Der Bundesrat hat in seiner 900. Sitzung am 21. September 2012 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission der Bekämpfung des Betrugs zu Lasten des EU-Haushalts und damit zu Lasten der Steuerzahler hohe Bedeutung beimisst. Der Schutz der finanziellen Interessen der EU gegen Betrug und Missbrauch muss in allen Mitgliedstaaten ausnahmslos gewährleistet sein. Als größter Beitragszahler in der EU hat die Bundesrepublik Deutschland hieran ein besonderes Interesse.
- 2. Der Bundesrat gibt jedoch zu bedenken, dass auf strafrechtliche Mittel zur Bekämpfung entsprechender Straftaten nur dann zurückgegriffen werden darf, wenn diese für den Schutz der finanziellen Interessen der EU als unbedingt erforderlich anzusehen sind. Daran bestehen aus Sicht des Bundesrates Zweifel:
- 3. Dem Vorschlag liegen keine hinreichend belastbaren Erkenntnisse über das Straftatenaufkommen, die Verfolgungswirklichkeit und die Sanktionspraxis in den Mitgliedstaaten zugrunde. Die bloße Auflistung der unterschiedlichen Strafdrohungen in den Mitgliedstaaten, die die Kommission zur Begründung ihres Vorschlags heranzieht, sagt noch nichts über die Strafverfolgungs- und die (Finanz-)Verwaltungspraxis in den Mitgliedstaaten aus, worauf es aber entscheidend ankommt. Es fehlen insbesondere auch nachvollziehbare Belege dafür, dass sich tatsächlich - wie von der Kommission zugrunde gelegt - potentielle Täter bestehende Unterschiede zwischen den nationalen Rechtsordnungen erfolgreich zunutze machen und ihre kriminellen Machenschaften in Länder mit einem geringeren Strafverfolgungsdruck verlagern. Bevor ein solch umfassendes Regelwerk in Kraft gesetzt wird, muss nach Überzeugung des Bundesrates zunächst eingehend analysiert werden, in welchen Mitgliedstaaten die von der Kommission behaupteten Verfolgungsdefizite tatsächlich bestehen und worauf diese Defizite im Einzelnen tatsächlich beruhen.
- 4. In der Begründung des Richtlinienvorschlags stellt die Kommission die Strafrahmen für Betrugstaten in den einzelnen Mitgliedstaaten gegenüber. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die durch § 263 StGB eröffneten Strafrahmen in der Begründung des Richtlinienvorschlags ["DE Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe (§ 263 StGB)] nur unvollständig wiedergegeben werden. So kann unter den Voraussetzungen des § 263 Absatz 3 StGB (besonders schwere Fälle) Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren verhängt werden. Der Qualifikationstatbestand des § 263 Absatz 5 StGB sieht Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren vor.
- 5. Der Bundesrat stellt fest, dass die Staatsanwaltschaften in der Bundesrepublik Deutschland sehr erfahren und erfolgreich bei der Verfolgung von Straftaten mit großen volks- und betriebswirtschaftlichen Schäden und von grenzüberschreitender Kriminalität sind. Fälle, in denen erhebliche Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU in der Bundesrepublik Deutschland nicht konsequent verfolgt worden wären, sind dem Bundesrat nicht bekannt.
- 6. Der Bundesrat weist darauf hin, dass der Richtlinienvorschlag insgesamt eine nachvollziehbare Begründung dafür schuldig bleibt, weshalb Taten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU unter anderen - ggf. strengeren - Voraussetzungen strafrechtlich verfolgt und sanktioniert werden sollen als vergleichbare Straftaten zum Nachteil sonstiger Personen. Der Bundesrat hat aus diesem Grund erhebliche Bedenken gegen den Richtlinienvorschlag, der ohne nachvollziehbare rechtstatsächliche Begründung tief in die deutsche Strafrechtsordnung eingreifen würde. Es drohen insbesondere verfassungsrechtlich problematische Ausweitungen der Strafbarkeit und Wertungswidersprüche mit dem bestehenden Rechtsgüterschutz. Die - nicht gerechtfertigte - Schaffung eines Sonderstrafrechts wäre zu befürchten.
