846. Sitzung des Bundesrates am 4. Juli 2008
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union empfiehlt dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt ausdrücklich die Möglichkeit, im Rahmen der Konsultation zur Überarbeitung der kommissionsinternen Leitlinien zur Durchführung von Folgenabschätzungsverfahren Stellung nehmen zu können. Er erinnert an seine Forderung nach einer wirksamen und effektiven Folgenabschätzungspraxis auf europäischer Ebene (Stellungnahme vom 25. April 2008, BR-Drucksache 110/08(B) ).
- 2. Der Bundesrat kritisiert allerdings, dass der Entwurf der Leitlinien für die Durchführung von Folgenabschätzungen lediglich auf Englisch vorgelegt wurde. Der Bundesrat sieht darin eine Beeinträchtigung der Möglichkeit einer umfassenden Teilnahme und politischen Debatte in den Verfassungsorganen und Gremien der Mitgliedstaaten bzw. der Regionen an dem von der Kommission angestoßenen Konsultationsprozess über die zukünftige Ausgestaltung von Folgenabschätzungsverfahren. Er unterstreicht in diesem Zusammenhang seine Forderung nach gleichberechtigter Verwendung des Deutschen als Arbeitssprache der EU neben Englisch und Französisch (Stellungnahme vom 21. September 2007, BR-Drucksache 472/07(B) ).
- 3. Der Bundesrat betont nochmals, dass die Qualität der Folgenabschätzungen einer unabhängigen Überprüfung unterzogen werden muss, um eine einheitliche Anwendung dieses Instruments durch die Kommission zu gewährleisten. Der Bundesrat hat bereits darauf hingewiesen, dass die Einrichtung des Ausschusses für Folgenabschätzung bei der Kommission im November 2006 die Qualität der Folgenabschätzungen verbessert hat, dies allerdings nur einen ersten Schritt darstellt. Nach wie vor bewertet der Bundesrat die organisatorische Ansiedlung beim Präsidenten der Kommission und die personelle Besetzung des Ausschusses mit hochrangigen Kommissionsbeamten kritisch. Seiner Auffassung nach ist ein externes unabhängiges Gremium besser geeignet, qualitativ hochwertige und nachvollziehbare Folgenabschätzungen zu gewährleisten. Daher würde es der Bundesrat begrüßen, wenn es auch auf EU-Ebene gelänge, ein Gremium zu etablieren, das bürokratische Kosten und Folgen künftiger Gesetze ähnlich abschätzt, wie es bereits der Aufgabe und Praxis des unabhängigen Normenkontrollrats in Deutschland oder des "Adviescollege toetsing administratieve lasten (Actal)" in den Niederlanden entspricht.
- 4. Unabhängig davon sollte in Abschnitt 2.4 die Rolle und Bedeutung des Ausschusses für Folgenabschätzung für die Qualitätskontrolle von Folgenabschätzungen noch deutlicher dargestellt und hervorgehoben werden. Auch sollte zur Stärkung der Qualitätskontrolle die Möglichkeit der Heranziehung externen Sachverstands durch den Ausschuss für Folgenabschätzung ausdrücklich geregelt werden.
Zu Frage 1 der Konsultation vom 4. Juni 2008
- 5. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass der Folgenabschätzungsprozess in dem im Rahmen des aktuellen Konsultationsverfahrens zur Diskussion gestellten Entwurf eines Leitfadens hinsichtlich der aufeinander aufbauenden Einzelschritte im Grundsatz systematisch dargestellt ist.
- 6. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission bei der Durchführung von Folgenabschätzungen der Prüfung des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes breiteren Raum einräumen will. Mit dem im Entwurf des Leitfadens vorgesehenen Prüfraster kommt die Kommission einer mehrfach erhobenen Forderung des Bundesrates nach (Stellungnahmen vom 9. November 2007 (BR-Drucksache 390/07(B) und zuletzt vom 25. April 2008 (BR-Drucksache 110/08(B) ).
- 7. Der Bundesrat unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass die Einhaltung der Zuständigkeit der EU sowie der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zentrale Elemente einer Folgenabschätzung sein müssen. Der Bundesrat betont dabei, dass das Subsidiaritätsprinzip eine Zuständigkeitsbeschränkung für ein Handeln der EU darstellt und daher nicht als Erweiterung der Befugnisse oder Ziele der EU verstanden werden kann. Im Übrigen muss die Kommission bei Rechtsetzungsvorschlägen ausreichende qualitative und gegebenenfalls auch quantitative Kriterien angeben, weshalb ein Ziel besser auf Ebene der EU erreicht werden kann. Die Begründungen für Rechtsetzungsvorschläge müssen insoweit eine nachvollziehbare und angemessene Darstellung enthalten.
