das Europäische Parlament hat die Entschließung in der Sitzung am 22. Oktober 2008 angenommen.

Das Europäische Parlament,

A. in der Erwägung, dass der EG-Vertrag die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in den Verfassungen der Mitgliedstaaten und in diversen internationalen Verträgen und Übereinkommen verankerten Grundrechte als wichtigste Bezugswerte des Gemeinschaftsrechts und der in der Gemeinschaft üblichen Praxis anerkennt,

B. in der Erwägung, dass der EG-Vertrag eine Reihe einschlägiger Grundsätze festlegt; in der Erwägung, dass zu den wichtigsten Zielen der Gemeinschaft ein Binnenmarkt gehört, der durch die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist und eine soziale Dimension hat,

C. in der Erwägung, dass einer dieser Grundsätze darin besteht, die verfassungsmäßigen Grundrechte der Bürger anzuerkennen, wozu das Recht, Gewerkschaften zu bilden, das Streikrecht und das Recht, Tarifverträge auszuhandeln, gehören,

D. in der Erwägung, dass die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Niederlassungsfreiheit und der freie Dienstleistungsverkehr fundamentale Prinzipien des Binnenmarktes sind,

E. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 39 des EG-Vertrags die Freizügigkeit der Arbeitnehmer die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden Diskriminierung der Arbeitnehmer in den Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen mit sich bringt,

F. in der Erwägung, dass der EG-Vertrag Beschränkungen der Grundfreiheiten zulässt, sofern sie einen mit dem Vertrag vereinbaren legitimen Zweck verfolgen, aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind, zur Erreichung der verfolgten Zwecke geeignet sind und nicht über das zur Erreichung dieser Ziele Erforderliche hinausgehen; in der Erwägung, dass parallel dazu Artikel 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vorsieht, dass Einschränkungen bei der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur dann erfolgen dürfen, wenn sie notwendig sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen,

G. in der Erwägung, dass der EuGH das Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme als Grundrecht anerkennt, das damit fester Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ist; in der Erwägung, dass dieses Recht mit der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon auch in den Verträgen verankert werden wird,

H. in der Erwägung, dass die Kommission mehrfach hervorgehoben hat, welche Bedeutung die bestehenden nationalen Rahmenregelungen für Beschäftigung und Tarifverhandlungen für den Schutz der Arbeitnehmerrechte haben,

I. in der Erwägung, dass der Bericht der Kommission "Arbeitsbeziehungen in Europa 2006" zeigt, dass hoch entwickelte Tarifverhandlungen einen positiven Einfluss auf die soziale Eingliederung haben können,

J. in der Erwägung, dass die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 136 des EG-Vertrags (...) "folgende Ziele verfolgen: (...) die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, um dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen", und in der Erwägung, dass zur Erreichung dieses Ziels die Kommission gemäß Artikel 140 des EG-Vertrags die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich der Sozialpolitik fördert, insbesondere auf dem Gebiet des Koalitionsrechts und der Kollektivverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern,

K. in der Erwägung, dass gemäß der Präambel der Entsenderichtlinie Bedingungen eines freien und fairen Wettbewerbs sowie Maßnahmen, die die Wahrung der Rechte der Arbeitnehmer entsprechend dem Rechtsrahmen für die Beschäftigung im jeweiligen Land und die Arbeitsbeziehungen in den Mitgliedstaaten garantieren, Voraussetzung für eine Förderung des länderübergreifenden Dienstleistungsverkehrs sind,

L. in der Erwägung, dass die Entsenderichtlinie in Erwägung 12 unmissverständlich besagt, dass "das Gemeinschaftsrecht (...) die Mitgliedstaaten nicht daran (hindert), ihre [nationalen] Gesetze oder die von den Sozialpartnern abgeschlossenen Tarifverträge auf sämtliche Personen anzuwenden, die - auch nur vorübergehend - in ihrem Hoheitsgebiet beschäftigt werden, selbst wenn ihr Arbeitgeber in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist", und dass "das Gemeinschaftsrecht (...) es den Mitgliedstaaten nicht (verbietet), die Einhaltung dieser Bestimmungen mit angemessenen Mitteln sicherzustellen",

