960. Sitzung des Bundesrates am 22. September 2017
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Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union und der Ausschuss für Kulturfragen empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt, dass die Mitteilung die "einzigartige Rolle" der Hochschulbildung hervorhebt und somit diesen Bildungsbereich in seiner Bedeutung wahrnimmt. Er teilt die Auffassung der Kommission, dass effektive Bildungs- und Berufsbildungssysteme ein Grundstein für eine gerechte, offene und demokratische Gesellschaft sind. Der Austausch guter Praxis und die freiwillige Vernetzung von Hochschuleinrichtungen können zur Bewältigung der unterschiedlichen Herausforderungen in den Mitgliedstaaten einen maßgeblichen Beitrag leisten.
- 2. Der Bundesrat warnt jedoch davor, die Hochschulbildung überwiegend als Arbeitsmarktmotor zu betrachten. Die kurzfristige wirtschaftliche Verwertbarkeit allein kann für die Hochschulbildung nicht leitungsweisend sein. Diese zielt auf ganzheitliche Bildung und vermittelt als Basis für die Befähigung zur Aufnahme und Beibehaltung (lebenslanges Lernen) einer qualifizierten Erwerbstätigkeit gleichermaßen wissenschaftliche oder künstlerische Befähigung und ist darüber hinaus auch auf die Persönlichkeitsbildung und die Befähigung zu gesellschaftlichem Engagement gerichtet. Nur ganzheitlich gebildete Menschen sind als autonome Individuen für gesellschaftliche Herausforderungen und damit auch für die sich ständig wandelnden Anforderungen des Arbeitsmarktes gewappnet. Eine primäre Ausrichtung an aktuellen und kurzlebigen Bedarfen des Arbeitsmarktes und diesbezüglichen Prognosen birgt außerdem das Risiko weiterer Ungleichgewichte bei Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt in der Zukunft. Vor diesem Hintergrund können Hochschuleinrichtungen auch nur sehr bedingt als "unternehmerische Akteure" verstanden werden. Zudem gibt der Bundesrat zu bedenken, dass ein Hochschulstudium junge Menschen zwar für den Arbeitsmarkt stärken soll, sich aber in seiner spezifischen Herangehensweise von der wesentlich praktischer orientierten beruflichen Bildung unterscheidet.
- 3. Der Bundesrat betont, dass für ihn der besondere Mehrwert des Programms für allgemeine und berufliche Bildung "Erasmus+" in der Begegnung und dem Austausch von Einzelpersonen sowie der Zusammenarbeit von Bildungseinrichtungen liegt (vergleiche Stellungnahme des Bundesrates vom 29. Januar 2016, BR-Drucksache 510/15(B) , Ziffer 22 und Stellungnahme des Bundesrates vom 23. September 2016, BR-Drucksache 316/16(B) , Ziffer 12). Dies gilt sowohl für die Begegnung im Rahmen von Einzelmobilität als auch von Partnerschaften. Der verstärkten Nutzung von Mitteln des Programms "Erasmus+" für immer zahlreichere bildungspolitische Projekte der Kommission steht er mit großer Zurückhaltung gegenüber.
- 4. Bezüglich der Ankündigung der Kommission, Hochschuleinrichtungen dabei zu unterstützen, Leistungspunkte (sogenannte ECTS-Punkte) für Freiwilligentätigkeit oder andere Lernmodule zu vergeben, weist der Bundesrat auf die dafür geltenden Bedingungen hin: Die Anrechnung außerhochschulischen studentischen Engagements setzt die Gleichwertigkeit der erworbenen mit den nachzuweisenden Kompetenzen voraus und muss somit einen Fachbezug zum gewählten Studium aufweisen. Leistungspunkte können nicht pauschal vergeben werden, dies muss in den jeweiligen Studien- und Prüfungsordnungen vorgegeben sein. Darüber hinaus betont der Bundesrat, dass die Entwicklung von Curricula und eine etwaige Verbindung von akademischem Inhalt mit zivilem Engagement in der Autonomie der Hochschulen liegen (siehe bereits die Stellungnahme des Bundesrates vom 14. Oktober 2016, BR-Drucksache 335/16(B) , Ziffer 6). Auch ist eine Vergabe von ECTS-Punkten für Praktika nur möglich, wenn diese einen Teil des Curriculums darstellen bzw. wenn im Curriculum Anknüpfungspunkte für eine Anrechnung außerhochschulisch erworbener Kompetenzen bestehen.