- 8. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die Durchführung der Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen von Folgenabschätzungen die Kommission nicht von ihrer primärrechtlichen Verpflichtung nach Artikel 5 Abs. 2 EGV in Verbindung mit den Bestimmungen des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zur ausführlichen und selbständigen Prüfung dieser Grundsätze im Rahmen ihrer Begründungspflicht befreit.
- 9. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in verschiedenen relevanten Abschnitten des Leitfadenentwurfs gesondert auszuweisen bzw. stärker in den Vordergrund zu rücken wäre (insbesondere unter Punkt 3.3.2 "crosscutting legislative action"/"narrow legislative action" oder im Vorspann zu Nr. 5 "Key analytical Steps in impact assessment)".
- 10. Die Kommission will Umfang, Reichweite und Intensität von Folgenabschätzungen je nach Bedeutung und Inhalt eines geplanten Vorhabens an einer Nutzen-Aufwand-Relation orientieren (Abschnitt 3.2). Dieser Ansatz ist grundsätzlich nachvollziehbar. Einen gänzlichen Verzicht auf die Durchführung von Folgenabschätzungen lehnt der Bundesrat allerdings ab. Auch sollte eine vorschnelle Verengung des Anwendungsbereichs für Folgenabschätzungen vermieden werden. Daneben ist darauf zu achten, dass die für die späteren Entscheidungen wesentlichen Umstände bei der Folgenabschätzung auch tatsächlich berücksichtigt werden. Dies gilt insbesondere für Aspekte, die der Kommission aufgrund fehlender eigener Verwaltungsvollzugserfahrung nicht bekannt sind. Nicht ausreichend genaue Abschätzungen des zu erwartenden Verwaltungsaufwands und nicht hinreichend präzise Analysen der Kosteneffizienz können sich auf alle weiteren Stufen der Folgenabschätzung negativ auswirken.
- 11. Das Instrument der Folgenabschätzung bietet die Möglichkeit, die Vorbereitung von Initiativen der Kommission transparenter zu machen. Der Bundesrat hofft, dass die Kommission von dem Instrument in diesem Sinne Gebrauch macht und damit auch die Akzeptanz des Handelns der EU bei den Bürgerinnen und Bürgern in den Mitgliedstaaten verbessert.
- 12. Der Bundesrat betont, dass gerade Konsultationen, die Folgenabschätzungsprojekte vorbereiten sollen, in den Arbeitssprachen Englisch, Deutsch und Französisch vorliegen müssen. Die derzeitige Praxis, derzufolge diese Dokumente lediglich in Englisch verfügbar sind, ist einer breiten Beteiligung und damit Ausgangsgrundlage für die weiteren Folgenabschätzungsschritte letztlich abträglich.
- 13. Nach Auffassung des Bundesrates ist es genauso unerlässlich, dass die Berichte über die Ergebnisse einer Folgenabschätzung in Gänze auch auf Deutsch vorgelegt werden. Die in Abschnitt 2.3 lediglich für die "Executive Summaries" vorgesehene verpflichtende Übersetzung auch ins Deutsche ist für eine sachgerechte Behandlung und Bewertung einer Folgenabschätzung nicht ausreichend. Vor diesem Hintergrund begrüßt der Bundesrat die Ankündigung, Folgenabschätzungen im Umfang in Zukunft auf maximal 30 Seiten zu begrenzen. Der Bundesrat sieht darin eine wichtige Voraussetzung, dass die Kommission trotz der von ihr vorgetragenen begrenzten Ressourcen im Übersetzungsbereich ihren Verpflichtungen aus dem EU-Sprachenregime nachkommen und sämtliche Folgenabschätzungen auch auf Deutsch vorlegen kann.
- 14. Im Interesse größtmöglicher Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Folgenabschätzungen sollte in die Leitlinien aufgenommen werden, dass bei Internetkonsultationen der Absender des Teilnehmers erkennbar sein muss, um eine Zuordnung in der Konsultation geltend gemachter Aspekte zu einem bestimmten Absender - seien es staatliche, regionale oder lokale Verwaltungsträger, Bürger, Unternehmen oder Lobbyisten wie Interessenvereinigungen und Verbände - zu ermöglichen. Dies würde auch dem Ziel der von der Kommission angestoßenen Europäischen Transparenzinitiative entsprechen, Entscheidungsprozesse auf europäischer Ebene nachvollziehbar zu machen.
