Der Bundesrat hat in seiner 829. Sitzung am 15. Dezember 2006 die aus der Anlage ersichtliche Entschließung gefasst.
Anlage
Entschließung des Bundesrates für eine Ausweitung und Qualifizierung der Früherkennungsuntersuchungen im Sinne des Kindeswohls
Der Bundesrat hat am 19. Mai 2006 eine Entschließung für eine höhere Verbindlichkeit der Früherkennungsuntersuchungen im Sinne des Kindeswohls gefasst, vgl. BR-Drucksache 056/06(B) . Diese Entschließung hat den Willen aller Länder zum Ausdruck gebracht, die Früherkennungsuntersuchungen zu nutzen, um gesundheitliche Kindeswohlgefährdungen früher zu erkennen, das Untersuchungsspektrum um Merkmale von Kindesvernachlässigung und Gewalt zu erweitern und einen Datenaustausch zu ermöglichen, der es den Gesundheits- und Jugendbehörden der Länder und Kommunen ermöglicht, bei Eltern, die ihre Kinder nicht bei Früherkennungsuntersuchungen vorgestellt haben, nachfassen zu können. Dieses Ziel sollte unter anderem dadurch erreicht werden, dass ein verbindliches Einladungswesen installiert wird.
Die an die Bundesregierung gerichtete Entschließung des Bundesrates ist mit erheblicher zeitlicher Verzögerung durch eine Stellungnahme der Bundesregierung vom 21. November 2006 (vgl. BR-Drucksache 864/06 (PDF) ) beantwortet worden. Diese Stellungnahme der Bundesregierung erfüllt nicht die Erwartungen der Länder, seitens des Bundes einen konstruktiven Beitrag zur Lösung des im Interesse des Kinderschutzes notwendigen Vorhabens zu leisten.
Auch wenn inzwischen eine Reihe von Ländern über diesen Bundesratsbeschluss hinaus die verpflichtende Teilnahme von Eltern an Früherkennungsuntersuchungen anstrebt, die Gegenstand eines entsprechenden Entschließungsantrages im Bundesrat ist (vgl. BR-Drucksache 823/06 (PDF) ), stellt der Bundesrat fest, dass alle Länder unabhängig davon, ob sie für oder gegen die verpflichtende Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen sind, die in der BR-Drucksache 056/06 (PDF) beschriebenen Ziele weiter verfolgen.
I. Der Bundesrat stellt fest:
- 1. Die freiwillige Inanspruchnahme der Früherkennungsuntersuchungen kann - mit dem Ziel einer vollständigen Teilnahme - durch Information und Motivation noch gesteigert werden. Es fehlt bisher an einem klar formulierten gesetzlichen Auftrag - zum Beispiel an die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) - über die Früherkennungsuntersuchungen zu informieren und zur Teilnahme zu motivieren. Durch einen gesetzlichen Auftrag, zum Beispiel an die BZgA, soll die Verankerung und Nachhaltigkeit dieses Ansatzes gestärkt werden.
- 2. Es fehlt eine rechtliche Vorgabe für die Krankenkassen, untereinander und mit Dritten - den Ländern beziehungsweise dem öffentlichen Gesundheitsdienst -, bei Maßnahmen zur Steigerung der Inanspruchnahme der Früherkennungsuntersuchungen zu kooperieren. Auch hier gibt es vielfältige und erfolgreiche Ansätze bei den Krankenkassen ebenso wie gute Ansätze für Kooperationen. Allerdings muss ein gesetzlicher Rahmen geschaffen werden, um gemeinsame Strategien zu entwickeln, Maßnahmen zu bündeln und Qualität und Erfolg dieser Maßnahmen zu sichern.
- 3. Viele Krankenkassen führen bereits mit verschiedenen Systemen und Ansätzen Maßnahmen durch, mit denen ihre Versicherten auf die Termine der Früherkennungsuntersuchungen hingewiesen werden. Durch ein verbindliches Einladewesen wird die Reichweite dieser Ansätze größer. Qualität und Nachhaltigkeit dieser Ansätze werden gesichert. Erforderlich ist auch in diesem Zusammenhang eine rechtliche Grundlage für die Zusammenarbeit mit zuständigen Stellen in den Ländern, um gemeinsame Strategien zu entwickeln und Maßnahmen zu bündeln.
