A. Zielsetzung
Laut der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik sind die Inobhutnahmen unbegleiteter Minderjähriger 2013 im Vergleich zum Vorjahr um rund 40 Prozent angestiegen. Diese Entwicklung hat sich 2014 noch einmal verschärft. Aufgrund der gesetzlichen Aufgabenzuweisung gemäß § 87 SGB VIII ist das Jugendamt für die Inobhutnahme zuständig, in dessen Bezirk der Minderjährige aufgegriffen wird. Dementsprechend konzentriert sich der Zustrom auf wenige grenznahe Jugendämter an den Zugangsrouten, die 60 bis 90 Prozent aller Inobhutnahmen vornehmen. Da die Verwaltungs- und Vormundschaftskosten von den Kommunen selbst zu tragen sind, führt dies zu erheblichen finanziellen Belastungen.
Ziel dieser Bundesratsinitiative ist es, die besonders betroffenen Jugendämter finanziell zu entlasten und so für eine gerechtere Lastenverteilung zu sorgen. Der Sinn und Zweck einer interkommunalen Verteilung von unbegleiteten Minderjährigen wird bislang dadurch konterkariert, dass ein Zuständigkeitswechsel erst nach Abschluss der Inobhutnahmemaßnahme und nur dann erfolgt, wenn unbegleitete Minderjährige um Asyl nachsuchen. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, ist die Kommune auch nach der Zuweisung eines unbegleiteten Minderjährigen an ein anderes Jugendamt verpflichtet, für die Verwaltungskosten einzustehen.
B. Lösung
Mittels einer Änderung des SGB VIII - Kinder- und Jugendhilferecht - werden die besonders belasteten Jugendämter an den Zugangsrouten entlastet. Künftig soll eine Zuweisungsentscheidung auch dann einen Übergang der Zuständigkeit auf ein anderes Jugendamt bewirken, wenn die Inobhutnahme noch nicht abgeschlossen ist oder der unbegleitete Minderjährige nicht um Asyl nachgesucht hat. Damit wären im Kinder- und Jugendhilferecht auch die Voraussetzungen für länderübergreifende Zuständigkeitswechsel bei einer Verteilung geschaffen.
C. Alternativen
Keine.
D. Finanzielle Auswirkungen und Bürokratiekosten
Aufgrund einer gerechten Verteilung der unbegleiteten Minderjährigen auf die Jugendämter entstehen insgesamt keine zusätzlichen Kosten für die kommunalen Haushalte. Allerdings ist mit dem Verteilungsverfahren eine Verlagerung der Kosten verbunden. Die besonders betroffenen Kommunen, die bislang den überwiegenden Teil der Kosten tragen, werden entlastet. Und im Gegenzug werden Kommunen finanziell belastet, die bislang kaum Verantwortung für unbegleitete Minderjährige tragen. Der Umfang der Kostenverlagerungen ist von der weiteren Entwicklung der Zugangszahlen abhängig.
Da die Länder bereits Verteilungsverfahren für erwachsene Asylbewerber geschaffen haben, führt die Verteilung der unbegleiteten Minderjährigen durch staatliche Stellen nicht zu nennenswertem Mehraufwand.
Gesetzesantrag des Freistaates Bayern
Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe
Der Bayerische Ministerpräsident München, 30. September 2014
An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Stephan Weil
Sehr geehrter Herr Präsident,
gemäß dem Beschluss der Bayerischen Staatsregierung übermittle ich den als Anlage mit Vorblatt und Begründung beigefügten Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe mit dem Antrag, dass der Bundesrat diesen gemäß Artikel 76 Absatz 1 GG im Bundestag einbringen möge.
Zudem übermittle ich die als Anlage beigefügte Entschließung des Bundesrates zur bundesweiten Verteilung der unbegleiteten ausländischen Minderjährigen* mit dem Antrag, dass der Bundesrat diese fassen möge.
Ich bitte, den Gesetzentwurf und den Entschließungsantrag gemäß § 36 Absatz 2 GOBR auf die Tagesordnung der 926. Sitzung am 10. Oktober 2014 zu setzen und anschließend den Ausschüssen zur Beratung zuzuweisen.
