A. Problem und Ziel
Immer häufiger müssen sich deutsche Strafgerichte mit (fremden) kulturellen oder religiösen Prägungen der Beschuldigten auseinandersetzen. Namentlich sogenannte "Ehrenmorde", Zwangsheirat, Genitalverstümmelung und andere körperliche bzw. sexuelle Übergriffe konfrontieren die Justiz mit Rechts- und Wertvorstellungen, die den hiesigen diametral zuwiderlaufen.
Derartige Taten stellen die Strafrechtspflege in Fragen von Schuld und Strafzumessung vor besondere Herausforderungen. Gerade angesichts der in jüngerer Zeit erfolgten massenhaften Migration nach Deutschland und der damit einhergehenden kulturellen und religiösen Diversifizierung der Gesellschaft erscheint ein differenzierter, konsistenter und an der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland orientierter Umgang mit kulturell oder religiös geprägten Straftaten für unseren freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat wichtiger denn je. Hierzu bedarf es hinreichend klarer gesetzlicher Vorgaben für die Strafzumessung. Die geltende Regelung in § 46 des Strafgesetzbuchs (StGB) lässt insoweit jedoch Lücken. Insbesondere verhält sie sich nicht dazu, ob und inwieweit tatrelevante kulturelle oder religiöse Prägungen des Täters berücksichtigt werden können oder sogar müssen. Dieser Umstand dürfte ein Grund dafür sein, dass eine klare, einheitliche und prinzipiengeleitete Linie der Rechtsprechung bei der Würdigung derart motivierter Taten nicht festzustellen ist. Namentlich in der tatrichterlichen Praxis finden sich nicht selten unspezifische Verweise auf die - strafmildernd gewertete - Herkunft von Tätern aus "völlig fremden Kulturkreisen" sowie undifferenzierte Aussagen zu anderen Kulturen und Religionen, namentlich zu traditionellen Rollenbildern und kulturell geprägten Persönlichkeitsmerkmalen, deren Relevanz für die Strafbemessung beim Täter häufig nicht näher dargelegt wird.
B. Lösung
Der Entwurf sieht eine Ergänzung der Regelung zur Strafzumessung in Absatz 2 von § 46 StGB in zweifacher Hinsicht vor:
Zum einen wird die Vorschrift um eine allgemeine Regelung ergänzt, die klarstellend und zugleich wertsetzend auf den Ausgangspunkt der strafzumessungsrechtlichen Beurteilung hinweist: die Würdigung der Tatumstände auf der Basis der Wertmaßstäbe der hiesigen Rechtsgemeinschaft - und das meint in erster Linie: der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.
Die anschließende Regelung begrenzt die strafmildernde Relevanz hiermit nicht zu vereinbarender kultureller oder religiöser Wertvorstellungen des Täters für die Schuldbetrachtung auf Fälle eingeschränkter Unrechtseinsicht oder Steuerungsfähigkeit. Zugleich wird für diese Fälle auch eine äußere Grenze gezogen, indem klargestellt wird, dass derartige Prägungen nicht zu einer Strafmilderung führen können, wenn der Widerspruch zu der hiesigen verfassungsmäßigen Ordnung fundamental ist. Auf diese Weise wird eine Rückbindung der strafrechtlichen Beurteilungsmaßstäbe an die Schuld des Täters erreicht und - unter Einbeziehung normativer Gesichtspunkte - die Möglichkeit einer strafmildernden Berücksichtigung von kulturellen oder religiösen Wertvorstellungen in der Strafzumessung durch eine regelgeleitete Rechtsanwendung auf Ausnahmefälle beschränkt.
C. Alternativen
Beibehaltung des bisherigen, unbefriedigenden Zustands.
D. Haushaltsaufgaben ohne Erfüllungsaufwand
Keine.
E. Erfüllungsaufwand
E.1 Erfüllungsaufwand für Bürgerinnen und Bürger
Keiner.
E.2 Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft
Keiner.
Davon Bürokratiekosten aus Informationspflichten.
Keine.
E.3 Erfüllungsaufwand der Verwaltung
Keiner.