- 4. Die Aufnahme von Vernachlässigung und Misshandlung ist in das derzeit laufende Verfahren des Gemeinsamen Bundesausschusses für die Überarbeitung der Früherkennungsrichtlinien bereits eingebracht worden. Aus Sicht des Bundesrates ist es von hoher Dringlichkeit, dass entsprechende Untersuchungsschritte eingeführt werden. Um Gefährdungen des Kindeswohls durch Vernachlässigung und Misshandlung besser erkennen zu können, ist eine Erhöhung der Teilnahmequoten alleine nicht ausreichend. Es müssen auch entsprechende Untersuchungsschritte eingeführt werden, damit die Früherkennungsuntersuchungen zu diesem Ziel besser beitragen.
- 5. In der Entwicklung von Kindern gibt es Phasen, in denen sie besonders vulnerabel sind. Aus Sicht des Bundesrates müssen die Untersuchungsintervalle der Früherkennung überprüft werden, um Vernachlässigung und Misshandlung rechtzeitig erkennen zu können und um Hilfen und Schutz zu der Zeit anbieten zu können, die für die Entwicklung der Kinder von besonderer Bedeutung ist.
- 6. Die Erweiterung des Untersuchungskanons und die Anpassung der Untersuchungsintervalle werden das Potential der Früherkennungsuntersuchungen, die Gefährdung von Kindern zu erkennen, verbessern. Bei Nichtteilnahme an den Untersuchungen bleibt dieser Weg verschlossen. Bei Nichtteilnahme muss die Möglichkeit geschaffen werden, dass staatliche Stellen die notwendigen Informationen erhalten, um ihr Wächteramt für das Wohl der Kinder wahrnehmen zu können. Die notwendigen Daten sind im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Sozialhilfeträger vorhanden - für ihre Weitergabe müssen aber die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden. Darüber hinaus muss geprüft werden, ob die Teilnahme aller Kinder - also auch der nicht gesetzlich versicherten Kinder - an Früherkennungsuntersuchungen überprüfbar gemacht werden kann.
II. Der Bundesrat bekräftigt die Forderungen seiner Entschließung
für eine höhere Verbindlichkeit der Früherkennungsuntersuchungen im Sinne des Kindeswohls, vgl. BR-Drucksache 056/06(B) . Er fordert die Bundesregierung erneut und dringlich auf, mit einer für die Länder gestaltungsoffenen bundesrechtlichen Regelung den dort gestellten Forderungen nachzukommen.
A. Von besonderer Bedeutung und hoher Dringlichkeit sind:
- - Die Schaffung einer Rechtsgrundlage für ein verbindliches Einladungswesen für die Früherkennungsuntersuchungen U5 bis U9 durch die gesetzlichen Krankenkassen und den Sozialhilfeträger.
- - Die Schaffung von Rechtsgrundlagen (Rahmenvereinbarungen) für die Möglichkeit der Zusammenarbeit der Gesetzlichen Krankenversicherung mit den zuständigen Stellen der Länder für die Durchführung des Einladungswesens.
Daher fordert der Bundesrat die Bundesregierung auf,
A.1. in § 26 SGB V folgenden Absatz 1a - neu - einzufügen:
- (1a) Die Krankenkassen fordern die Mitglieder mit familienversicherten Kindern nach § 10 zur Inanspruchnahme der Leistung nach Absatz 1 ab der U 5 bis zur U 9 schriftlich auf. Zur Erfüllung dieser Aufgabe und der dazu erforderlichen Übermittlung von Daten arbeiten die Krankenkassen und die Leistungserbringer mit den zuständigen Stellen in den Ländern zusammen. Zur erforderlichen Übermittlung von Daten über die Nichtteilnahme schließen die Landesverbände der Krankenkassen, die Ersatzkassen und die Kassenärztliche Vereinigung gemeinsam Rahmenvereinbarungen mit den in den Ländern zuständigen Stellen.