Mit freundlichen Grüßen
Horst Seehofer
Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe
Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:
Artikel 1
Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe
Das Achte Buch Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe - in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 29. August 2013 (BGBl. I S. 3464) geändert worden ist, wird wie folgt geändert:
1. § 86 Absatz 7 Satz 1 wird wie folgt gefasst:
"Für Leistungen an unbegleitete ausländische Kinder oder Jugendliche ist der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich sich die Person vor Beginn der Leistung tatsächlich aufhält; geht der Leistungsgewährung eine Inobhutnahme voraus, so bleibt die nach § 87 begründete Zuständigkeit bestehen."
2. In § 87 wird folgender Satz 2 eingefügt:
"Unterliegt ein unbegleitetes ausländisches Kind oder ein unbegleiteter ausländischer Jugendlicher (§ 42 Abs. 1 Nr. 3) einem Verteilungsverfahren, so richtet sich die örtliche Zuständigkeit nach der Zuweisungsentscheidung der zuständigen Landesbehörde; bis zur Zuweisungsentscheidung gilt Satz 1 entsprechend."
Artikel 2
Zitiergebot
Dieses Gesetz schränkt das Recht aus Art. 6 Absatz 2 S. 1 des Grundgesetzes ein.
Artikel 3
Inkrafttreten
Das Gesetz tritt am Tage nach der Verkündung in Kraft.
Begründung:
I. Allgemeines
- 1. Angesichts der Dimension internationaler Konflikte und des damit verbundenen starken Anwachsens der Zahl der Flüchtlinge steht unsere Gesellschaft vor großen humanitären Herausforderungen. Es ist festzustellen, dass die Zahl unbegleiteter Min- derjähriger deutlich gestiegen ist. Der seit Beginn der Erhebung im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfestatistik (1995) bekannte Höchststand lag 1997 bei 2.113 gemeldeten Inobhutnahmen. Seitdem waren die Zahlen bis 2005 rückläufig. Seit 2005 gibt es einen immer stärkeren Anstieg. Aufgrund der sich zuspitzenden Lage in verschiedenen Krisenregionen stehen die Jugendämter vor immensen Herausforderungen. Laut der Kinder- und Jugendhilfestatistik wurden 2013 insgesamt 6.584 Inobhutnahmen unbegleiteter Minderjähriger gemeldet. Dies ist im Vergleich zum Vorjahr (4.767) eine Zunahme von rund 40 Prozent. 2014 sind die Zugangszahlen im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum erneut stark angestiegen.
- 2. Gemäß den Länderauswertungen der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik tragen einige wenige Jugendämter die Lasten der Betreuung unbegleiteter ausländischer Minderjähriger. Die vorliegenden Informationen deuten darauf hin, dass rund 60 bis 90 Prozent aller Inobhutnahmen innerhalb eines Bundeslandes von den besonders betroffenen Kommunen vorgenommen werden. Diese Konzentration ist durch folgende, von den jeweiligen Jugendämtern nicht zu verantwortende, Umstände geprägt: Lage an den Außengrenzen, Einzugsgebiete von Flug- oder Seehäfen sowie Betrieb zentraler Erstaufnahmeeinrichtungen. Die betroffenen Jugendämter sind an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gelangt.
- 3. Die besonders betroffenen Jugendämter sind finanziell zu entlasten und eine gerechtere Lastenverteilung ist herbeizuführen. Die interkommunale Verteilung von unbegleiteten Minderjährigen wird derzeit im Kinder- und Jugendhilferecht nur teilweise berücksichtigt. Ein Zuständigkeitswechsel ist erst nach Abschluss der Inobhutnahmemaßnahme und nur dann möglich, wenn unbegleitete Minderjährige um Asyl nachsuchen. Damit wird nur ein Teil der unbegleiteten Minderjährigen von einer Regelungsmöglichkeit erfasst. Gemessen an den aktuellen Anforderungen sind diese Regelungen nicht mehr sachgerecht und führen angesichts der hohen Fallzahlen zu einer Überlastung der betroffenen örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe.