- 5. Der Bundesrat lehnt eine Überprüfung der Finanzierungs-, Anreiz- und Belohnungsstrukturen für Hochschulsysteme auf EU-Ebene sowie durch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung entschieden ab. Die Gestaltung dieser Strukturen liegt gemäß Artikel 165 und 166 AEUV in der alleinigen Bildungsverantwortung der Mitgliedstaaten. Eine Kontrolle durch die europäische Ebene ist von der sehr begrenzten Zuständigkeit der EU nicht gedeckt. Hierfür besteht aus Sicht des Bundesrates auch keine fachliche Notwendigkeit. So können sich Unterschiede der Hochschulfinanzierungssysteme auch als Gewinn im Sinne eines Wettbewerbs um das beste System darstellen. Vereinheitlichungen und Angleichungsbestrebungen würden den besonderen Strukturen und Bedürfnissen der jeweiligen Mitgliedstaaten nicht gerecht.
- 6. Die Kommission geht in ihrer Mitteilung davon aus, dass ein breiteres Angebot an Studiengängen, auch mit der Möglichkeit eines Abschlusses nach zwei Jahren (Kurzstudiengänge), dazu beitragen kann, die Hochschulsysteme besser an den Bedarf der Menschen anzupassen. Einen Nachweis für diese Behauptung enthält der Text jedoch nicht. In Deutschland kann der erste berufsqualifizierende Hochschulabschluss, der Bachelor, in der Regel frühestens nach drei Jahren erworben werden. Der Bundesrat verweist darauf, dass die Bildungssysteme in den Mitgliedstaaten entscheidende Unterschiede aufweisen und die Erforderlichkeit von Kurzstudiengängen somit nicht pauschal konstatiert werden kann. Vielmehr muss es den Mitgliedstaaten vor dem Hintergrund der Systematik ihres jeweiligen Bildungssystems überlassen bleiben, über das Erfordernis von Kurzstudiengängen zu entscheiden. Zudem handelt es sich um ein klassisches Thema des Bologna-Prozesses, der jenseits der innereuropäischen Dimension verortet ist.
- 7. Unklar bleibt in der Mitteilung, was die Kommission mit der Schaffung eines "Wissenszentrums für Hochschulbildung" beabsichtigt. Insbesondere erschließt sich dem Bundesrat nicht, welche Pläne die Kommission mit der Zusammenführung des Europäischen Hochschulregisters, von "U-Multirank" und der vorgeschlagenen Pilotphase der Werdegang-Nachverfolgungsstudie verfolgt und welcher Mehrwert damit verknüpft sein soll. Er weist in aller Deutlichkeit darauf hin, dass die Pilotphase erst noch in der hierzu vorgelegten Empfehlung zur Werdegang-Nachverfolgung vom Rat beschlossen werden muss, und lehnt jedwede Vorwegnahme einer Entscheidung des Rates ab.
- 8. Der Bundesrat weist darauf hin, dass das Hochschulranking "U-Multirank" nach wie vor methodische sowie inhaltliche Schwächen aufweist und von vielen Hochschulen sehr kritisch gesehen wird. So führt die Vermengung der Daten von Hochschulen, die sich aktiv durch Ausfüllen eines Fragenbogens beteiligen, und von Hochschulen, die durch Rückgriff auf bibliometrische Daten aus bestehenden Datenbanksystemen beteiligt sind, dazu, dass diese Daten bereits wegen der unterschiedlichen Erhebungssystematik nicht vergleichbar sind und nur wenig Aussagekraft besitzen. Darüber hinaus erscheint die Datenbasis insgesamt noch dünn und wenig transparent. Der Bundesrat bemängelt zudem, dass die Kommission bei "U-Multirank" das Ziel, nach 2017 eine von "Erasmus+" unabhängige Finanzierung zu gewährleisten, nicht erreicht hat und daher weiterhin Mittel aus dem EU-Programm für Bildung, Jugend und Sport in "U-Multirank" fließen.
- 9. Der Bundesrat bekennt sich zu einer Erleichterung studentischer Mobilität auf der Basis von Projekten im Sinne eines Bottom-Up-Ansatzes zwischen einzelnen Hochschulen. Er erkennt an, dass ein europäisches Studierendenidentifikationssystem bzw. ein europäischer Studierendenausweis, wie er in bestehenden "Erasmus+"-Projekten erprobt wird, im Idealfall dazu führen könnten, dass Studierende ohne große bürokratische Erfordernisse ein breites Spektrum an Leistungen in Anspruch nehmen können. Er gibt mit Blick auf die Untersuchung der Machbarkeit der Einrichtung eines elektronischen Studierendenidentifikationssystems jedoch Folgendes zu bedenken:
- - Der Bundesrat betont, dass die Unterschiede zwischen den Systemen der Mitgliedstaaten, in denen der Grad der institutionellen und inhaltlichen Zentralisierung des Studentenwerkswesens stark divergiert, unbedingt berücksichtigt werden müssen. Der Bundesrat sieht in diesem Themenfeld die Mitgliedstaaten als zuständige Akteure und spricht sich vor diesem Hintergrund gegen eine Einführung eines europäischen Studierendenausweises mittels eines Top-Down-Ansatzes aus. - Insbesondere in Deutschland stellen sich bei der konkreten Ausgestaltung eines europäischen Studierendenidentifikationssystems auch datenschutzrechtliche Fragen, die zu klären sind.
