Der Bundesrat hat in seiner 860. Sitzung am 10. Juli 2009 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission in ihrem Konsultationspapier über das Ergebnis der öffentlichen Beteiligung zum Grünbuch über kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren für Verbraucher die Ziele eines wirkungsvollen, kostensparenden Rechtsschutzes bei Schadenersatzansprüchen von Verbrauchern, die Unterbindung missbräuchlicher Klagen und die Berücksichtigung bewährter Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten als Grundlagen europäischen Handelns ausdrücklich betont.
- 2. Mit der Kommission sieht der Bundesrat die vorrangige Aufgabe kollektiver Klageformen darin, berechtigten Individualansprüchen zu effektiver Durchsetzung zu verhelfen und damit zugleich für eine Einhaltung wettbewerbsrechtlicher und verbraucherschützender Vorschriften zu sorgen. Soweit die Marktsteuerungsfunktion von Schadenersatzklagen zur Abschreckung rechtswidrigen Marktverhaltens nicht ausreicht, kommt insbesondere der Einsatz von Gewinnabschöpfungsinstrumenten in Betracht.
- 3. Der Bundesrat begrüßt es, dass die Kommission von dem Vorschlag Abstand genommen hat, "Optout-Sammelklagen" nach dem Vorbild der US-amerikanischen "class action" einzuführen. Der Bundesrat lehnt eine "Optout-Sammelklage" auf Grund ihres erheblichen Missbrauchspotenzials ab. Dagegen hält der Bundesrat ein Musterklageverfahren, wie es auch Option 5 des Konsultationspapiers andeutet, für ein grundsätzlich geeignetes Instrument, um die kollektive Durchsetzung massenhafter Schadenersatzansprüche zu verbessern.
- 4. Der Bundesrat hält an seiner grundsätzlichen Auffassung fest, dass die Voraussetzungen für die verbindliche Einführung eines europaweit einheitlichen kollektiven Verfahrens zur Durchsetzung von Verbraucherrechten derzeit noch nicht vorliegen (vgl. Stellungnahme vom 13. Februar 2009, BR-Drucksache 951/08(B) , dort insbesondere Ziffern 9, 13 und 27).
- 5. Eine Reihe von Mitgliedstaaten - auch Deutschland - sammelt gegenwärtig Erfahrungen mit kollektiven Rechtsschutzinstrumenten. In Deutschland werden diese Instrumente, insbesondere das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, derzeit evaluiert. Die in den Mitgliedstaaten gewonnenen Erfahrungen werden wertvolle Informationen darüber liefern, wie Musterverfahren am wirkungsvollsten und kostengünstigsten zu organisieren sind, welche Rolle hierbei Verbraucherorganisationen spielen können, wie Musterverfahren in die nationalen Rechtsschutzsysteme optimal integriert werden können und wie die Bindungswirkung eines Urteils in einem Musterverfahren für Dritte ausgestaltet werden kann.
- 6. Der Bundesrat hält die Gewinnung solcher Erfahrungen für unverzichtbar, bevor über europaweit geltende Rechtsinstrumente entschieden wird.
- 7. Er spricht sich daher dafür aus, im Sinne der Optionen 3 bzw. 4 des Konsultationspapiers der Kommission die Rechtsentwicklungen in den Mitgliedstaaten zur Ermittlung einer Best practice gezielt zu fördern, was kollektive Rechtsschutzformen und den Einsatz kollektiver alternativer Streitbeilegungsverfahren (ADR) betrifft. Auch bei der Entwicklung alternativer Streitbeilegungsverfahren sollte ein größtmöglicher Gestaltungsraum der Mitgliedstaaten gewahrt bleiben.
- 8. Erst nach Abschluss dieser Phase können Erforderlichkeit und mögliche Reichweite eines europäischen Rechtsinstruments überhaupt geprüft werden.
- 9. Dabei wird zu bedenken sein, dass auch ein aus Kompetenzgründen auf grenzüberschreitende Sachverhalte beschränktes gemeinschaftsrechtliches Instrument wirksam und nachhaltig zu einer konvergenten Rechtsentwicklung in den Mitgliedstaaten beitragen kann.
- 10. Im Übrigen geben die zu Option 5 des Konsultationspapiers skizzierten Vorstellungen der Kommission Anlass, auf Folgendes hinzuweisen:
Die Ausgestaltung einer Bindungswirkung von Musterentscheidungen für Dritte muss die Verfahrensgrundrechte des rechtlichen Gehörs und eines fairen Verfahrens wahren. Das Recht des Verbrauchers, einen eigenen Schadenersatzprozess unabhängig von einem Musterverfahren zu führen, an dem er nicht beteiligt war, darf nicht beschränkt werden.
Die Geltendmachung bzw. Liquidation eines Individualschadens durch Dritte (z. B. Verbände) kann nur auf Grund einer individuellen Ermächtigung des Anspruchsinhabers in Betracht kommen.
Das Gebot der Rechtssicherheit verlangt, dass sich das anwendbare Recht nicht danach richten kann, ob Ansprüche von Verbrauchern in einem individuellen oder in einem kollektiven Verfahren verfolgt werden.
- 11. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.