889. Sitzung des Bundesrates am 4. November 2011
A
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Ausschuss für Kulturfragen (K) und der Rechtsausschuss (R) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission sich mit dem Grünbuch an der Diskussion um die Weiterentwicklung des Urheberrechts speziell für den Online-Vertrieb audiovisueller Werke beteiligt und die Debatte auf Ebene der Union bündelt. Ziel muss es sein, einen praktikablen rechtlichen Rahmen bereitzustellen, der Online-Dienste für audiovisuelle Inhalte grenzübergreifend verfügbar macht. Die technischen Lösungen für konvergierende Zugangswege, bei denen der identische Inhalt gleichermaßen über den herkömmlichen Rundfunk oder das Internet übertragen werden kann, sind weitgehend entwickelt. Dabei wird die Verbreitung audiovisueller Medien (AVM) in Form von Musik, Hörbüchern, E-Books, Spielfilmen, Fernsehen oder Spielen bei der tatsächlichen Verbreitung im Vordergrund stehen. Der rechtliche Rahmen hat damit nicht durchweg Schritt gehalten. Der Bundesrat unterstützt das Vorhaben der Kommission, die Entwicklung des europäischen Binnenmarktes durch Fortschritte bei der Harmonisierung des Urheberechts im Online-Bereich weiter zu fördern.
- 2. Die Kommission wirft in dem Grünbuch in erster Linie Fragen nach den urheberrechtlichen Rahmenbedingungen für den digitalen Binnenmarkt auf. Der Bundesrat weist darauf hin, dass dies ein wichtiger, allerdings nicht der alleinige Aspekt im Bereich AVM ist. Insbesondere das hybride Fernsehen verwischt die Grenzen zwischen Online-Angeboten im Internet und Fernsehen. Inhalte und Dienste für hybride TV-Geräte stammen nicht mehr ausschließlich von den klassischen öffentlichrechtlichen oder privaten Rundfunkveranstaltern, sondern zunehmend von Internetunternehmen, sozialen Netzwerken, Zeitungs- und Zeitschriftenverlegern, Kabel- und Satellitenbetreibern sowie Spieleanbietern, wobei auch Gerätehersteller eigene Plattformen entwickeln, um Fernseh- und Internetangebote auf dem TV-Bildschirm sichtbar zu machen. Damit werden Fragen der Rundfunkordnung virulent, die in der Verantwortung der Mitgliedstaaten liegen. Zum Regelungsbereich des Urheberrechts bestehen Überschneidungen, so dass die Bereiche in abgestimmter Weise weiterentwickelt werden sollten. Als Beispiel sei nur auf die Diskussion um eine Ausweitung des Kontrahierungszwanges für Sendeunternehmen über den Bereich der Kabelweitersendung hinaus verwiesen (vgl. Artikel 12 der Richtlinie 93/83/EWG des Rates vom 27. September 1993 zur Koordinierung bestimmter urheber- und leistungsschutzrechtlicher Vorschriften betreffend Satellitenrundfunk und Kabelweiterverbreitung, ABl. L 248 vom 6. Oktober 1993, S. 15 in Verbindung mit § 87 Absatz 5 des Urheberrechtsgesetzes), die auch im Begründungsteil des Grünbuchs (Abschnitt 2.2.) angesprochen wird; oder auf Fragen zur Ausgestaltung der Verlinkung auf die von Fernsehveranstaltern zum Abruf bereit gehaltenen Inhalte durch Betreiber von Hybridportalen. Zum letzteren Punkt stellen sich Fragen zur Weiterentwicklung des Leistungsschutzrechts für Sendeunternehmen.
- 3. Die Kommission stellt mehrere Optionen für einzuschlagende Politikkonzepte vor, wie die Schaffung eines europäischen Rahmens für die gebietsübergreifende Online-Lizenzierung von Urheberrechten, die Ausweitung des Ursprungsland-Grundsatzes der Satelliten- und Kabelrichtlinie, die Schaffung eines einheitlichen europäischen Urheberrechtskodexes oder die Schaffung eines fakultativen einheitlichen Urheberrechtstitels. Der Bundesrat spricht sich für eine vornehmlich praktisch orientierte, in überschaubarer Zeit zu entwickelnde und konsensfähige Verbesserung des rechtlichen Rahmens aus. Überambitionierte Vorhaben, deren Verwirklichung überwiegend zweifelhaft erscheinen, sollten nicht im Vordergrund stehen. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass derzeit weitere wichtige Vorhaben zum Urheberrecht im europäischen Gesetzgebungsverfahren beraten werden.