- - Der Bundesrat erinnert daran, dass der Aufwand bei den Überlegungen zu einem europäischen Studierendenausweis in einem angemessenen Verhältnis zum angestrebten Nutzen stehen muss.
- 10. Der Bundesrat hält angesichts der begrenzten Kompetenzen der EU im Bildungsbereich einige der in der Mitteilung in Aussicht gestellten Maßnahmen für sehr weitgehend und hinterfragt den Mehrwert einzelner Initiativen. Dies gilt unter anderem für die Modernisierung von Curricula durch bereichsübergreifende Programme im Rahmen der sogenannten EU STE(A)M Coalition. Der Bundesrat erinnert daran, dass die Modernisierung von Lehrplänen ausschließlich in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten liegt und aufgrund der Autonomie der Hochschulen nur durch die Hochschuleinrichtungen selbst erfolgen kann. Bezüglich der Förderung der Anerkennung von Abschlüssen von Flüchtlingen, welche die Kommission in Aussicht stellt, spricht sich der Bundesrat vor dem Hintergrund der Kompetenzverteilung im Bildungsbereich primär für einen Austausch von Experten der Mitgliedstaaten auf freiwilliger Basis und für ein Voneinanderlernen zu diesem Thema aus. Dem Bundesrat erschließt sich in diesem Zusammenhang nicht, was die Kommission mit der Einführung von ELearning-Modulen beabsichtigt.
- 11. Der Bundesrat mahnt abermals erhöhte Sorgfalt bei der Übersetzung von Texten an. So wurde der englische Titel der Mitteilung "A renewed EU agenda for higher education" als "Europäische Erneuerungsagenda für die Hochschulbildung" übersetzt, dabei geht es vielmehr um eine "Erneuerte EU-Agenda zur Hochschulbildung". Der englische Titel setzt sich deutlich vom Titel der Vorgängermitteilung "Agenda für die Modernisierung von Europas Hochschulsystemen" (BR-Drucksache 580/11 (PDF) ) ab, was auch in der Übersetzung Berücksichtigung finden sollte.
- 12. Im Text finden sich an mehreren Stellen pauschale Aussagen, so zum Beispiel dass zu viele Absolventen mangelhafte Grundfertigkeiten (Lesen, Schreiben, Rechnen, digitale Kompetenzen) aufwiesen. Der Bundesrat sieht diese undifferenzierte Behauptung kritisch und den bloßen Verweis auf das Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen nicht als ausreichend an. Gleiches gilt bezüglich der Formulierung, Absolventinnen und Absolventen würden "zu oft als vom Rest der Gesellschaft abgehoben wahrgenommen" oder es bestünden "Barrieren zwischen der akademischen Welt und dem Rest der Gesellschaft". Diese Aussagen spiegeln die Situation in Deutschland nicht korrekt wider. Auch die Formulierung, dass "in vielen Studienfächern (...) nach wie vor Geschlechtersegregation" herrsche, geht aus Sicht des Bundesrates zu weit, wenngleich in einzelnen Studienfächern durchaus nach wie vor Unausgewogenheiten festzustellen sind.
- 13. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, diese Stellungnahme gemäß Artikel 23 Absatz 5 Satz 2 GG und § 5 Absatz 2 EUZBLG maßgeblich zu berücksichtigen, da bei dem Vorhaben im Schwerpunkt die ausschließlichen Befugnisse der Länder zur Gesetzgebung auf dem Gebiet der Hochschulbildung betroffen sind. Die Mitteilung fokussiert sich auf Bildungsthemen im Tertiärbereich, welche ausschließlich den Ländern obliegen, unter anderem die Unterstützung von Lehrenden und Lernenden sowie deren Mobilität, die Hochschulbildung betreffende Organisationsfragen und die Gestaltung von Studiengängen. Die Konzentration auf Bildungsaspekte kommt bereits im Titel der Mitteilung zum Ausdruck und spiegelt sich in den in Aussicht gestellten Maßnahmen der Kommission.
- 14. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.
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- 15. Der Ausschuss für Frauen und Jugend und der Wirtschaftsausschuss empfehlen dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.