Besondere Bedenken bestehen gegen folgende Bestimmungen des Richtlinienvorschlags:
- 7. Artikel 3 Buchstabe a Ziffer i bzw. ii und Buchstabe b Ziffer i bzw. ii - Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union - verlangt anders als § 263 StGB weder eine Vermögensverfügung noch den Eintritt eines Vermögensschadens, noch eine Bereicherungsabsicht. Dies hätte nicht nur eine erhebliche Ausweitung der Strafbarkeit zur Folge, sondern würde auch zu Wertungswidersprüchen mit dem Rechtsgüterschutz im Übrigen führen.
Überdies erschließt sich, insbesondere in redaktioneller Hinsicht, die Differenzierung zwischen den Buchstaben a und b des Artikels 3 - nach Einnahmen und Ausgaben - nicht. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass unter den Ziffern i und ii jeweils dieselben Tathandlungen beschrieben werden. Artikel 1 des Übereinkommens vom 26. Juli 1995 aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften trennt zwar ebenfalls zwischen Ausgaben und Einnahmen, knüpft hieran aber auch unterschiedliche Definitionen für Betrugshandlungen. Der Grund der Abweichung zwischen Abkommen und Richtlinienvorschlag ist unklar, ebenso, ob das Ziel der Differenzierung so erreicht werden kann. Der Bundesrat regt an, den Vorschlag in dieser Hinsicht zu überprüfen.
- 8. Artikel 3 Buchstabe a Ziffer iii und Buchstabe b Ziffer iii geht über den Subventionsbetrugstatbestand des § 264 StGB hinaus, von dem nur Subventionen i.S.v. § 264 Absatz 7 StGB erfasst werden, während nach dem Richtlinienvorschlag auch sämtliche Verbindlichkeiten oder Ausgaben bzw. Vorteile in den strafrechtlichen Schutz miteinbezogen werden sollen. Der Bundesrat hält es für erforderlich, diese Ausdehnung kritisch zu prüfen.
- 9. Nach Artikel 4 Absatz 1 sollen die Mitgliedstaaten die Übermittlung oder unterlassene Übermittlung von Informationen an Vergabestellen unter Strafe stellen, wenn diese vorsätzlich und mit dem Ziel erfolgt, bestimmte, im Rahmen eines Vergabeverfahrens maßgebliche Kriterien zu umgehen oder deren Anwendung zu verzerren. Die Vorgabe ist nicht auf Fälle der Übermittlung unzutreffender Informationen beschränkt. Aus der Erläuterung der Vorschrift unter Ziffer 3.4 der Begründung des Richtlinienvorschlags geht hervor, dass sogar allein die Übermittlung wahrer Informationen erfasst werden soll, die jedoch "unrechtmäßig von öffentlichen Stellen erlangt worden sind". Der Bundesrat weist darauf hin, dass ohne die zuletzt genannte Einschränkung - die aus dem Wortlaut des Artikels 4 Absatz 1 nicht abgeleitet werden kann - die Intention und Berechtigung der beabsichtigten Pönalisierung nicht nachvollziehbar ist. Er bittet darum, den Wortlaut der Vorschrift klarer zu fassen und dabei auch die Notwendigkeit einer ausreichend bestimmten, die Grenzen der Strafbarkeit deutlich zum Ausdruck bringenden Formulierung im Blick zu behalten.
- 10. Nach Artikel 4 Absatz 4 sollen es die Mitgliedstaaten unter Strafe stellen, wenn öffentliche Bedienstete vorsätzlich und in der Absicht, die finanziellen Interessen der Union zu schädigen, Mittel entgegen ihrer Zweckbestimmung binden oder auszahlen bzw. sonstige Vermögenswerte entgegen ihrer Zweckbestimmung zuweisen oder verwenden.
