Der Bundesrat hat in seiner 789. Sitzung am 20. Juni 2003 beschlossen, zu dem Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Abs. 2 des Grundgesetzes wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat stellt fest, dass das Gesetz seiner Zustimmung mit zwei Dritteln seiner Stimmen gemäß Artikel 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Artikel 79 Abs. 2 des Grundgesetzes bedarf.
Begründung
Gemäß Artikel 23 Abs. 1 Satz 3 GG ist die Zustimmung des Bundesrates mit zwei Dritteln seiner Stimmen erforderlich, wenn durch Änderungen der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union und vergleichbare Regelungen das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen und Ergänzungen ermöglicht werden. Der Beitrittsvertrag regelt erstmalig verbindlich die Zahl der Sitze für die neuen Mitgliedstaaten im Europäischen Parlament, ihre Stimmenzahl im Rat sowie das künftig geltende Quorum für die qualifizierte Mehrheit (Beitrittsvertrag Zweiter Teil "Anpassung der Verträge", Titel I "Institutionelle Bestimmungen").
Der am 1. Februar 2003 in Kraft getretene Vertrag von Nizza wird durch diese Regelungen des Beitrittsvertrags entsprechend angepasst. Die Mitgliedstaaten hatten sich bei der Regierungskonferenz von Nizza im Hinblick auf die Erweiterung der Europäischen Union auf 27 Mitglieder zwar auf eine Neuverteilung der Sitze im Europäischen Parlament und eine Stimmengewichtung im Rat, im Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie im Ausschuss der Regionen geeinigt (Erklärung Nr. 20), die jedoch nicht Bestandteil des Vertrags wurde. Die endgültige und rechtlich verbindliche Festlegung der institutionellen Bestimmungen und die damit verbundene Änderung des Kreises der Befugten, die übertragene Hoheitsrechte ausüben, stellt eine wesentliche Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union dar, durch die das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert bzw. ergänzt wird.
Somit ist die Zustimmung des Bundesrates mit zwei Dritteln seiner Stimmen erforderlich.
- 2. Der Bundesrat begrüßt den erfolgreichen Abschluss der Erweiterungsverhandlungen mit Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und Zypern auf dem Europäischen Rat Kopenhagen am 12./13. Dezember 2002, die Zustimmung des Europäischen Parlaments am 9. April 2003 zu den Beitritten und die Unterzeichnung des Beitrittsvertrags am 16. April 2003 in Athen durch die Staats- und Regierungschefs. Damit ist der Weg für den Beitritt der zehn Beitrittsländer zur Europäischen Union zum 1. Mai 2004 eröffnet. Die Erweiterung der EU stellt einen entscheidenden Schritt zur langfristigen Sicherung einer stabilen europäischen Friedensordnung dar. Dieser Prozess ist nicht nur historisch begründet, sondern eine politische Notwendigkeit, die zu Freiheit, Demokratie und Wohlstand in ganz Europa beiträgt. Die Erweiterung stärkt das Gewicht der Europäischen Union in der Welt.
- 3. Der Bundesrat hat sich von Anbeginn der Verhandlungen für die Berücksichtigung spezifischer Länderinteressen eingesetzt. Das Verhandlungsergebnis trägt den Anliegen, die der Bundesrat in seinen Entschließungen vom 9. März 2001 (BR-Drucksache 170/01(Beschluss) ), 27. September 2001 (BR-Drucksache 711/01(Beschluss) ) und 22. März 2002 (BR-Drucksache 209/02(Beschluss) ) geäußert hat, Rechnung.
- 4. Der Wunsch der Beitrittsstaaten nach Mitgliedschaft unterstreicht erneut die große Attraktivität der Europäischen Union. Der Bundesrat begrüßt den erfolgreichen Ausgang der Referenden in Malta, Slowenien, Ungarn, Litauen, der Slowakischen Republik, Polen und der Tschechischen Republik, die ein großes Maß an Zustimmung der Bevölkerung zum Beitritt zu der Europäischen Union gezeigt haben. Der Bundesrat würde es begrüßen, wenn die noch folgenden Referenden ebenfalls positiv verlaufen würden. Die Ergebnisse der bisherigen Referenden zeigen, dass auch die Bürger in den neuen Mitgliedstaaten die Mitgliedschaft in der Europäischen Union als große Chance für Freiheit, Frieden, Demokratie und wirtschaftliche Entwicklung sowie für das weitere Zusammenwachsen der europäischen Völker begreifen. Zugleich erkennt der Bundesrat die großen Leistungen der Bürger der mittel- und osteuropäischen Beitrittsstaaten an, die diese während des Transformationsprozesses erbracht haben und die mit großen politischen, gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen verbunden sind.
- 5. Der Bundesrat macht darauf aufmerksam, dass nach den Schlussfolgerungen der Kommission in den letzten Fortschrittsberichten zum Stand der Angleichung der Rechtsvorschriften und zum Ausbau der Verwaltungskapazitäten in einigen Bereichen noch dringender Handlungsbedarf besteht. Er ermutigt die Beitrittsländer, die begonnenen Maßnahmen zur Umsetzung des Acquis und zur weiteren Stärkung der Verwaltungskapazitäten energisch fortzusetzen und bekundet seine Bereitschaft, sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu unterstützen (Twinning).
- 6. Der Bundesrat begrüßt die Erklärung der tschechischen Regierung vom 19. Juni 2003. Zugleich erinnert er an die Aufforderung des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 1999, "fortbestehende Gesetze und Dekrete aus den Jahren 1945 und 1946 aufzuheben, soweit sie sich auf die Vertreibung von einzelnen Volksgruppen in der ehemaligen Tschechoslowakei beziehen", sowie an den deutschtschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrag von 1992 und die deutschtschechische Erklärung von 1997, in der sich beide Seiten zu ihrer historischen Verantwortung bekannt haben.
- 7. Der Bundesrat würdigt die großen Fortschritte in den Beitrittsverhandlungen, die mit den Kandidaten Rumänien und Bulgarien bei der Übernahme und Umsetzung des Gemeinschaftsrechts erzielt werden konnten. Er würdigt das auf dem Europäischen Rat von Kopenhagen gesetzte Ziel, diese Staaten bis zum Jahr 2007 als Mitglieder in die Europäische Union aufzunehmen und die Verhandlungen auf Grundlage derselben Kriterien wie bisher fortzusetzen.
- 8. Vor dem Hintergrund der unmittelbar anstehenden Erweiterung wird eine Reform der Europäischen Union immer dringlicher. Der Bundesrat unterstreicht seine Hoffnung, dass der zukünftige Verfassungsvertrag für Europa, der auf der Grundlage der Ergebnisse des Konvents von der folgenden Regierungskonferenz finalisiert wird, die Handlungsfähigkeit einer erweiterten Europäischen Union gewährleistet und eine klarere Zuständigkeitsabgrenzung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten sowie zwischen den einzelnen Institutionen der EU beinhaltet.