M. in der Erwägung, dass das Ziel der Entsenderichtlinie - ein fairer Wettbewerb sowie Maßnahmen, die die Wahrung der Rechte der Arbeitnehmer garantieren - in einer Ära, in der sich die länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen ausweitet, wichtig ist für den Schutz der betroffenen Arbeitnehmer, und zwar unter Einhaltung des Beschäftigungsrechts und der Arbeitsbeziehungen in den Mitgliedstaaten, sofern damit nicht gegen die gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften verstoßen wird,

N. in der Erwägung, dass gemäß der Entsenderichtlinie die Gesetze der Mitgliedstaaten einen Kern zwingender Bestimmungen über ein Mindestmaß an Schutz für die entsandten Arbeitnehmer festlegen, das im Gastland zu gewährleisten ist, der aber nicht der Anwendung von Arbeitsbedingungen, die für die Arbeitnehmer günstiger sind, entgegenstehen darf,

O. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 3 Absatz 8 der Entsenderichtlinie die Richtlinie entweder durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften oder durch Tarifverträge umgesetzt werden kann, die für allgemein verbindlich erklärt wurden oder die allgemein verbindlich sind für alle vergleichbaren Unternehmen in dem betreffenden Industriezweig oder die von den auf nationaler Ebene repräsentativsten Organisationen der Tarifvertragsparteien geschlossen und auf dem gesamten nationalen Hoheitsgebiet angewandt werden; der EuGH bestätigt ebenfalls, dass die Mitgliedstaaten, da die Entsenderichtlinie nicht darauf abzielt, die Systeme zur Festlegung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zu harmonisieren, ihre Freiheit behalten, auf nationaler Ebene ein System zu wählen, das die genannte Richtlinie nicht ausdrücklich vorsieht,

P. in der Erwägung, dass die Kernbestimmungen in Artikel 3 Absatz 1 der Entsenderichtlinie aus international zwingenden Bestimmungen bestehen, die die Mitgliedstaaten gemeinsam beschlossen haben; mit der Feststellung, dass die Vorschriften im Bereich der öffentlichen Ordnung in Artikel 3 Absatz 10 ebenfalls aus international zwingenden Bestimmungen bestehen, dass sie aber insofern einen Rahmen darstellen, als die Mitgliedstaaten über einen gewissen Ermessensspielraum verfügen, wie sie sie in ihrem nationalen Recht festlegen; ferner mit der Feststellung, dass Artikel 3 Absatz 10 für die Mitgliedstaaten insofern von Bedeutung ist, als dass er die Berücksichtigung verschiedener arbeitsmarktpolitischer, sozialpolitischer und anderer Belange einschließlich des Schutzes der Arbeitnehmer unter Beachtung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ermöglicht,

Q. in der Erwägung, dass die Mobilität der Arbeitnehmer in hohem Maße zu Beschäftigung, Wohlstand und EU-Integration beigetragen und den Bürgern neue Möglichkeiten zum Erwerb von Wissen und Erfahrung sowie zur Erreichung eines besseren Lebensstandards geboten hat,

R. in der Erwägung, dass Artikel 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union das Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen kodifiziert,

S. in der Erwägung, dass die Entsenderichtlinie mehr als einer Million Arbeitnehmer die Möglichkeit zur Arbeit im Ausland unter sicheren Bedingungen ohne Probleme oder Konflikte gegeben hat,

T. in der Erwägung, dass die einheitliche Anwendung und Durchsetzung der Bestimmungen der Entsenderichtlinie von entscheidender Bedeutung für die Erreichung ihrer Ziele ist, insbesondere für die Einhaltung von in den Mitgliedstaaten bestehenden Regelungen betreffend die Tarifverträge,

