Der Bundesrat hat in seiner 881. Sitzung am 18. März 2011 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt den ersten Jahreswachstumsbericht der Kommission, der das erste europäische Semester einleitet.
- 2. Die Beschreibung der Herausforderungen der EU sowie die Vorschläge zu deren Bewältigung leiten auf Grundlage der Europa-2020-Strategie den neuen Prozess der wirtschafts- und finanzpolitischen Exante-Koordinierung innerhalb der EU, das sogenannte "Europäische Semester" ein. Die Analysen und Empfehlungen des Berichts beeinflussen wesentlich die späteren Leitlinien zur Ausarbeitung der nationalen Stabilitäts- und Konvergenzprogramme bzw. Nationalen Reformprogramme. Sie sind zudem Grundlage für die im Juni zu erwartenden länderspezifischen Empfehlungen der Kommission, die die Mitgliedstaaten künftig bei der Aufstellung ihrer nationalen Haushalte und bei der Finanzplanung zu berücksichtigen haben.
- 3. Der Bundesrat ist der Überzeugung, dass der Jahreswachstumsbericht als Auftakt für eine neue und gelebte Stabilitätskultur in Europa genutzt werden muss. Eine neue Stabilitätskultur ist, zusammen mit einer deutlichen Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, soliden Staatsfinanzen, wirkungsvollen Strukturreformen und einer engeren Koordinierung der Finanz- und Wirtschaftspolitik unabdingbar für die Bewältigung der Schuldenkrise einiger europäischer Staaten.
- 4. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass der Bericht mit den Bereichen konsequente Haushaltskonsolidierung, Beschäftigungsförderung und Wachstumsförderung die richtigen Schwerpunkte setzt.
- 5. Der Bundesrat unterstützt die Forderung der Kommission, dass Reformen in diesen Bereichen beschleunigt werden müssen. Der Bundesrat bestärkt die Kommission darin, auf Grundlage des Jahreswachstumsberichts den Mitgliedstaaten ehrgeizige Empfehlungen vorzuschlagen.
- 6. Der Bundesrat teilt die Einschätzung der Kommission, dass die Haushaltskonsolidierung eine zentrale politische Priorität der Mitgliedstaaten darstellt. Er teilt die Auffassung, dass die öffentlichen Ausgaben als Voraussetzung für künftiges Wachstum auf den Pfad der Nachhaltigkeit zurückgeführt werden müssen und eine stärkere Haushaltskonsolidierung notwendig ist. Nur mit einer nachhaltigen Konsolidierung wird es gelingen, das Vertrauen der Märkte zurückzugewinnen.
- 7. Der Bundesrat weist aber darauf hin, dass die Entscheidung über die Höhe der staatlichen Ausgaben den Kernbereich der Haushaltsautonomie der mitgliedstaatlichen Parlamente betrifft.
- 8. Der Bundesrat stellt fest, dass der Jahreswachstumsbericht vor dem Hintergrund der Europa-2020-Strategie auch Aussagen zur Sozial- und Beschäftigungspolitik enthält und nimmt insoweit auf seine entsprechenden Stellungnahmen Bezug (BR-Drucksache 113/10(B) , BR-Drucksache 113/10(B) (2), BR-Drucksache 113/10(B) (3), BR-Drucksache 267/10(B) ).
- 9. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die im Wachstumsbericht angesprochenen beschäftigungs- und sozialpolitischen Themenfelder auf der Grundlage der jeweiligen konkreten Vorschläge der Kommission zur Umsetzung der Europa2020-Strategie zu bewerten sind und den laufenden und anstehenden Beratungen mit dem Jahreswachstumsbericht nicht vorgegriffen werden sollte.
- 10. Der Bundesrat stellt fest, dass der Bericht auch Forderungen enthält, die über den Rahmen der Europa-2020-Strategie hinausgehen. Vor dem Hintergrund der Kompetenzverteilung und Subsidiarität sowie der Komplexität der angerissenen beschäftigungs- und sozialpolitischen Themen lehnt der Bundesrat konkrete Forderungen an die Mitgliedstaaten im Jahreswachstumsbericht ab. Dies gilt besonders für die Vorschläge zur Arbeitslosenunterstützung und zur Änderung der Kündigungsschutzvorschriften.
- 11. Der Bundesrat unterstützt vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und der damit verbundenen Auswirkungen auf die Alterssicherung eine verstärkte Thematisierung der zukünftigen Sicherstellung angemessener und nachhaltiger Rentensysteme. Er nimmt auf seine Stellungnahme vom 15. Oktober 2010 (BR-Drucksache 419/10(B) ) zum Grünbuch der Kommission Bezug und betont, dass die weiteren Schritte auf EU-Ebene nicht dazu führen dürfen, die alleinige Gestaltungshoheit der Mitgliedstaaten für ihre Systeme zu beeinträchtigen. Der Bundesrat unterstreicht, dass der Prüfung der einzelnen Vorschläge im Zuge des seitens der Kommission angekündigten Weißbuchs nicht durch pauschale Aussagen vorgegriffen werden darf.
- 12. Der Bundesrat teilt zwar die Auffassung der Kommission, dass Investitionen in die Bildung kostenwirksam, nachhaltig und wachstumsfreundlich sind, lehnt aber die Vorgabe ab, mindestens 2 Prozent des BIP in die höhere Bildung zu investieren (vgl. BR-Drucksache 026/09(B) ).
- 13. Der Bundesrat bemängelt die einseitige, äußerst negative Darstellung der bildungspolitischen Situation in dem dem Jahreswachstumsbericht anhängenden Entwurf des gemeinsamen Beschäftigungsberichts. So hat die Kommission selbst erst vor kurzem in ihrer Mitteilung "Bekämpfung des Schulabbruchs ein wichtiger Beitrag zur Agenda Europa 2020" festgestellt, dass seit dem Jahr 2000 die durchschnittliche Schulabbrecherquote in Europa um 3,2 Prozentpunkte gesunken ist und die Leistung der Mitgliedstaaten Raum für Optimismus lässt. Darüber hinaus wird jedenfalls für Deutschland die Einschätzung der Kommission, dass ein wesentlicher Schwachpunkt der beruflichen Aus- und Weiterbildung die Qualität und Attraktivität auf allen Ebenen sei, nicht geteilt. Zutreffend ist zwar, dass weitere Anstrengungen zur Verbesserung der Bildungssysteme unternommen werden sollten; dies steht aber einer Wertschätzung der erzielten Fortschritte und Leistungen nicht entgegen. Die Herausstellung allein der bestehenden Schwachpunkte kann insoweit sogar eine kontraproduktive Wirkung haben.
- 14. Im Hinblick auf die von der Kommission angekündigten länderspezifischen Empfehlungen und Leitlinien erinnert der Bundesrat daran, dass vom Europäischen Rat betont wurde, dass länderspezifische Empfehlungen die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten, zum Beispiel in Bereichen wie Bildung, unberührt lassen müssen. Darüber hinaus hält der Bundesrat an seiner Auffassung fest, dass es angesichts der EU-vertraglichen Regelungen zu keiner faktischen Gleichstellung des Bildungsbereichs mit Politikbereichen kommen darf, für die weitergehende Steuerungs- und Überwachungsinstrumente vorgesehen sind (vgl. BR-Drucksache 113/10(B) (2)).
- 15. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.