Begründung
:§ 26 SGB V räumt allgemein Kindern in der Gesetzlichen Krankenversicherung einen Anspruch auf Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten ein, die ihre körperliche oder geistige Entwicklung gefährden können. Regelmäßige Früherkennungsuntersuchungen können dazu beitragen, frühzeitige Interventionen einzuleiten, die den Gesundheits- bzw. Entwicklungsstand der Kinder positiv beeinflussen. Der Staat hat das Kindeswohl vorrangig zu schützen. Da die Vorsorgeuntersuchungen in diesem Kontext eine wichtige Funktion haben, ist gerade der Inanspruchnahme ein besonders hoher Stellenwert einzuräumen. Durch das verbindliche Einladungswesen soll eine Steigerung der Inanspruchnahme der Früherkennungsuntersuchungen erreicht werden. Die Krankenkassen errichten ein Einladewesen, das alle bei ihnen Versicherten auffordert, an den Früherkennungsuntersuchungen teilzunehmen und gleichzeitig mitteilt, dass die Nichtteilnahme an die dafür zuständigen Stellen der Länder, zum Beispiel des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, gemeldet wird. Die Weitergabe der erforderlichen Daten über die Nichtteilnahme hat den Vorteil, dass nur in die Datenschutzrechte eines geringen Teils der Bevölkerung eingegriffen wird, ist aber gerechtfertigt, weil durch diese Information die Möglichkeiten der mit der Wahrnehmung des staatlichen Wächteramtes betrauten Behörden zur Kontrolle und helfenden Intervention verbessert werden.
Auf Landesebene schließen die Landesverbände der Krankenkassen, die Ersatzkassen und die Kassenärztliche Vereinigung eine Rahmenvereinbarung über das Zusammenwirken und die Koordination der Datenübermittlung. Die Aufgabe der Sozialversicherungsträger ist im Rahmen dieser Vereinbarung sowohl in inhaltlicher, organisatorischer wie finanzieller Hinsicht die Planung, Förderung und Durchführung des Einladewesens. Die hierzu erforderlichen Abstimmungen sind mit den zuständigen Stellen der Länder, zum Beispiel des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, zu treffen;
A.2. dem § 284 Abs. 1 Satz 1 SGB V folgende Nummer 15 - neu - anzufügen:
(Die Krankenkassen dürfen Sozialdaten für Zwecke der Krankenversicherung nur erheben und speichern, soweit diese für)
- "15. die Auswertung der Inanspruchnahme von Leistungen nach § 26 Abs. 1a und der Weiterleitung der erforderlichen Daten über die Nichtinanspruchnahme an die dafür zuständigen Stellen der Länder"(erforderlich sind.);
A.3. dem § 69 Abs. 1 SGB X folgende Nummer 4 - neu - anzufügen:
(Eine Übermittlung von Sozialdaten ist nur zulässig, soweit sie erforderlich ist)
- 4. für die Weiterleitung der erforderlichen Daten über die Nichtinanspruchnahme der Früherkennungsuntersuchungen U 5 bis U 9 nach § 26 Abs. 1a des Fünften Buches an die dafür zuständigen Stellen in den Ländern.
Begründung zu A. 2. und A. 3.:
Aus datenschutzrechtlichen Gründen sind weitere Änderungen im SGB V und im SGB X erforderlich. Der Datenschutz ist durch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung garantiert, das vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Volkszählung (1983) aus Artikel 2 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht) abgeleitet worden ist. Dieses Grundrecht wird durch das Bundesdatenschutzgesetz und die Datenschutzgesetze der Länder konkretisiert. Diese sind gegenüber dem bereichsspezifischen Sozialdatenschutz nachrangig. Dieser ist geregelt in § 35 SGB I und in den §§ 67 bis 85a SGB X. Geschützt sind alle personenbezogenen Angaben, die im Zusammenhang mit der Erziehung des Kindes erhoben oder verwendet werden. Solche personenbezogenen Angaben sind gemäß § 67 Abs. 1 SGB X alle Einzelangaben über persönliche und sachliche Verhältnisse wie zum Beispiel Name, Anschrift, Geburtsdatum, Geschlecht, Religionszughörigkeit, Nationalität, Krankheiten, Familienstand, Kinderzahl, Einkommen, Beruf, Arbeitgeber.
Sowohl für das Einladungswesen als auch für die Meldungen sind die notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen einschließlich der zur Nutzung von personenbezogenen Sozialdaten erforderlichen datenschutzrechtlichen Regelungen zu schaffen. Werden Daten an Personen oder Stellen weitergegeben, handelt es sich um eine Datenübermittlung gemäß § 67 Abs. 6 SGB X. Diese ist nur zulässig, wenn der Betroffene eingewilligt hat oder wenn eine gesetzliche Übermittlungsbefugnis vorliegt (§ 67b SGB X). Gesetzliche Übermittlungsbefugnisse finden sich in den §§ 68 bis 75 SGB X. Eine solche Befugnis könnte durch die vorgeschlagene Regelung in § 69 Abs. 1 Nr. 4 geschaffen worden.