U. in der Erwägung, dass es in Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe a der Dienstleistungsrichtlinie ausdrücklich heißt, dass sie die Entsenderichtlinie nicht ersetzen soll und diese unberührt lässt,

V. in der Erwägung, dass für den freien Warenverkehr die folgende Klausel (bekannt als "Monti-Klausel") in die Verordnung (EG) Nr. 2679/98 aufgenommen wurde - Artikel 2: "Diese Verordnung darf nicht so ausgelegt werden, dass sie in irgendeiner Weise die Ausübung der in den Mitgliedstaaten anerkannten Grundrechte, einschließlich des Rechts oder der Freiheit zum Streik, beeinträchtigt. Diese Rechte können auch das Recht oder die Freiheit zu anderen Handlungen einschließen, die in den Mitgliedstaaten durch die spezifischen Systeme zur Regelung der Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern abgedeckt werden",

W. in der Erwägung, dass Artikel 1 Absatz 7 der Dienstleistungsrichtlinie festlegt: "Diese Richtlinie berührt nicht die Ausübung der in den Mitgliedstaaten und durch das Gemeinschaftsrecht anerkannten Grundrechte. Sie berührt auch nicht das Recht, gemäß nationalem Recht und nationalen Praktiken unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts Tarifverträge auszuhandeln, abzuschließen und durchzusetzen sowie Arbeitskampfmaßnahmen zu ergreifen",

X. in der Erwägung, dass der Europäische Rat Grundsätze für die Schaffung von Arbeitsmarktmodellen festgelegt hat, die zusätzlich zu einem hohen Maß an Sicherheit auch einen hohen Grad von Flexibilität aufweisen (bekannt als "Flexicurity-Modell"); in der Erwägung, dass anerkannt wird, dass ein wichtiger Aspekt eines erfolgreichen Flexicurity-Modells starke Sozialpartner mit beträchtlichem Spielraum für Tarifverhandlungen sind,

Y. in der Erwägung, dass es in der Zuständigkeit des EuGH liegt, das Gemeinschaftsrecht unter Berücksichtigung der Grundrechte und -freiheiten auszulegen und die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des EG-Vertrags zu sichern,

Z. in der Erwägung, dass es Aufgabe nationaler Gerichte ist, im Einzelfall zu prüfen, ob die Kriterien betreffend die Beschränkung von Grundfreiheiten und deren Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht erfüllt sind,

AA. in der Erwägung, dass das Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme und auf Abschluss von Tarifverträgen ein Grundrecht ist, das fester Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ist; in der Erwägung, dass sich der EuGH in diesem Zusammenhang nicht auf eine vom Parlament (als Mitgesetzgeber) nicht angenommene Erklärung des Rates und der Kommission vom 24. September 1996 stützen sollte, die die Auslegung der Begriffe "Vorschriften im Bereich der öffentlichen Ordnung" und "für die politische Ordnung entscheidende nationale Vorschriften" nur auf in der Gesetzgebung festgelegte verbindliche Vorschriften beschränken würde,

AB. in der Erwägung, dass das Urteil des EuGH vom 21. September 1999 in der Rechtssache Albany International BV21 auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts den Gewerkschaften in Bezug auf Arbeitsmarktfragen einen beträchtlichen Ermessensspielraum eingeräumt hat,

AC. in der Erwägung, dass festgestellt worden ist, dass es beim EuGH und zwischen dem Gerichtshof und seinen Generalanwälten in mehreren Rechtssachen betreffend die Entsenderichtlinie, insbesondere in den genannten Rechtssachen Laval und Rüffert, unterschiedliche Ansichten und Auslegungen gab; in der Erwägung, dass angesichts solcher unterschiedlichen Ansichten und Auslegungen möglicherweise eine Klarstellung betreffend das Gleichgewicht zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten erforderlich ist,

Allgemeine Auswirkungen

Forderungen