- 15. Der Bundesrat ist ferner der Auffassung, dass bei internetgestützten Konsultationen, die sich vorgefertigter Antwortmöglichkeiten bedienen, grundsätzlich auch die Möglichkeit individuell formulierter Antworten vorgesehen werden sollte. Dies wäre einer breiteren Grundlage förderlich, auf die die Kommission ihre weiteren Folgenabschätzungsschritte stützen kann.
Zu Fragen 2 und 3 der Konsultation
- 16. Der Bundesrat unterstützt den Ansatz der Kommission, bei Folgenabschätzungen mögliche wirtschaftliche, soziale und ökologische Auswirkungen in einem ausgewogenen Verhältnis zu berücksichtigen.
- 17. Der Bundesrat unterstreicht, dass die umfassende Bewertung aller relevanten wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen das zentrale Merkmal eines Folgenabschätzungsverfahrens ist. Er begrüßt, dass die Kommission im Entwurf ihres Leitfadens mögliche Auswirkungen gegenüber der bislang geltenden Fassung umfangreicher und stärker differenziert darstellt. Wesentliche wirtschaftliche, soziale und ökologische Fragestellungen sind im vorliegenden Entwurf aufgeführt. Positiv ist, dass die genannten Aspekte insgesamt ausgewogen sind und ausdrücklich als beispielhafte und damit nicht abschließende Auflistung bezeichnet werden.
- 18. Positiv ist zu bewerten, dass die Kommission hinsichtlich der "weiteren Hinweise" zur Ermittlung möglicher Folgen in speziellen Bereichen auch die regionalen Auswirkungen berücksichtigt (Abschnitt 5.4.3). Sie stellt dabei allerdings lediglich auf unterschiedliche regionale Betroffenheit und entsprechende Disparitäten ab. Die Berücksichtigung der Regionen darf allerdings nicht auf diesen Aspekt verkürzt werden. Wo sinnvoll und notwendig muss vielmehr auch auf die vor Ort in den Regionen und Kommunen vorhandene Sachkenntnis zurückgegriffen werden. Dies gilt in besonderem Maße für die Sachkompetenz der Verwaltungen der föderalen und regionalen Untergliederungen der Mitgliedstaaten. Der Bundesrat hält eine Klarstellung dieses Gesichtspunkts an geeigneter Stelle im Leitfaden für unverzichtbar.
- 19. Nach Auffassung des Bundesrates sollte dementsprechend im Leitfaden klargestellt und ergänzt werden (etwa unter Abschnitt 5.4.4), dass bei der Bewertung der Verwaltungslasten der Beteiligung der regionalen und föderalen Verwaltungsträger eine Schlüsselrolle zukommt. Diese haben regelmäßig die sachnächste Kenntnis. Der Bundesrat weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es nach dem Entwurf des Leitfadens unklar bleibt, wann von "signifikanten" Verwaltungslasten auszugehen ist. Er bittet die Kommission um entsprechend ergänzende Hinweise zur Auslegung, um ein einheitliches Verständnis dieses Kriteriums innerhalb der Kommission sicherzustellen. Ziel sollte es sein, dass bei allen relevanten Vorschlägen eine Messung der voraussichtlichen Verwaltungskosten auch tatsächlich erfolgt.
- 20. Im Hinblick auf die bereits vom Europäischen Rat vom März 2007 angemahnte stärkere Berücksichtigung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der EU im Rahmen von Folgenabschätzungen fordert der Bundesrat die Kommission auf, im Leitfaden nicht nur die Prüfung vorzusehen, welche Regelungen bereits bei wichtigen EU-Handelspartnern existieren, sondern auch, ob diese Regelungen tatsächlich eingehalten bzw. durchgesetzt werden.
Zu Frage 5 der Konsultation
- 21. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission im Entwurf ihres Leitfadens ausdrücklich auf die Einholung des Fachwissens von Experten und Interessenträgern sowie die Verständlichkeit der entsprechenden Leitlinien hinweist.
- 22. In der Praxis der Folgenabschätzung durch die Kommission wird allerdings entscheidend sein, dass in der Vorbereitungsphase diejenigen, die aus eigener Kompetenz etwas beizutragen haben, tatsächlich eingebunden werden. Der Bundesrat begrüßt deshalb das Ziel der Kommission, auch durch entsprechend offene Konsultationen Experten die Möglichkeit zu geben, ihr Fachwissen einzubringen.
- 23. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.