Punkt 42 der 890. Sitzung des Bundesrates am 25. November 2011
Der Bundesrat möge zu der Vorlage gemäß Artikel 12 Buchstabe b EUV wie folgt Stellung nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt das Vorhaben der Kommission, durch Maßnahmen im Bereich des Kaufrechts die Entwicklung des europäischen Binnenmarktes weiter zu fördern, es Unternehmen zu ermöglichen, bei den grenzübergreifenden Kaufverträgen Standardisierungsvorteile zu nutzen sowie ihre vertragsrechtsbedingten Transaktionskosten zu reduzieren und zugleich durch umfassende Verbraucherschutzvorschriften ein hohes Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten.
- 2. Die Subsidiaritätsrüge gemäß Artikel 12 Buchstabe b EUV erfasst auch die Frage der Zuständigkeit der EU - siehe die Stellungnahmen des Bundesrates vom 9. November 2007, BR-Drucksache 390/07(B) , Ziffer 5, und vom 26. März 2010, BR-Drucksache 043/10(B) , Ziffer 2 -. Der Grundsatz der Subsidiarität ist ein Kompetenzausübungsprinzip. Gegen das Subsidiaritätsprinzip wird auch dann verstoßen, wenn keine Kompetenz der Union besteht. Daher muss im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung zunächst die Frage der Rechtsgrundlage geprüft werden. Zudem wäre es widersprüchlich, wenn die nationalen Parlamente zwar Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip, nicht aber den noch schwerer wiegenden Eingriff, den ein Handeln der EU ohne Zuständigkeit darstellt, rügen könnten.
- 3. Der Bundesrat hat erhebliche Zweifel, ob sich die vorgeschlagene Verordnung auf Artikel 114 AEUV stützen lässt.
Nach dem in Artikel 5 Absatz 2 EUV normierten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung darf die EU nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig werden, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben. Artikel 114 AEUV gestattet Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, welche die Einrichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben. Sowohl nach dem Wortsinn als auch nach der Rechtsprechung des EuGH setzt eine Rechtsangleichung voraus, dass eine Maßnahme auf das bestehende nationale Recht einwirkt und nicht zusätzlich neben das bestehende mitgliedstaatliche Recht tretende Regelungen schafft (EuGH, Urteil vom 2. Mai 2006, Rechtssache C-436/03). So hat es der EuGH in der oben genannten Entscheidung im Fall der Europäischen Genossenschaft für nicht vertretbar gehalten, eine Angleichung der Rechtsvorschriften anzunehmen, weil die Verordnung über die Europäische Genossenschaft die bestehenden nationalen Regelungen zu den Gesellschaftsformen unverändert ließ und nur zusätzlich die Option einräumte, die Europäische Genossenschaft als Gesellschaftsform zu wählen.
Das gleiche Regelungsmodell liegt dem Vorschlag für eine Verordnung über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht zugrunde. Denn die geplante Verordnung zielt nicht auf eine Änderung des bestehenden innerstaatlichen Vertragsrechts der Mitgliedstaaten, sondern schafft eine fakultative zweite Vertragsrechtsregelung in jedem Mitgliedstaat. Die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten werden daher hierdurch ebenso wenig angeglichen wie im Fall der Europäischen Genossenschaft.
- 4. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass sich der Vorschlag für eine Verordnung über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht möglicherweise auf Artikel 352 AEUV stützen ließe.
- 5. Die Heranziehung einer Rechtsgrundlage, die den Vorschlag nicht trägt, kann nach Auffassung des Bundesrates mit der Subsidiaritätsrüge auch dann beanstandet werden, wenn nicht ausgeschlossen ist, dass die Voraussetzungen der ergänzenden Rechtsetzungsbefugnis nach Artikel 352 AEUV vorliegen. Diese Überzeugung fußt in der Sonderstellung, die Artikel 352 AEUV im Kompetenzgefüge hat. Artikel 352 AEUV stellt nicht lediglich eine andere Kompetenzgrundlage unter mehreren denkbaren dar. Die als Kompetenzergänzungsklausel, Flexibilitätsklausel oder Auffangklausel bezeichnete Norm ermöglicht vielmehr eine vertragsimmanente Fortentwicklung des Unionsrechts unterhalb der förmlichen Vertragsänderung. Sie erlaubt ein an sich befugnisloses Tätigwerden der EU immer dann, wenn es zur Verwirklichung eines Vertragszieles erforderlich ist. Angesichts des weiten und unbestimmten Anwendungsbereichs der Norm kommt ihre Prüfung häufig in Betracht, wenn die Voraussetzungen einer speziellen Rechtsgrundlage nicht erfüllt sind. Mit der besonderen Qualität der Kompetenzergänzungsklausel korrespondieren besondere Verfahrensvoraussetzungen sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene. Auf der Grundlage von Artikel 352 AEUV können Vorschriften im Rat nur einstimmig erlassen werden. In der Bundesrepublik Deutschland setzt die Inanspruchnahme von Artikel 352 AEUV gemäß § 8 IntVG ein Ratifikationsgesetz nach Artikel 23 Absatz 1 Satz 2 und 3 GG voraus. Jedenfalls wenn - wie im Fall des Artikels 352 AEUV - mit der Wahl der richtigen Rechtsgrundlage weiterreichendere Rechte der nationalen Parlamente einhergehen, können Verstöße gegen die Kompetenzordnung auch mit der Subsidiaritätsrüge beanstandet werden.