Der Katalog der in § 284 SGB V aufgezählten Zwecke ist abschließend. Die Sozialdaten dürfen auch nur für die genannten Zwecke erhoben und gespeichert werden.
Die Vorschrift regelt, für welche Zwecke Sozialdaten bei den Krankenkassen erhoben, gespeichert, verarbeitet und genutzt werden dürfen. Sie ist ein wesentlicher Teil der im Zehnten Kapitel enthaltenen Regelungen zu den Sozialdaten und zum Datenschutz in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Der Einhaltung der gesetzlichen Grenzen für die Datenspeicherung, -verarbeitung und -nutzung dient unter anderem § 286 Abs. 1 und 2 SGB V (Vorlage einer Übersicht über die gespeicherten Daten an die Aufsichtsbehörde und Veröffentlichung der Übersicht).
A.4. in § 47 SGB XII folgenden Satz 1a - neu - einzufügen:
- "Der Sozialhilfeträger fordert schriftlich zur Teilnahme an den Früherkennungsuntersuchungen ab der U 5 bis zur U 9 auf.";
A.5. dem § 118 Abs. 1 Satz 1 SGB XII folgende Nummer 5 - neu - anzufügen:
(Die Träger der Sozialhilfe können Personen, die Leistungen nach diesem Buch mit Ausnahme des Vierten Kapitels beziehen, auch regelmäßig im Wege des automatisierten Datenabgleichs daraufhin überprüfen,)
- "5. ob die Früherkennungsuntersuchungen nach § 26 Abs. 1a des Fünften Buches in Anspruch genommen werden. Für die Übermittlung der Daten an die dafür zuständigen Stellen der Länder gilt § 69 Abs. 1 Nr. 4 des Zehnten Buches".
Begründung zu A. 4. und A. 5.:
Durch die Regelungen wird der Sozialhilfeträger entsprechend den Bestimmungen für den Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung einbezogen;
A.6. dem § 178d Abs. 1 des Gesetzes über den Versicherungsvertrag (VVG) folgenden Satz 3 - neu - anzufügen:
- Der Versicherer fordert schriftlich zur Teilnahme an den Früherkennungsuntersuchungen U 5 bis U 9 auf.
Begründung
:Während der Datenfluss zwischen Ärzten und Gesetzlichen Krankenversicherungen beziehungsweise dem Sozialhilfeträger im Sozialgesetzbuch geregelt werden kann, gibt es für die Datenweitergabe von Ärzten an private Krankenversicherungen und weiter an den Öffentlichen Gesundheitsdienst beziehungsweise die hierfür zuständigen Stellen in den Ländern keine gesetzliche Offenbarungsbefugnis. Durch die Änderung des § 178d VVG werden neben den gesetzlichen Krankenkassen und den Sozialhilfeträgern auch die privaten Krankenversicherer auf ein verbindliches Einladewesen verpflichtet.
B. Über die Regelung in § 178d VVG hinaus können die Weitergabe der Daten an den Öffentlichen Gesundheitsdienst beziehungsweise die dafür zuständigen Stellen in den Ländern im VVG und die Vertragsinhalte nicht geregelt werden.
Der Bundesrat fordert deshalb die Bundesregierung darüber hinaus auf, auf Bundesebene auf eine Vereinbarung mit den privaten Krankenversicherungsträgern hinzuwirken, die hierzu Regelungen trifft.
Ansatzpunkte hierfür bestehen in der Gestaltung der Versicherungsverträge, in denen den Früherkennungsuntersuchungen entsprechende Untersuchungen und eine Schweigepflichtentbindung für eine Weitergabe der erforderlichen Daten bei Nichtinanspruchnahme an die dafür zuständigen Stellen in den Ländern regelhaft aufgenommen werden können.
C. Neben diesen gesetzlichen Änderungen ist aus Sicht des Bundesrates von besonderer Bedeutung, dass der Gemeinsame Bundesausschuss bei der in seiner Verantwortung liegenden Überarbeitung der Kinder-Richtlinien spezifische Untersuchungsschritte bezüglich Kindesvernachlässigung und Misshandlung aufnimmt. Die Bundesregierung wird aufgefordert, in diesem Sinne an den Gemeinsamen Bundesausschuss heranzutreten und nachdrücklich diese Forderung geltend zu machen.