- 4. Durch die Neufassung der Zuständigkeitsregelungen und damit verbundene Kostentragungspflichten für die Betreuung von unbegleiteten Minderjährigen im Kinder- und Jugendhilferecht werden im Zusammenspiel mit einer interkommunalen Verteilung die besonderen Belastungen der Kommunen an den Zugangsrouten ausgeglichen und die Lasten gerechter verteilt.
II. Zu den einzelnen Vorschriften
Zu Artikel 1
Zu Nummer 1
Die gleichmäßige Verteilung ausländischer unbegleiteter Minderjähriger auf die Jugendämter ist unumgänglich, um eine angemessene Betreuung sowie eine gerechte interkommunale Lastenverteilung sicherzustellen.
Die rechtlichen Möglichkeiten, im Rahmen eines Verteilungsverfahrens zu einer Entlastung der besonders belasteten Jugendämter an den Zugangsrouten beizutragen, sind derzeit eng begrenzt.
§ 86 Abs. 7 Satz 2 SGB VIII findet bislang ausschließlich auf unbegleitete Minderjährige Anwendung, die um Asyl nachsuchen oder einen Asylantrag gestellt haben. Nur in diesen Fällen führt ein asylrechtliches Verteilungsverfahren dazu, dass die jugendhilferechtliche Zuständigkeit auf ein anderes Jugendamt übergeht. Verzichtet der unbegleitete Minderjährige auf einen Asylantrag, so bleibt das Jugendamt trotz anderweitiger aufenthalts- oder asylrechtlicher Zuweisung zuständig und muss weiterhin die Kosten tragen. Daher ist es notwendig, § 86 Abs. 7 Satz 1 SGB VIII auf alle unbegleiteten Minderjährigen zu erstrecken, insbesondere auch auf solche, die unerlaubt eingereist sind und weder um Asyl nachsuchen noch einen Asylantrag gestellt haben. Dies wird durch die vorgeschlagene Gesetzesänderung ermöglicht.
Zu Nummer 2
Für die Inobhutnahme ist bislang gemäß § 87 SGB VIII immer das Jugendamt zuständig, in dessen Bezirk der Jugendliche der Obhut des Jugendamts übergeben wird. Bis zum Abschluss der Inobhutnahme kann derzeit weder eine asylverfahrensnoch eine aufenthaltsrechtliche Zuweisung den Übergang der Zuständigkeit auf ein anderes Jugendamt herbeiführen.
Um eine gerechte interkommunale Lastenverteilung zu ermöglichen, wird in § 87 SGB VIII ein neuer Satz 2 geschaffen. Auf diese Weise kann im Wege einer Zuweisungsentscheidung vor dem Abschluss der Inobhutnahmemaßnahme ein Übergang der Zuständigkeit herbeigeführt werden. In diesem Fall ist die bereits eingeleitete Inobhutnahme von dem nunmehr zuständigen Jugendamt fortzusetzen und insbesondere die damit verbundene Abklärung des Hilfebedarfs vorzunehmen.
Zu Artikel 2
Mit der Inobhutnahme gemäß § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII greift das Jugendamt in Eil- und Notfällen ein, um Schaden von dem unbegleiteten ausländischen Kind oder Jugendlichen abzuwenden. Damit ist ein Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht gemäß Art. 6 Absatz 2 GG verbunden, selbst wenn die Eltern faktisch nicht erreichbar sind. Aufgrund Art. 19 Absatz 1 Satz 2 ist deswegen das eingeschränkte Grundrecht namentlich zu nennen.
Zu Artikel 3
Artikel 3 regelt das Inkrafttreten. Ein längerer Vorlauf für die Verwaltung zur Umsetzung der Regelungen ist nicht geboten, da auf bisherige Erfahrungen zurückgegriffen werden kann. Ein möglichst umgehendes Inkrafttreten ist anzustreben, um die besonders belasteten Jugendämter entlang der Zugangsrouten umgehend zu entlasten.