- 4. Der Bundesrat spricht sich dafür aus, dass als Priorität die grenzüberschreitende Rechteklärung vereinfacht wird, so dass die kollektive Wahrnehmung von Urheberrechten verbessert wird und eine angemessene Vergütung der Rechteinhaber für die gemeinschaftsweite Online-Nutzung sichergestellt ist.
Zu diesem Zweck sollte die Kommission zur Vereinfachung der Klärung, Verwaltung und grenzüberschreitenden Lizenzierung von Urheberrechten und verwandten Schutzrechten eine Richtlinie für die europaweite kollektive Rechteverwertung vorlegen. Besonders die digitale Welt ist aus Gründen der Rechtssicherheit darauf angewiesen, dass praktikable Verfahren zur massenhaften und schnellen Klärung von Rechten und zur Erteilung von Mehrgebietslizenzen bereitstehen. Die gegenwärtige rechtliche Situation ist im Anschluss an verschiedene Entwicklungen unbefriedigend. Der von der Kommission bereits seit einiger Zeit eingeleitete und im Grünbuch erneut angesprochene Diskussionsprozess sollte vordringlich weitergeführt werden. Dabei sollte sich das Vorhaben nicht auf den Bereich der Wahrnehmung musikalischer Rechte beschränken. Mit den Verwertungsgesellschaften stehen Organisationsformen bereit, die zu einer schnellen und effektiven Umsetzung in der Lage sind. Sie bedürfen eines einheitlichen Rechtsrahmens.
Der Bundesrat verweist hierzu ergänzend auf seine Stellungnahme zur "Digitalen Agenda für Europa" vom 9. Juli 2010 (BR-Drucksache 306/10(B) ).
- 5. An zweiter Stelle spricht sich der Bundesrat dafür aus, den Prozess der Harmonisierung des materiellen Urheberrechts mit seinen verwandten Schutzrechten global und europaweit weiterzuführen. Dieser Weg erscheint vor allem erfolgversprechend, um das im Bereich des Immaterialgüterrechts herrschende Territorialitätsprinzip mit seiner marktabschottenden Wirkung Schritt für Schritt zu überwinden. Mit der weiteren Harmonisierung des materiellen Urheberrechts könnte auch die vom Europäischen Gerichtshof in der Rechtssache "Premier League" (Urteil vom 4. Oktober 2011, C-403/08, C-429/08) kürzlich hervorgehobene Leitlinie besser verfolgt werden, den Übergang von nationalen Märkten zu einem einheitlichen Markt für die Produktion und Verbreitung von Medieninhalten zu vollziehen.
- 6. Der Bundesrat spricht sich dagegen aus, das Hauptaugenmerk auf eine Ausweitung des Ursprungsland-Grundsatzes oder eine in ihrer Wirkung vergleichbare IPR-Regelung des anwendbaren Rechts zu legen. Das klassische Internationale Privatrecht stößt bei der globalen Nutzung des digitalen Netzes an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. Das allen Urheberrechtsordnungen zugrunde liegende Territorialitätsprinzip und das Schutzlandprinzip, mit dem die Territorialität der Schutzrechte in die Systematik des internationalen Kollisionsrechts überführt wird, lässt sich mit den Gegebenheiten des weltweiten Internets nicht mehr in Einklang bringen. Die Bestimmung des anwendbaren Rechts mit der Gefahr langwierig verlaufender Zivilprozesse verliert seine Bedeutung in dem Maße, in dem die zur Entscheidung heranzuziehenden materiellen Sachnormen harmonisiert sind. Deshalb erscheint dieser Weg vorzugswürdig.
- 7. Der Bundesrat empfiehlt, von der Ausweitung des Ursprungsland-Grundsatzes der Satelliten- und Kabelrichtlinie oder des Herkunftsprinzips der E-Commerce-Richtlinie Abstand zu nehmen. Im weltweiten Internet lässt sich die Anknüpfung an ein Herkunfts- oder Ursprungsland nicht überzeugend begründen. Das anwendbare Recht wäre damit weitgehend manipulierbar. Die damit eintretende Beliebigkeit verstellt zudem den Blick dafür, dass es um die Bewertung der schutzwürdigen Interessen geht, wobei sich die Interessen der Rechteinhaber und der Kulturverbraucher diametral entgegenstehen. Der Vorteil für Rechteinhaber würde darin bestehen, dass sie sich auf die Anwendung einheitlichen Rechts verlassen könnten. Der inländische Kulturverbraucher hat demgegenüber ein schützenswertes Interesse daran, sich rasch und zuverlässig über Inhalt und Schranken "seines" Urheberrechts Klarheit zu verschaffen. Die Ermittlung fremden Urheberrechts würde ihn überfordern.