F. Weitere Kosten
Mehrkosten im justiziellen Kernbereich sind nicht in nennenswertem Umfang zu erwarten. Die vorgeschlagenen Neuregelungen enthalten teilweise Klarstellungen, teilweise Maßgaben für eine regelgeleitete Rechtsanwendung bei der Berücksichtigung kultureller oder religiöser Prägungen, ohne den Bereich des ohnehin bereits Strafbaren auszudehnen.
Gesetzesantrag des Freistaates Bayern
Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs - Strafzumessung bei kulturellen und religiösen Prägungen
Der Bayerische Ministerpräsident München, 7. März 2017
An die Präsidentin des Bundesrates
Frau Ministerpräsidentin
Malu Dreyer
Sehr geehrte Frau Präsidentin,
gemäß dem Beschluss der Bayerischen Staatsregierung übermittle ich den als Anlage mit Vorblatt und Begründung beigefügten Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs - Strafzumessung bei kulturellen und religiösen Prägungen mit dem Antrag, dass der Bundesrat diesen gemäß Artikel 76 Absatz 1 GG im Bundestag einbringen möge.
Ich bitte, den Gesetzentwurf gemäß § 36 Absatz 2 GO BR auf die Tagesordnung der 954. Sitzung am 10. März 2017 zu setzen und anschließend den Ausschüssen zur Beratung zuzuweisen.
Mit freundlichen Grüßen
Horst Seehofer
Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs - Strafzumessung bei kulturellen und religiösen Prägungen
Vom ...
Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:
Artikel 1
Änderung des Strafgesetzbuchs
Das Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), zuletzt geändert durch ... vom ... (BGBl. I S. ...), wird wie folgt geändert:
§ 46 Absatz 2 werden folgende Sätze angefügt:
"Ausgangspunkt für die Beurteilung der Umstände ist die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Dieser widersprechende kulturelle oder religiöse Prägungen oder Wertvorstellungen des Täters dürfen im Rahmen der Schuld strafmildernd nur berücksichtigt werden, wenn sie sich auf dessen Fähigkeit ausgewirkt haben, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, und sie nicht in fundamentalem Widerspruch zu der verfassungsmäßigen Ordnung stehen."
Artikel 2
Inkrafttreten
Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft.
Begründung
A. Allgemeiner Teil
I. Zielsetzung des Entwurfs und Notwendigkeit der Regelungen
Immer häufiger müssen sich deutsche Strafgerichte mit (fremden) kulturellen oder religiösen Prägungen der Beschuldigten auseinandersetzen. Namentlich sogenannte "Ehrenmorde", Zwangsheirat, Genitalverstümmelung und andere körperliche bzw. sexuelle Übergriffe konfrontieren die Justiz mit Rechts- und Wertvorstellungen, die den hiesigen diametral zuwiderlaufen.
Derartige Taten stellen die Strafrechtspflege in Fragen von Schuld und Strafzumessung vor besondere Herausforderungen. Gerade angesichts der in jüngerer Zeit erfolgten massenhaften Migration nach Deutschland und der damit einhergehenden kulturellen und religiösen Diversifizierung der Gesellschaft erscheint ein differenzierter, konsistenter und an der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland orientierter Umgang mit kulturell oder religiös geprägten Straftaten für unseren freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat wichtiger denn je. Hierzu bedarf es hinreichend klarer gesetzlicher Vorgaben für die Strafzumessung. Die geltende Regelung in § 46 StGB lässt insoweit jedoch Lücken. Insbesondere verhält sie sich nicht dazu, ob und inwieweit tatrelevante kulturelle oder religiöse Prägungen des Täters berücksichtigt werden können oder sogar müssen. Dieser Umstand dürfte ein Grund dafür sein, dass eine klare, einheitliche und prinzipiengeleitete Linie der Rechtsprechung bei der Würdigung derart motivierter Taten nicht festzustellen ist. Die Lücken sollen mit dem hiesigen Entwurf geschlossen werden. Im Einzelnen:
- 1. Die Relevanz kultureller oder religiöser Wertvorstellungen des Täters, die ihn zur Begehung einer Tat veranlassen oder ihn bei der Tatausführung beherrschen, ist - abgesehen von Fällen des Mordes ( § 211 StGB) oder anderer Straftaten mit absoluter Strafandrohung - insbesondere auf der Stufe der Strafzumessung zu prüfen. Rechtlicher Ausgangspunkt ist insoweit die Regelung zur Strafzumessung in § 46 StGB. Die Grundlage der Strafzumessung bildet hiernach "die Schuld des Täters" (§ 46 Absatz 1 Satz 1 StGB). Kulturelle oder religiöse Wertvorstellungen können sich dabei auf verschiedene Weise in den nach § 46 Absatz 2 StGB für die Strafzumessung relevanten Umständen niederschlagen. Praktisch haben sie vor allem bei der Würdigung der Beweggründe und der Ziele des Täters Bedeutung.
