890. Sitzung des Bundesrates am 25. November 2011
Der federführende Ausschuss für Familie und Senioren und der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik empfehlen dem Bundesrat, zu dem vom Deutschen Bundestag am 20. Oktober 2011 verabschiedeten Gesetz die Einberufung des Vermittlungsausschusses mit dem Ziel der Aufhebung des Gesetzes zu verlangen.
Begründung:
- a) Der Bundesrat lehnt das vorliegende Gesetz aus folgenden Gründen ab:
- aa) Im Zuge des demografischen Wandels wird die Zahl Pflegebedürftiger massiv steigen. Die Bewältigung der pflegerischen Versorgung heute wie auch in Zukunft wird daher wesentlich von der Bereitschaft und Möglichkeit von Angehörigen und Bezugspersonen abhängen, sich direkt oder indirekt an der Versorgung pflegebedürftiger Familienmitglieder oder anderer nahestehender Personen zu beteiligen. Zugleich erlebt unsere Gesellschaft jedoch einen tiefgreifenden Wandel der Erwerbs- und Familienstrukturen, der die ohnehin mangelhafte Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf erschwert. Deshalb müssen bestehende Angebote zur Unterstützung und Entlastung sowohl von erwerbstätigen als auch nicht erwerbstätigen pflegenden Angehörigen und Bezugspersonen deutlich gestärkt bzw. neue geschaffen werden. Notwendig ist ein pflegepolitisches Gesamtkonzept, das insbesondere die Bedingungen für Angehörige und Bezugspersonen pflegebedürftiger Menschen verbessert und ambulante Versorgungsstrukturen konsequent fördert. Es greift zu kurz, allein Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu diskutieren.
- bb) Da das Gesetz - im Gegensatz zum Referentenentwurf - keinen Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit enthält, soll es vom Willen des Arbeitgebers abhängen, ob der oder die Beschäftigte Familienpflege-zeit in Anspruch nehmen kann oder nicht. Folglich verfehlt das Gesetz das Ziel, die Arbeitnehmerrechte zu stärken und der Situation von berufstätigen pflegenden Angehörigen hinreichend Rechnung zu tragen.
- cc) Zudem entspricht das Gesetz aufgrund seiner starren Regelungen nicht ausreichend den unterschiedlichen Bedarfslagen von Pflege- und Sorgearbeit leistenden Angehörigen. Die Folge wird sein, dass die Regelungen allenfalls bei einem sehr kleinen Personenkreis zur Anwendung kommen werden. Die Regelungen sind weitestgehend auf Vollzeit erwerbstätige und unbefristet Beschäftigte zugeschnitten. Sie sind insbesondere für Beschäftigte mit niedrigem Einkommen - vor allem für Frauen, die überproportional im Niedriglohnbereich beschäftigt sind - kaum geeignet. Damit geht das Gesetz an der Lebenswirklichkeit vieler Betroffener vorbei.
- dd) Äußerst kritisch ist zu bewerten, dass Beschäftigte, die die Familienpflegezeit in Anspruch nehmen wollen, das Ausfallrisiko, das durch Tod oder Berufsunfähigkeit der Pflegeperson entstehen kann, pflichtweise selbst durch eine private Versicherung abdecken müssen. Arbeitgeber haben de facto keinerlei eigenes Risiko zu tragen. Die Kosten der Pflichtversicherung sollen im Regelfall allein die Beschäftigten tragen. Es ist außerdem fragwürdig, dass Arbeitgeber durch eine Versicherung abgesichert sind, die durch ihre Beschäftigten abgeschlossen und finanziert wird. Dieser Schritt in Richtung einer Individualisierung und Privatisierung der Pflegeverantwortung ist nicht hinnehmbar, denn die gesamte Gesellschaft ist hier in der Verantwortung.
- b) Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, unverzüglich bestehende Regelungen wie das Pflegezeitgesetz unter folgenden Gesichtspunkten weiter zu entwickeln:
- aa) die Vereinbarkeit von Familie, Sorgearbeit, Pflege und Beruf weiter zu verbessern und dabei auf eine geschlechtergerechte Ausgestaltung zu achten;
- bb) den bestehenden Rechtsanspruch auf kurzzeitige Arbeitsverhinderung bis zu 10 Tage nach § 2 PflegeZG mit einer Lohnersatzleistung - z.B. analog des Kinderkrankengeldes - auszustatten;
- cc) die Weiterentwicklung des Rechtsanspruches auf Freistellung bis zu sechs Monaten nach den §§ 3 und 4 PflegeZG zu einem zeitlich flexiblen Freistellungsanspruch mit Lohnersatz zu prüfen;
- dd) auch für Angehörige, die einen sterbenden Menschen in seiner letzten Lebensphase begleiten, ist für einen begrenzten Zeitraum die Möglichkeit der Inanspruchnahme eines Freistellungsanspruchs mit Lohnersatzleistung zu prüfen;
- ee) den Begriff "nahe Angehörige" im Pflegezeitgesetz zeitgemäß weiterzuentwickeln und stärker als bisher zu berücksichtigen, dass die Zahl der pflegebedürftigen Alleinstehenden zunimmt und auch Freunde und Nachbarn Verantwortung für Sorgearbeit und Pflege im häuslichen Bereich übernehmen.
- c) Der Bundesrat fordert die Bundesregierung weiter auf, im Rahmen eines Gesamtkonzepts aa) gemeinsam mit Ländern, Kommunen und Pflegekassen die wohnortnahe Beratungs- und Pflegeinfrastruktur weiter zu verbessern sowie den Ausbau von barrierefreiem und altersgerechtem Wohnraum voranzutreiben, so dass Menschen mit Betreuungs- und Pflegebedarf möglichst in ihrer gewohnten Umgebung bleiben können. Dabei sind Beratungs- und Qualifizierungsbedarfe von pflegenden Angehörigen sowie besondere Bedarfe im ländlichen Raum zu berücksichtigen;
- bb) weitere Maßnahmen zur Etablierung einer familienfreundlichen Arbeitskultur zu ergreifen. Beispielsweise sind ein Rechtsanspruch auf befristete Teilzeit sowie eine klarere Regelung des Anspruchs auf Aufstockung der Arbeitszeit umzusetzen.
- d) Flankierend zu den gesetzgeberischen Maßnahmen aa) sind Forschungsprojekte zur Entwicklung und Erprobung individueller, kurz- und langfristig vereinbarter, betrieblicher Arbeitszeitmodelle zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu fördern und bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie Arbeitgebern bekannt zu machen;
- bb) sind Förder- und Anreizstrukturen für mehr bürgerschaftliches Engagement sowie für den qualitativen und quantitativen Ausbau komplementärer und haushaltsnaher Dienstleistungen im Bereich der Pflege weiterzuentwickeln;
- cc) ist die Koordination und Kooperation der verschiedenen Akteure im Bereich der Pflege deutlich zu verbessern;
- dd) sind entlastende ambulante Leistungsangebote, wie die Tages- und Nachtpflege bekannter zu machen, Angebote der Kurzzeit- und Verhinderungspflege auszubauen sowie ihre Finanzierung zu verbessern und neue Entlastungsangebote, etwa die Tagesbetreuung, zu entwickeln;
- ee) sind alternative Wohn- und Versorgungsformen, die stärker an den individuellen Bedürfnissen der Betroffenen orientiert sind, wie Hausund Wohngemeinschaften, zu befördern und auszubauen.