- 8. Der Bundesrat empfiehlt, die von der Kommission erwähnte Option zur Schaffung eines umfassenden einheitlichen Europäischen Urheberrechtskodexes derzeit nicht in den Vordergrund zu stellen. Der durch kodifikatorische Großprojekte dieses Umfangs gebundene Beratungsaufwand droht dringlicheren und erfolgversprechenderen Harmonisierungsaufgaben verloren zu gehen. Das bedeutet nicht, dass akademische Vorarbeiten wie etwa die Ausarbeitung eines "European Copyright Code" durch die Wittem Group oder das gerade mit Unterstützung der Deutschen Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht
- e. V. (GRUR) vorgelegte Projekt eines Modellgesetzes für Geistiges Eigentum nicht unterstützt werden sollten.
- 9. Der Bundesrat hält es derzeit nicht für vordringlich, die Option eines einheitlichen europäischen Urheberrechtstitels (mit oder ohne Registrierung) zu verfolgen. Gegen eine Registrierung spricht neben dem erheblichen bürokratischen Aufwand angesichts massenhaft vorkommender Werkentstehungen vor allem, dass sie angesichts der Vielfältigkeit bestehender Urheberrechte und verwandter Schutzrechte leicht zu einer Verkürzung des Urheberschutzes führen könnte, indem ein Teil der Rechteinhaber den Weg der Registrierung nicht einschlägt. Ob die Schaffung einheitlicher Werkkategorien des Urheberrechts auf europäischer Ebene nach dem Vorbild des nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters mit Vorteilen gegenüber einer herkömmlichen Harmonisierung durch Richtlinien verbunden wäre, bedürfte der näheren Untersuchung. Um weitere Harmonisierungsziele in einem überschaubaren Rahmen zu erzielen, hält der Bundesrat es für vorzugswürdig, den bisherigen Weg der Richtlinienharmonisierung Schritt für Schritt weiter zu gehen.
- 10. Der Bundesrat stimmt den Ausführungen unter Abschnitt 5.1. des Grünbuchs ausdrücklich zu. Nach der derzeit geltenden Rechtslage ist es öffentlichen Einrichtungen, zu deren Aufgabenbereich unter anderem der Schutz und die Erhaltung von AVM gehört - insbesondere Staats- bzw. Landesarchive und Bibliotheken -, nur mit Einschränkungen möglich, die verwahrten AVM nach professionellen Standards durch Sicherungskopie zu erhalten, von ihnen Digitalisate zu erstellen und sie öffentlich zugänglich zu machen. Dieses Problem tritt insbesondere in den Archiven Ostdeutschlands auf, in denen in Folge des gesellschaftlichen Umbruchs besonders häufig verwaiste Werke verwahrt werden.
- 11. Vor diesem Hintergrund beantwortet der Bundesrat die Frage 21 der Vorlage wie folgt:
Die Rechtsstellung der öffentlichen Archive und Bibliotheken muss zum Schutz und zur Nutzung des von ihnen verwahrten audiovisuellen Archivguts gestärkt werden. Ihnen muss ausdrücklich die Möglichkeit eingeräumt werden, Sicherungs- und Nutzungskopien nach professionellen Standards zum Zwecke der Bestandserhaltung zu erstellen. Dieses gilt insbesondere für vermeintlich verwaiste Werke. Ferner müssen die Archive und Bibliotheken in die Lage versetzt werden, auch bei bestehenden Drittrechten audiovisuelles Archivgut - unter der Voraussetzung eines sachgerechten Ausgleichs zwischen den Interessen der Urheber und den betroffenen öffentlichen Einrichtungen -, zum Beispiel im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit oder zu Zwecken der politischhistorischen Bildungsarbeit, zu nutzen.
Ausnahmen für Vervielfältigungen durch Archive und Bibliotheken und die Nutzung in diesen Einrichtungen zu Forschungszwecken nach Artikel 5 Absatz 2 Buchstabe c und Artikel 5 Absatz 3 Buchstabe n der Richtlinie 2001/29/EG (Urheberrecht in der Informationsgesellschaft) sollten nicht wie bisher fakultativ, sondern verbindlich sein. Die Ausnahmen sollten so formuliert werden, dass ausdrücklich alle Vervielfältigungshandlungen erfasst werden, die erforderlich sind, um audiovisuelles Archivgut nach den entsprechenden fachlichen Standards durch Digitalisierungen zu erhalten und es auch in digitaler Form im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrags zugänglich zu machen.
B
- 12. Der Wirtschaftsausschuss empfiehlt dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß § § 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.