Als Basis der Beurteilung strafzumessungsrelevanter Umstände ist zwar grundsätzlich anerkannt, dass sich diese anhand des in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Rechts auszurichten hat. Bei der Rechtsanwendung in der Praxis zeigt sich jedoch, dass namentlich die Frage, welche Konsequenzen im Rahmen der Strafzumessung aus einer tatrelevanten, (fremd-)kulturellen Wertorientierung und einem abweichenden Lebenshintergrund von in Deutschland abzuurteilenden Personen zu ziehen sind, nicht abschließend geklärt ist.
In der tatrichterlichen Praxis finden sich im Rahmen der Strafzumessung nicht selten unspezifische Verweise auf die Herkunft von Tätern aus "völlig fremden Kulturkreisen" sowie undifferenzierte Aussagen zu anderen Kulturen und Religionen, namentlich zu traditionellen Rollenbildern und kulturell geprägten Persönlichkeitsmerkmalen, deren Relevanz für die Strafbemessung häufig nicht näher dargelegt wird (vgl. Hörnle, Gutachten C zum 70. Deutschen Juristentag 2014, C 80 ff. m.w. N.). Auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist insoweit sehr einzelfallbezogen und nicht stets konsistent (vgl. BGH, NStZ 1996, 80; NStZ-RR 1997, 1; 1998, 298; 1999, 359; StV 2002, 20; NJW 2004, 1446; NStZ-RR 2007, 86 u. 137; NStZ 2009, 689; 2011, 512, 513). So können nach einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 1995 "eingewurzelte" Verhaltensweisen und Vorstellungen des Täters nach Lage des Falles bei der Frage des Schuldumfangs im Rahmen der Strafzumessung Berücksichtigung finden, wenn sie im Einklang mit der fremden Rechtsordnung stehen (vgl. BGH, NStZ 1996, 80). Die Unrechts- und Schuldrelevanz der vom Bundesgerichtshof betonten Bedeutung der Rechtsordnung im Herkunftsland wird dabei regelmäßig nicht näher herausgearbeitet. Nach einer Entscheidung aus dem Jahr 2001 (betreffend eine Vergewaltigung) soll es dem Tatrichter nicht verwehrt sein,
"strafmildernd [zu] werten, dass der Angeklagte zur Begehung dieser Tat eine geringere Hemmschwelle zu überwinden hatte. Sowohl der Angeklagte als auch die Nebenklägerin stammen aus einem anderen Kulturkreis mit auf dem Islam basierenden Wertvorstellungen und waren trotz ihres langen Aufenthalts in Deutschland dem traditionellen Rollenverständnis verhaftet, bei dem von der Ehefrau Unterordnung und Gehorsam erwartet wird" (BGH, StV 2002, 20).
Andererseits heißt es in einer Entscheidung aus dem Jahr 2011 (betreffend eine Körperverletzung mit Todesfolge) mit Blick auf die Frage einer Strafmilderung, es sei "ohne Weiteres zu erwarten, dass ein in Deutschland seit vielen Jahren lebender ausländischer Mitbürger die Ge- und Verbote der hier geltenden und ihm bekannten Rechtsordnung akzeptiert und insoweit in der Lage ist, sich von abweichenden Vorstellungen und Erfahrungen in seinem Heimatland freizumachen" (BGH, NStZ 2011, 512, 513).
