Der Bundesrat hat in seiner 892. Sitzung am 10. Februar 2012 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat stellt fest, dass für Dienstleistungen von allgemeinem nicht wirtschaftlichen Interesse keine Kompetenz der EU besteht. Die Formulierung "Ein Qualitätsrahmen für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse in Europa" suggeriert Kompetenzen der EU, die nicht gegeben sind, wie auch auf den Seiten 3 und 4 des Dokuments eingeräumt wird.
- 2. Darüber hinaus wendet sich der Bundesrat dagegen, dass Regelungen betreffend den Zugang zur Grundversorgung - auch für Universaldienstleistungen - getroffen werden sollen. Die u.a. unter Ziffer 1 - Einleitung - getroffene Feststellung, die Kommission sehe sich verpflichtet, den Zugang aller Bürgerinnen und Bürger zur Grundversorgung in bestimmten Bereichen zu gewährleisten, indiziert eine Regelungszuständigkeit der EU, die in Wirklichkeit nicht besteht.
Artikel 14 AEUV ermöglicht zwar die Festlegung von Grundsätzen und Bedingungen für das Funktionieren der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse. Artikel 14 AEUV legt jedoch auch fest, dass die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, diese Dienste zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu finanzieren, unberührt bleibt. Demgemäß wird im Protokoll Nummer 26 über Dienste von allgemeinem Interesse auch der weite Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten, diese Dienste zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu organisieren, betont. Mit den angesprochenen Zugangsregelungen würde nach Auffassung des Bundesrates die Kompetenz der EU überschritten.
- 3. Der Bundesrat lehnt nach wie vor Maßnahmen der EU betreffend die Qualität der angebotenen Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse ab. Auch hier steht zu befürchten, dass die Kompetenz der Mitgliedstaaten ausgehöhlt wird. Im Vertrag von Lissabon wird das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen anerkannt. Vor allem im Interesse der Kommunen ist daher darauf zu achten, dass die EU ihre Regelungskompetenz betreffend Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse nicht zu Steuerungszwecken einsetzt und versucht, für den sensiblen Bereich der Daseinsvorsorge eigene Qualitäts- und Sozialstandards einzuführen. Die Daseinsvorsorge muss im Entscheidungsbereich der Mitgliedstaaten und dort insbesondere der Kommunen verbleiben. Nur so kann auch dem Subsidiaritätsgedanken Rechnung getragen werden. Der ehemalige EU-Kommissar für Wettbewerb, Mario Monti, unterstützt diese Haltung nach Auffassung des Bundesrates in seinem Bericht "Eine neue Strategie für den Binnenmarkt im Dienste der Wirtschaft und Gesellschaft in Europa" vom 10. Mai 2010, indem er betont, dass es primär Sache der Mitgliedstaaten sei, Qualität und Umfang von sozialen und lokalen öffentlichen Dienstleistungen festzulegen. Diese Leistungen werden auch durch die Mitgliedstaaten finanziert und sind Teil der nationalen Identität.
Im Zusammenhang mit den Ausführungen der Kommission zu Diensten bzw. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse auf der Seite 4 der Mitteilung (Grundbegriff und -konzeptionen zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse) weist der Bundesrat nochmals besonders auf die Definitionshoheit der Mitgliedstaaten für kommunale Daseinsvorsorgeleistungen hin. Ferner wird darauf hingewiesen, dass nicht nur Dritte als Leistungserbringer tätig werden können, sondern die Kommunen auch selbst Dienste bzw. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erbringen können.
- 4. Der Bundesrat weist ergänzend zur Aussage zum Protokoll Nummer 26 in Ziffer 2 Absatz 2 der Mitteilung darauf hin, dass die Bestimmungen der Verträge in keiner Weise die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, wirtschaftliche Dienste von allgemeinem Interesse bereitzustellen, in Auftrag zu geben und zu organisieren, berühren. Da im Bereich nichtwirtschaftlicher Dienste von vornherein keine Kompetenz der EU besteht, liegt in der Aussage zu den wirtschaftlichen Diensten nach Auffassung des Bundesrates die entscheidende Bekräftigung des Protokolls.
- 5. Der Bundesrat bittet die Kommission, die einleitenden, schwer nachvollziehbaren Aussagen unter Ziffer 3, insbesondere betreffend Privatisierungen, näher zu belegen.
- 6. Nach Auffassung des Bundesrates tritt die Zielsetzung der Kommission auf der Seite 7 der Mitteilung, die Vorschriften über staatliche Beihilfen und das öffentliche Beschaffungswesen einander anzunähern und im Anwendungsbereich zu verschränken, in Widerspruch zur vorrangigen Kompetenz der Mitgliedstaaten, Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse bereitzustellen, in Auftrag zu geben und zu organisieren.
- 7. Der Bundesrat möchte die Kommission in der Tendenz, keine Rechtsvorschriften auf der Grundlage von Artikel 14 AEUV zu erlassen, bestärken. Er hält diese weiterhin für nicht erforderlich oder zweckmäßig.
- 8. Der Bundesrat sieht das Ziel der Kommission, bei der Überarbeitung der Beihilfevorschriften für Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse die Regelungen klarer, einfacher und angemessener zu gestalten, zusammenfassend als nicht erreicht an.
- 9. Der Bundesrat wendet sich gegen die pauschalen Überlegungen der Kommission zu einer obligatorischen Ausschreibung von Personenbeförderungsdiensten (Seite 13 der Mitteilung), durch die ein Eingriff in die Kompetenz der Mitgliedstaaten, Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse zur Verfügung zu stellen, zu befürchten steht.
- 10. Der Bundesrat wendet sich nach wie vor gegen einen Legislativakt zur Vergabe von Konzessionen, insbesondere Dienstleistungskonzessionen.
- 11. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.