Es genügt nach dieser Vorgabe mithin bereits ein mit Schädigungsabsicht erfolgendes bestimmungszweckwidriges objektives Handeln zur Auslösung der Strafbarkeit. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die Strafbarkeit damit außergewöhnlich weit in das zeitliche Vorfeld einer - ggf. gar nicht möglichen oder abwendbaren - tatsächlichen Schädigung ausgedehnt wird. Der Untreuetatbestand des § 266 StGB setzt demgegenüber einen eingetretenen Vermögensnachteil voraus. Der Vorschlag geht damit genau in die entgegengesetzte Richtung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Juni 2010 (- 2 BvR 2559/08 -, NJW 2010, 3209). Das Bundesverfassungsgericht hat mit Blick auf das Bestimmtheitsgebot des Artikels 103 Absatz 2 GG ein eindeutiges Signal gegen Ausweitungstendenzen bei dem jetzt schon konturschwachen Untreuetatbestand gegeben und insbesondere verlangt, dass die Gerichte den eingetretenen Vermögensnachteil - ggf. unter Hinzuziehung eines Sachverständigen - der Höhe nach beziffern und dessen Ermittlung in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise in den Urteilsgründen darlegen.
- 11. Hinzu kommt, dass nach Artikel 5 Absatz 2 für die Taten nach Artikel 4 Absatz 4 auch der Versuch unter Strafe gestellt werden soll. Artikel 4 Absatz 4 umschreibt jedoch inhaltlich bereits eine Versuchskonstellation, weil die Strafwürdigkeit der dort genannten Handlungen allein aus einer subjektiven Schädigungsabsicht resultiert. Aus der Erläuterung zu Artikel 5 unter Ziffer 3.4 der Begründung des Richtlinienvorschlags geht hervor, dass der Versuch bei solchen Delikten grundsätzlich nicht unter Strafe gestellt werden soll, die bereits Elemente des Versuchs enthalten. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass dies auch in Bezug auf Artikel 4 Absatz 4 zu beachten ist.
Der Bundesrat weist ergänzend auf die Schlussfolgerungen des Rates der EU vom 30. November 2009 (Ratsdok. 16542/2/09) über Leitlinien und Musterbestimmungen für künftiges EU-Strafrecht hin, wonach u.a. vermieden werden soll, dass eine Handlung unverhältnismäßig früh unter Strafe gestellt wird.
- 12. Angesichts des gewählten Wortlauts der Artikel 6 und 9 geht der Bundesrat mit Blick auf Artikel 3f. des Zweiten Protokolls aufgrund von Artikel K.3 des Vertrages über die EU zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und Seite 9 f. der Schlussfolgerungen des Rates vom 30. November 2009 über Leitlinien und Musterbestimmungen als Orientierungspunkte für die Verhandlungen des Rates im Bereich des Strafrechts (I.d. F.d. Ratsdok. 16542/09) sowie Seite 10 der Mitteilung der Kommission vom 20. September 2011 ( KOM (2011) 573 endg.) davon aus, dass das vorgesehene Modell den Mitgliedstaaten die Wahl zwischen einer kriminalstrafrechtlichen und einer ordnungswidrigkeitenrechtlichen Unternehmensverantwortlichkeit lässt.
- 13. Der Bundesrat hat erhebliche Bedenken gegen die überaus weitreichenden und detaillierten Verjährungsregelungen in Artikel 12.
- 14. Der Bundesrat sieht Anlass zu dem Hinweis, dass der Richtlinienvorschlag einen maßgeblichen Schritt auf dem Weg zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft bedeuten kann. Insoweit sollten aus seiner Sicht jedoch Vorfestlegungen vermieden werden. Auf Ziffer 2 seiner Stellungnahme vom 8. Juli 2011 (BR-Drucksache 334/11(B) ) nimmt der Bundesrat Bezug.
- 15. Der Bundesrat wirft in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob und inwieweit eine künftige Europäische Staatsanwaltschaft auch Straftaten mitverfolgen dürfte, die im Sachzusammenhang mit den in dem Richtlinienvorschlag genannten Delikten stehen (z.B. Steuerhinterziehung, Insolvenzdelikte, Urkundendelikte). Der Bundesrat merkt hierzu an, dass es keine vertragswidrige Aushöhlung der Zuständigkeiten der nationalen Staatsanwaltschaften auf zentralen Feldern der Kriminalitätsbekämpfung geben darf. Die Überschreitung der Kompetenzen des AEUV und eine Verletzung des Subsidiaritätsgrundsatzes müssen vermieden werden.
- 16. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, sich im Rahmen der Verhandlungen auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass die vorstehenden Standpunkte Berücksichtigung finden.