Zwar kann man der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - gerade in jüngerer Zeit - zugutehalten, dass sie von den Instanzgerichten zur Strafmilderung herangezogenen, häufig pauschalen Verweisen auf fremde kulturelle oder religiöse Hintergründe entgegensteuert (vgl. Hörnle, Gutachten C zum 70. Deutschen Juristentag 2014, C 82; Werner, Zum Status fremdkultureller Wertvorstellungen bei der Strafzumessung, 2016, S. 209). Dabei bleibt aber zumeist offen, welche unrechts- und schuldrelevanten Umstände und Maßstäbe die Strafzumessungsentscheidung bestimmen. Dies hat eine nicht stets einheitliche und konsistente Rechtsprechung und damit auch eine entsprechende Rechtsunsicherheit bei den Tatgerichten zur Folge. Hinzu kommt, dass sich auch in der Literatur für die strafzumessungsrechtliche Beurteilung der kulturellen Prägungen des Täters noch keine einheitliche Linie herausgebildet hat (vgl. Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 287; NK-Streng, StGB, 4. Aufl. 2013, § 46 Rn. 145; Hörnle, Gutachten C zum 70. Deutschen Juristentag 2014, C 82; Werner, Zum Status fremdkultureller Wertvorstellungen bei der Strafzumessung, 2016, S. 295 ff.).
- 2. Den verfassungsrechtlichen Rahmen für die Berücksichtigung kultureller oder religiöser Prägungen und den diesbezüglichen gesetzgeberischen Handlungsspielraum bildet das Schuldprinzip in seiner Ausprägung durch das Gebot schuldangemessenen Strafens. Danach muss die Strafe in gerechtem Verhältnis zur Schwere der Tat und zu dem Verschulden des Täters stehen (vgl. BVerfGE 50, 5, 12 m.w. N.). Letztgenannter Aspekt lässt es geboten erscheinen, dass jedenfalls signifikante Einschränkungen der Unrechtseinsicht und der Steuerungsfähigkeit grundsätzlich strafmildernd berücksichtigt werden können. Derartige
Einschränkungen können auch auf kulturellen oder religiösen Prägungen beruhen.
Zu denken ist hier vor allem an Fälle, in denen das Handeln des Täters von kulturell fundierten Verhaltensvorgaben geleitet war, die von ihm als bindend empfunden werden und die es dem Täter erschwert haben, den diesen zuwiderlaufenden Anforderungen der deutschen Rechtsordnung gerecht zu werden (vgl. dazu unten).
Infolge der Anbindung der Strafe an die persönliche Schuld und das daraus für die Strafzumessung folgende "Individualisierungsgebot" ist - auch vor dem Hintergrund der Vielfalt der im Einzelfall zu berücksichtigenden Gesichtspunkte - eine detaillierte Regelung, die den Gerichten die Strafzumessung in Fällen kulturell geprägter Täter und Taten gleichsam vorgibt, zwar nicht möglich und auch nicht anzustreben. Gleichwohl besteht ein gesetzgeberischer Handlungsspielraum wie auch -bedarf, soweit es darum geht, Eckpfeiler für die Bewertung im Rahmen der Vorschrift zur Strafzumessung (§ 46 StGB) zu statuieren und dadurch eine wünschenswerte Klarstellung und Systematisierung bei der Beurteilung (fremder) kultureller oder religiöser Prägungen zu erreichen. Dabei geht es auch darum klarzustellen, dass insoweit nicht auf einer psychologischen Betrachtungsweise verharrt werden darf. Geboten ist zugleich eine normative Würdigung (vgl. auch BVerfGE 50, 5, 12 u. 14 zur notwendigen Gesamtwürdigung bei Beurteilung des Maßes der Schuld). Andernfalls bestünde insbesondere die Gefahr, dass Strafmilderungen auf das Bekunden von Verständnis für Handlungen hinauslaufen, die in eklatanter Weise Verfassungswerten widersprechen (Hörnle, Gutachten C zum 70. Deutschen Juristentag 2014, C 35).
- 3. Vor diesem Hintergrund sieht der Entwurf eine Ergänzung der Regelung zur Strafzumessung in Absatz 2 von § 46 StGB in zweifacher Hinsicht vor:
Zum einen wird die Vorschrift um eine allgemeine Regelung (Satz 3-neu) ergänzt, die klarstellend und zugleich wertsetzend auf den Ausgangspunkt der strafzumessungsrechtlichen Beurteilung hinweist: die Würdigung der Tatumstände auf der Basis der Wertmaßstäbe der hiesigen Rechtsgemeinschaft - und das meint in erster Linie: der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.
Die daran anschließende Regelung (Satz 4-neu) begrenzt die strafmildernde Relevanz hiermit nicht zu vereinbarender kultureller oder religiöser Wertvorstellungen des Täters für die Schuldbetrachtung auf Fälle eingeschränkter Unrechtseinsicht oder Steuerungsfähigkeit. Zugleich wird für diese Fälle auch eine äußere Grenze gezogen, indem klargestellt wird, dass derartige Prägungen nicht zu einer Strafmilderung führen können, wenn der Widerspruch zu der hiesigen verfassungsmäßigen Ordnung fundamental ist. Auf diese Weise wird eine Rückbindung der strafrechtlichen Beurteilungsmaßstäbe an die Schuld des Täters erreicht und - unter Einbeziehung normativer Gesichtspunkte - die Möglichkeit einer strafmildernden Berücksichtigung von kulturellen oder religiösen Wertvorstellungen in der Strafzumessung durch eine regelgeleitete Rechtsanwendung auf Ausnahmefälle beschränkt.
Der Entwurf nimmt insoweit auch Impulse aus dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11. Mai 2011 (ETS-Nr. 210; sog. Istanbul-Konvention) auf. Nach den dortigen Regelungen in Artikel 12 Absatz 5 und Artikel 42 Absatz 1 stellen die Vertragsparteien sicher, dass Kultur, Bräuche, Religion, Tradition oder die sogenannte "Ehre" nicht als Rechtfertigung für in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallende Gewalttaten angesehen werden. Dies bedeutet, dass die Vertragsparteien angehalten sind, dafür Sorge zu tragen, dass in ihrem Strafrecht Behauptungen des Angeklagten, nach denen er bestimmte Taten zur Verhütung oder Bestrafung vermuteter, wahrgenommener oder aktueller Verletzungen seitens des Opfers von kulturellen, religiösen, sozialen oder traditionellen Werten und Bräuchen im Hinblick auf ein angemessenes Verhalten begangen hat, nicht als Rechtfertigung zugelassen werden (s. Erläuternder Bericht zur Istanbul-Konvention, S. 85 Rn. 216; vgl. ferner S. 59 Rn. 89, nach dem das nationale Recht keine Lücken aufweisen darf, die Raum für auf solche Überzeugungen basierende Auslegungen bieten). Durch die hier vorgeschlagene konkretisierende Regelung trägt der Entwurf für den Bereich der Strafzumessung diesen Anforderungen Rechnung.
II. Gesetzgebungskompetenz; Vereinbarkeit mit EU-Recht
Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes folgt aus Art. 74 Absatz 1 Nummer 1 des Grundgesetzes (Strafrecht).
Der Entwurf ist mit dem Recht der Europäischen Union und völkerrechtlichen Verträgen, die die Bundesrepublik Deutschland abgeschlossen hat, vereinbar.
III. Auswirkungen
Auswirkungen auf den Bundeshaushalt sind durch den Entwurf nicht zu erwarten. Mehrkosten im justiziellen Kernbereich sind nicht in nennenswertem Umfang zu erwarten. Für Bürgerinnen und Bürger entsteht kein Erfüllungsaufwand.
B. Besonderer Teil
Zu Artikel 1 (Änderung des Strafgesetzbuchs)
Die Regelung zur Strafzumessung in § 46 wird in Absatz 2 durch Einfügung von zwei neuen Sätzen ergänzt.
Der neue Satz 3 sieht vor, dass der Ausgangspunkt für die Beurteilung der nach Satz 1 und 2 strafzumessungsrelevanten Umstände die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ist. Die Regelung dient in erster Linie der Klarstellung der bereits bestehenden und auch allgemein anerkannten Rechtslage, nach der sich die Beurteilung anhand des in der Bundesrepublik Deutschlands geltenden Rechts auszurichten hat (vgl. BGH, NStZ 1996, 80; BGH, NJW 2004, 1466 u. 3051, 3054; Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 46 Rn. 13). Die gewählte Formulierung soll dabei die Betrachtung noch weitergehend auf die - auch und gerade - für die Strafzumessung bedeutsamen Wertentscheidungen fokussieren, wie sie in den grundlegenden Regelungen der hiesigen Rechtsordnung angelegt sind. Hierzu wird der Begriff der "verfassungsmäßigen Ordnung" verwendet, der bereits an zahlreichen Stellen Eingang in das Strafgesetzbuch gefunden hat (siehe §§ 81, 82, 85, 86, 89, 90a, 92 StGB). Er umfasst in dem hiesigen Kontext die Grundlagen des Zusammenlebens im Staat, wie sie aus den diese Grundlagen konstituierenden Verfassungsnormen sowie ihrer Ausprägung in der Verfassungswirklichkeit hervorgehen (vgl. auch BGHSt 7, 222, 227). Es geht damit um die sich aus den Grundrechten ergebenden bzw. auf diesen beruhenden Grundlagen und Grundregeln einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Demokratie, namentlich um die Regelungen zum Schutz der Menschenwürde und zum Gleichheitsrecht in Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 3 des Grundgesetzes. Damit unvereinbar sind insbesondere
Prägungen und Vorstellungen, die hinsichtlich anderer Personen von einem Besitzdenken getragen sind, die das Lebensrecht anderer negieren oder abwerten oder die Raum lassen für ein übersteigertes Ehrempfinden, das zu Verletzungen oder Gefährdungen strafrechtlich geschützter Güter oder Interessen führt.
Die Regelung in Satz 3 steht nach ihrem Wortlaut ("Ausgangspunkt") der sachgerechten Behandlung von den ausnahmsweise vorkommenden Fällen einer sogenannten Fremdrechtsanwendung im Strafrecht nicht entgegen. Allerdings dürften sich aus jenem Umstand nicht sehr häufig strafzumessungsrelevante Wertungsgesichtspunkte ergeben (vgl. aber BGH, Beschl. v. 03.05.2016 - 3 StR 449/15, Rn. 26 ff. m.w. N.).
Der neue Satz 4 enthält Maßgaben für die strafmildernde Würdigung von kulturellen und religiösen Prägungen oder Wertvorstellungen des Täters, die der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland zuwiderlaufen. Eine Strafmilderung kommt danach im Rahmen der Schuld nur in Betracht, wenn sich derartige Prägungen oder Wertvorstellungen des Täters auf dessen Fähigkeit ausgewirkt haben, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Von vornherein außer Betracht bleiben dabei solche tatrelevanten Prägungen und Wertvorstellungen, bei denen der Widerspruch zu der hiesigen verfassungsmäßigen Ordnung fundamental ist.
Für die strafzumessungsrechtliche Prüfung sind zunächst die kulturellen oder religiösen Prägungen oder Wertvorstellungen des Täters an den Wertungen der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland zu messen. Bei den kulturellen Prägungen oder Wertvorstellungen geht es um die grundlegenden und zentralen Orientierungsleitlinien (Werte, Normen, Lebens- und Denkweisen), die der Einzelne im Rahmen seiner Sozialisation als für das Zusammenleben eines Kollektivs als sozial bedeutsam und möglicherweise auch handlungs(mit)bestimmend erfährt (vgl. Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 32 mit 37; Werner, Zum Status fremdkultureller Wertvorstellungen bei der Strafzumessung, 2016, S. 41, 56 f.). Ein hierbei besonders wichtiger Aspekt, der die Kultur ausmacht und definiert und der daher auch im Gesetzestext eigens Erwähnung findet, ist die Religion (vgl. Werner a.a. O. S. 56 f.). Satz 4 statuiert Regeln wie auch Grenzen für eine strafmildernde Berücksichtigung, soweit derartige Prägungen oder Wertvorstellungen in Widerspruch zu der verfassungsgemäßen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland stehen, was vor allem (aber nicht notwendig) bei Tätern der Fall sein wird, die in fremden Kulturkreisen aufgewachsen sind.
Danach wird die Möglichkeit strafmildernder Bewertung daran angeknüpft, dass der Täter in seinem strafbaren Handeln aufgrund entsprechender Prägungen in seiner Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit eingeschränkt war (grundlegend Hörnle, Gutachten C zum 70 Deutschen Juristentag 2014, C 84; im Ansatz ähnlich Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 5. Aufl. 2005, Art. 4 Abs. 1, 2 Rn. 98). In Betracht kommen insoweit - vergleichbar der Regelung in § 21 StGB - nur erhebliche Beeinträchtigungen. Nur in diesen Fällen kann der Vorwurf, gegen ein Strafgesetz verstoßen zu haben, und die darin liegende Auflehnung gegen die Rechtsordnung wegen der eingeschränkten Möglichkeit zur Normbefolgung weniger schwer wiegen. Auf diese Weise erfolgt in derartigen Fällen eine Rückkoppelung der Strafzumessung an die Schuld des Täters; zugleich wird durch den Rekurs auf eingeführte Rechtsbegriffe eine regelgeleitete Rechtsanwendung ermöglicht. So kann für die Frage, ob sich die Prägungen oder Wertvorstellungen des Täters auf dessen Fähigkeit ausgewirkt haben, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, an die zu §§ 17, 20 StGB anerkannten Grundsätze zur Einsichts- und Steuerungsfähigkeit angeknüpft werden.
Hinsichtlich der Unrechtseinsicht ist daher zu fragen, ob und inwieweit der Täter infolge seiner kulturellen oder religiösen Prägung in der Fähigkeit zum Erkennen der äußeren Umstände seines Tuns oder des deren Strafwürdigkeit begründenden Bedeutungsgehalts signifikant eingeschränkt war. Dies wird nicht sehr häufig vorkommen, ist aber Tatfrage. Die Literatur nennt insoweit Fälle, in denen sich der Täter über die rechtliche Bewertung des Unrechtsausmaßes grundlegend geirrt hat (vgl. Hörnle a.a.O. C 84 f.; Werner a.a.O. S. 294 f.; ferner Valerius a.a. O. S. 292 f.). Hinsichtlich der Steuerungsfähigkeit ist vor allem zu fragen, ob der Täter eine konkrete kulturell oder religiös fundierte Verhaltensvorgabe bei der Tat für sich als tatsächlich bindend empfunden hat und ihm hierdurch die selbstbestimmte Befolgung des dieser zuwiderlaufenden Rechtsgebots individuell erheblich erschwert war. Auch dies ist bezogen auf den konkreten Einzelfall zu prüfen. Allein in diesem Zusammenhang, d.h. bei der Prüfung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit, kann es indiziell auch von Bedeutung sein, welche (konkreten) Verhaltensregeln der Täter im Rahmen seiner Sozialisation in einer fremden Rechtsordnung erfahren hat und wie lange er sich bereits in dem hiesigen Rechtskreis aufhält (vgl. zu diesen Kriterien die o.g. Rechtsprechung). Die Feststellung einer "inneren Verhaftung" des Täters in einem fremden Kulturkreis (vgl. BGH, StV 2002, 20; NJW 2004, 1466; NStZ-RR 2007, 86) oder dessen "Zerrissenheit zwischen zwei Kulturkreisen" (vgl. BGH, NStZ-RR 1997, 1) können eine Strafmilderung für sich besehen ebenso wenig begründen wie das Vorhandensein bestimmter kultureller oder religiöser Prägungen beim Täter.
Für die danach anzustellende Prüfung kann es nicht allein auf eine psychologische Betrachtung ankommen. Vielmehr bedarf es ergänzend einer normativen Würdigung (vgl. auch BVerfGE 50, 5, 12 u. 14 zur notwendigen Gesamtwürdigung im Rahmen der Bewertung des Maßes der Schuld). Denn andernfalls bestünde die Gefahr, dass Strafmilderungen auf das Bekunden von Verständnis für Handlungen hinauslaufen, die in eklatanter Weise Verfassungswerten widersprechen (Hörnle, Gutachten C zum 70. Deutschen Juristentag 2014, C 35; dieser folgend Werner a.a. O. S. 292 f.). Dieser Aspekt soll auch in dem zweiten Halbsatz klarstellend zum Ausdruck kommen. Danach dürfen die täterseitigen Prägungen nicht in fundamentalen Widerspruch zu der verfassungsmäßigen Ordnung stehen. Die Regelung bedeutet damit eine weitere Eingrenzung der Möglichkeit einer Strafmilderung. Es geht hier um ein kulturell oder religiös motiviertes Handeln, bei dem der Täter die Ordnung des Staates und die Autorität des gesetzten Rechts in besonders offenkundigem Maße, insbesondere in ihrer menschenrechtlichen Dimension, in Frage stellt, beispielsweise durch die Vornahme fremdkulturell motivierter Genitalverstümmelungen (§ 226a StGB) oder körperentstellender Säureattentate. Eine Strafmilderung ist in diesen Fällen - angesichts überlagernder normativer Erwägungen - gänzlich zu versagen (dahingehend bereits BGH, NStZ 2009, 689: Verletzung der elementarsten Prinzipien des deutschen und europäischen Wertesystems; vgl. ferner LK-Vogel, StGB, 12. Aufl. 2006, § 17 Rn. 92).
Auch im Übrigen bleibt auf normativer Ebene für eine strafmildernde Berücksichtigung einschränkend zu berücksichtigen, ob und inwieweit die mit kulturellen Prägungen oder Wertvorstellungen im Zusammenhang stehende Tat aus einer Situation hervorgeht, die für die Rechtsgemeinschaft nachvollziehbar ist oder auf eine Ausnahmesituation zurückgeht. So kann etwas, das ubiquitär möglich ist, wie etwa Integrationsprobleme einer Vielzahl fremd sozialisierter Personen, kaum jemals zu einer Strafmilderung führen (vgl. Jakobs, ZStW 118 [2006], 831, 847 f.). Für die strafmildernde Berücksichtigung von kulturell bedingten Defiziten bei der Unrechtseinsicht kommt es insbesondere auf die Vermeidbarkeit derartiger Fehlvorstellungen an (vgl. Hörnle a.a.O. C 85; dieser folgend Werner a.a. O. S. 295).
Nach diesen Maßgaben wird eine Strafmilderung vor allem nur dann in Betracht kommen, wenn der Widerspruch zwischen kulturellen oder religiösen Geboten und dem rechtlichen Verbot für den Täter einen gravierenden Konflikt begründet und wenn zugleich die kulturelle oder religiöse Verhaltensnorm nicht in fundamentalem Widerspruch zur hiesigen Verfassungs- und Rechtsordnung steht (dahingehend auch der Beschluss des 70. Deutschen Juristentages 2014, Abteilung Strafrecht, unter Ziffer 4 lit. b in "Verhandlungen des Deutschen 70. Deutschen Juristentages", Bd. II/1, 2015, L 56; ähnlich Hörnle a.a.O. C 89; Werner a.a. O. S. 289 ff.). Eine großzügigere Bewertung kann freilich dann angezeigt sein, wenn dem Tatgeschehen ein im Ausland spielender oder u.U. auch grenzüberschreitender (aber vor inländischen Gerichten abzuurteilender) Sachverhalt zugrunde liegt und Tat und Täter hierdurch geprägt sind (vgl. etwa LG Hamburg, Urt. v. 19.10.2012 - 603 KLs 17/ 10, Rn. 845 bis 847 [juris] zur Seepiraterie vor Somalias Küste).
Die Frage einer Strafmilderung bezieht sich nur auf Aspekte, die "im Rahmen der Schuld" zu berücksichtigen sind. Spezialpräventive Erwägungen, die die Wirkungen der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft betreffen (vgl. § 46 Absatz 1 Satz 1), z.B. auf ausländerrechtliche Konsequenzen abheben, bleiben unberührt.
Zur Zulässigkeit von Strafschärfungen wegen tatrelevanter kultureller oder religiöser Prägungen oder Wertvorstellungen des Täters trifft Satz 4 keine Regelung. Insoweit gelten die allgemeinen Grundsätze. Deren Anwendung wird freilich häufig dazu führen, dass ein gesteigerter Unrechts- und Schuldgehalt der Tat nicht anzunehmen ist (vgl. dazu etwa BGH, NStZ 1993, 337; BGH, NStZ-RR 1996, 71; BGH, Beschl. v. 25.10.2016 - 2 StR 386/16, Rn. 3; Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 288 ff.; Hörnle, Gutachten C zum 70. DJT 2014, C 91 ff.; Werner, Zum Status fremdkultureller Wertvorstellungen bei der Strafzumessung, 2016, S. 157, 249 ff.).
Zu Artikel 2 (Inkrafttreten)
Die Vorschrift regelt das Inkrafttreten.